Lese-Notizen zu...

 

 

Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin (Suhrkamp) 62018

[sukzessiv neben der Lektüre her verschriftlicht, also am Besten neben der eigenen zu lesen]

 

 

·         [7-25] Einleitungen zu Büchern sind oft der Ort, wo die Innovationen ins Schaufenster gestellt werden: die Horizonte umrissen, in die das oder die sujets zur Erscheinung gebracht werden sollen – die wichtigsten Instrumentarien oder Medien des Wahrnehmens und Begreifens vorgestellt – kognitiv und literarisch Verbündete defilieren dürfen (und manche auch diskret verschwiegen bleiben) etc

Bei Reckwitz geht das so:

o   „kultureller Kapitalismus“ [8] [schon hört man Bourdieu trappsen]

o   Riesman und Beck werden ins historisch Überholte abgeschoben: „Singularisierung meint[…]mehr als Selbständigkeit und Selbstoptimierung. Zentral ist ihr das kompliziertere Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, die zu erreichen[…]paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden ist.“

o   „leitende These: In der Spätmoderne findet ein gesellschaftlicher Strukturwandel statt, der darin besteht, dass die soziale Logik des Allgemeinen ihre Vorherrschaft verliert an die soziale Logik des Besonderen“ [11]. Auf Kants Differenzierung wird rekurriert; sie soll aber „soziologisiert“, d.h. betrachtet werden auf „allgemeine Praktiken und Strukturen,[…]die sich um die Verfertigung von Besonderheiten drehen“ [13].

o   Die 1970er/1980er Jahre gelten als takeoff zu dieser Spätmoderne: weg von der „alten industriellen Ökonomie“, hin qua „digitale Revolution“

o   „Kulturalisierung des Sozialen“ [17] – „Kultur immer dort, wo[…]Prozesse der Valorisierung stattfinden“ [16]

o   Affektintensivierung [17] als notwendiges Begleitmoment von Singularisierung

o   Doppelgesichtigkeit der Moderne: Radikalisierung der Rationalisierung und zugleich extreme Entwicklung von Singularitäten (vgl. Romantik): „die beiden Logiken in der industriellen Moderne einen asymmetrischen Dualismus bilden[d], transformieren […]sich in der Spätmoderne in eine Vordergrund- und eine Hintergrundstruktur“ [19]

·         Reckwitz gehört (im deutschen Sprachraum) zu den Initiatoren der soziologischen Richtung der „Praxeologie“, die sich von den ‚GROSS‘-begrifflich dominierten Konzeptionen (namentlich, aber nicht nur[!] der Systemtheorie) abzusetzen sucht. Sie ist interessiert an Modi und Mechanismen des sozialen Verfertigens (die sie ihrerseits in die Container-Kategorie „Praktiken“ ‚zusammenschüttet‘) von ‚Wirklichkeit‘; beispielsweise ebnet sie auch die philosophisch-traditionelle Differenz von „Theorie“ und „Praxis“ ein zu einer von Spielarten sozialer „Praktiken“ (in diesem Falle: des ‚Unterscheidens‘ von Relevanzgraden, Partizipationsvoraussetzungen etc).

·         Fragwürdig vorerst, für den Reichweitenanspruch des hier „eingeleiteten“ Theorie-Konzepts: die „hochqualifizierte Mittelklasse“ wird als „Leitmilieu der Spätmoderne“ gesetzt [9] – und das überraschend beiläufig. Sichtbar wird zugleich ein Charakteristikum der „Praxeologie“: die durchgängige terminologische Ungeniertheit (mit der, zum Beispiel hier, „-klasse“ und „-milieu“ (kon)fusioniert werden…)

·         Irritierend für den 70plus-alten und lebensweltlich „provinzlerisch“ definierten Leser FS: mit den emergenten Phänomenen des Sozialen, die Reckwitz als empirische Herausforderung zu seinem Entwurf „Gesellschaft der Singularitäten“ antippt (schon [9], aber es ist damit zu rechnen, dass der Exempel noch mehrere werden…!), hat er individuell bislang so gut wie keine Berührung – soll er sich als von dieser Gesellschaftstheorie nicht-inkludiert vorkommen? (Vgl. die kriterielle Formulierung „Die Plausibilisierung einer Sozial- und Gesellschaftstheorie ist generell darauf angewiesen, dass Aussagen über sämtliche Elemente oder Einheiten des Sozialen gemacht werden“ [37]!!) Die Da-Seins-Form der „Singularitäten“ wird er sich wohl von seiner gelehrten Tochter erklären, zumindest plausibilisieren lassen müssen.

 

·         Reckwitz‘ – im einzelnen unausgewiesene – terminologische Entscheidung für die Prozessuales insinuierende Kategorie „doing generality“ (ein „doing singularity“ ist im weiteren zu erwarten) weist seine Nähe zum Konstruktivismus á la Judith Butler aus.

·         Das Moderne-Merkmal ‚formale Rationalisierung‘ soll „abstrakter und grundsätzlicher gefasst werden“ als „soziale Logik des Allgemeinen“ [29], die sich in vier „soziale[n] Praktiken, die zueinander in einem empirisch offenen Verhältnis stehen“, vollzieht: Beobachtung, Bewertung, Hervorbringung, Aneignung.

·         [31-34] Zwei Modi sozialer Logik des Allgemeinen: in der Vormoderne Typisierungen [der Plural der Bezeichnung ist charakteristisch; FS], die „Zonen von Ähnlichkeiten“ markieren, bzw formale Rationalisierung – „gesellschaftliche Antworten“ auf ein „Knappheitsproblem“ und ein „Ordnungsproblem“. „Die Moderne ist eine sowohl extensive als auch intensive Generalisierungsmaschine“, die die Formen von „Standardisierung, Formalisierung, Generalisierung“ [33] ausprägt [bemerkenswert: der Terminus „Generalisierung“ wird auf zwei logischen Ebenen benutzt; FS].

·         Für die Moderne werden technische, kognitive, normative Rationalisierung unterschieden: Standardisierung, Generalisierung des Wissens (mit „Quantifizierungsideal“ für „so ziemlich alles“ [35]) [‚hermeneutisch‘ operierendes Wissen bleibt ausgeblendet; FS], Formalisierung [hier wird beiläufig Gerechtigkeit definiert als „Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt“; FS]

·         Reckwitz benennt „(mindestens) fünf Einheiten des Sozialen:[…] Objekte, Subjekte, Räumlichkeiten, Zeitlichkeiten und Kollektive“ (37) [im theoretischen Hintergrund die „Akteur-Netzwerk-Theorie“ von Latour u.a., die sich von so gut wie allen ‚wirklichkeitswissenschaftlichen‘ Distinktionen der letzten Jahrhunderte verabschieden will – gleichsam á la „Feuerzangenbowle“: „Also, wat is en Dampfmaschin? Da stelle mer uns janz dumm. Und da sage mer so: […] und dat andere Loch, dat krieje mer später“ J. Ernsthafteres findet sich bei Georg Kneer, Akteur-Netzwerk-Theorie, in: ders./Markus Schroer (Hg.), Handbuch Soziologische Theorien, Wiesbaden 2009, 19-39. FS].

·         Die „industrielle Moderne“ wird als „Antipodin der spätmodernen Gesellschaft der Singularitäten“ idealtypisiert; „der Staatssozialismus mit seinem gesamtgesellschaftlichen Planungsimperativ und seiner dezidierten Entsingularisierung[…]die reinere Form [42]. Charakteristika werden ökonomisch, politisch usw. herunterdekliniert bis zum „funktionalistischen Bauen in Serie und der räumlichen Trennung von Arbeiten und Wohnen“ [44]: „Individualismus der Gleichheit“ (Simmel) – „Kehrseite“: „Hemmung, Verdrängung, tendenziell Eliminierung genuiner Besonderheiten“ [45] (wird anhand Durchgangs durch die o.g.  Praktiken versucht zu belegen).

·         [47-74] Unter „Die soziale Logik des Besonderen“ wird das Instrumentarium des Begreifens weiter expliziert. Die terminologische Entscheidung für das Paradigma „Singularität“ wird differentialdiagnostisch begründet, sprachlich wie sachlich: Allgemein-Besonderes ≠ Singularitäten ≠ Idiosynkrasien. (Die Idiosynkrasien werden sympathetisch charakterisiert, aber ihnen ‚fehlt‘ gegenüber Singularitäten das Merkmal der „sozial[en Z]ertifizier[ung]“ [51] – irgendwann im Buch wird noch die Rede sein von Adornos Fundamentalkritik am Begriff der „Identität“…? J FS) Singularitäten werden negativ bestimmt durch Nichtverallgemeinerbarkeit, Nichtaustauschbarkeit, Nichtvergleichbarkeit, sodann „als Eigenkomplexitäten mit innerer Dichte begriffen“ [52]. Deren Differenzen zu Anderem bestehen in qualitativer Andersheit (auch: „Inkommensurabilität“) und werden als starke Differenzen bezeichnet [54]. Naturwüchsig kommt es auch zum Vergleichen [auch hierfür die Basiskategorie „soziale Praktik“! FS] von Singularitäten: da meist in die soziale Logik des Allgemeinen switchend, eine ‚Reduktion von Komplexität‘ [die Bestimmung „Vergleiche in der sozialen Logik des Besonderen“ bleibt ganz unscharf – zumal Reckwitz dem Begriffsverleiher Luhmann fälschlich unterstellt, ‚Komplexität‘ „verschwinde“ durch ‚Reduktion‘ [55]; FS]

·         [Zur ‚Ungefähritis‘ des Reckwitzschen Denkansatzes, die immer wieder an terminologischen Varianzen von auch ‚strategischen Begriffsprägungen auffällt, gehört die „interessante“ Feststellung, dass zwischen Allgemein-Besonderem, Idionsynkrasien, Singularitäten „ein reges Austausch- und Übersetzungsverhältnis“ bestehe [55]; FS]

·         56f wird knapp die terminologische Abwendung vom „semantischen Komplex von Individuum, Individualismus…“ begründet: „zu weit und zu mehrdeutig[…], in anderer Hinsicht zu eng“. Denn: „eine Gesellschaft der Singularitäten lässt sich gar nicht begreifen, wenn man subjektfixiert bleibt“.

·         [57-64] Der „Querschnittsbegriff ‚Singularität‘“ soll die sozial-kulturellen Besonderheiten“ aller „Einheiten des Sozialen“ in deren Bezogenheit aufeinander „beschreibbar machen“:

Objekte: Deren Singularisierung setzt keine Einmaligkeit voraus (auch die „Marke“ oder ein „Stil“ eignet sich). Menschliche Subjekte können in sämtlichen „eigenschaften und Aktivitäten“ singularisiert werden durch performing (d.h. faktisch: „Einzigartigkeit…aus verschiedenen Komponenten und Modulen zusammen[ge]setzt“ – anders als bei der Suggestion des Unteilbaren im Begriff des Individuums). Räumlichkeiten werden zu „Orten“ singularisiert, „affektiv anziehend,[….] „intensiv“, einer „Lokalität“ mit „Atmosphäre“. Zeitlichkeiten werden zu einmaligen oder auch wiederkehrenden „Events“ oder „Projekten“ [der Hinweis auf Gumbrechts „Präsenz“-Konzept ist wichtig!; FS]. Singuläre Kollektive bilden „aus Sicht ihrer Mitglieder jeweils ihr eigenes, in sich vollständiges kulturelles Universum“ [62; die hier sehr deutliche definitorische Referenz auf die Partizipanten offenbart einen auffällig voluntaristischen Zug des ganzen „Praktiken“-Ansatzes - FS]. Wie zur Bestätigung outet Reckwitz seinen Hang zu einer „sozialkonstruktivistischen…Position“ [63], die einen vertieften Blick auf die „konkreten Praktiken“ der Singularisierung verlange [64] [die, überraschend, in zwei getrennten Unterkapiteln abgehandelt werden - FS].

·         Für die soziale Logik der Singularitäten werden sowohl jene fünf „Einheiten…“ als auch die „vier Sorten von Praktiken“ als konstitutiv benannt; letztere seien „nur heuristisch zu trennen“, in der Sache vielfach verflochten oder auch „spezialisiert[…]nebeneinander“ [64]. [Vom „Mobile“-artigen Theorie-Paradigma her erinnert das an Ingolf U. Dalferth, Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine systematische Orientierung, Leipzig 2004; FS]. Beobachten: „etwas [wird] als nichtaustauschbare Einzigartigkeit interpretiert, nachdem es „erkannt oder entdeckt“ aufgrund „kultureller Sensibilität für die Eigenkomplexität und Dichte des Besonderen“ (mit „sowohl kognitiver als auch sinnlicher Dimension“). Sie bezeichnet Reckwitz als „Singularitätskompetenz“, sozialisier- und professionalisierbar [in der schon klassischen Moderne hieß das ‚Hermeneutik“ J - FS]. [65 Anm 74 gibt die „Haltung der Interpretation“ zu bedenken – charakteristisch, dass lediglich unter Verweis auf Umberto Eco…; FS] Bewerten, und es geht um „Zuschreiben von Wert im starken Sinne“: und „Praktiken der Valorisierung entsingularisieren auch“ [66f].

·         Hervorbringen: umfasst sowohl „Reframing“ als auch „von Grund auf neue Kreation“, ist „verknüpft“ mit „Arrangements“, die auch „Heterogenitätsmanagement“ genannt werden (mit „funktionalen, narrativ-hermeneutischen, ästhetischen und ludischen Elemente[n]“ [68f], wobei „grundsätzlich de[r] tatsächliche oder imaginierte Blick des Publikums oder anderer Mitspieler[…]ein[ge]bau[t]“ werden muss [70]. Besonderes Gewicht erhält die Praktik des Aneignens: „Ein Element des Sozialen ist nur dann singulär, wenn es in seiner situativen Aneignung singularisiert wird. Im Unterschied zur zweckrationalen Nutzung und zur routinisierten sozialen Interaktion in der Logik des Allgemeinen hat die Aneignung des Besonderen die Struktur des Erlebens“ [70]. – Erleben ist nicht Weltbearbeitung, sondern Weltverarbeitung: ein nicht nur psychischer, sondern auch leiblicher Prozess / „zentral[…], dass die singulären Einheiten den Rezipienten affizieren“ [70] / kann intersubjektiv, aber auch „ein privater Akt“ sein / „eine interpretatorische Praxis“ [71], bisweilen mit „Hervorbringen[…]Hand in Hand“ / nicht erzwingbar, wegen des „psychophysischen Anteils“ an dieser „sozialen Praxis“. [Nicht von ungefähr erhält Rosa die Ehre einer fußnotenförmigen Erwähnung; FS]

·         [72-74] Eingeführt wird die Kategorie „Praxismodus“, um eine „generelle Struktur“ sozialer Praxis unter der Logik des Allgemeinen wie der Singularitäten zu bezeichnen. Stehen für jene „Arbeit und Interaktion“ [Habermas!!], so für diese „Aufführung“ (mit dem zentralen Charakteristikum „Performativität“ und der intendierten Folge der „Affizierung“. – Vorweg verwiesen wird auf später ausführlichere Traktierung der spätmoderne-typischen Variante „maschineller Singularisierung“: „ein Beispiel für solche maschinell fabrizierten Einzigartigkeiten sind die über das data tracking algorithmisch generierten Profile von Internet-Usern“ – krass entgegen der Standardisierungsfunktion in der klassischen Moderne „verwandeln sich Technologien in der Spätmoderne großumfänglich in Infrastrukturen des Besonderen“. [Diese Vorzeichen eines gewagten Versuchs der ‚Sozialtheoretisierung‘ von ‚gesellschaftlichen‘ Verhältnissen unter Bedingungen einer ‚Mensch-Technik-Osmose‘ mit sich verkürzenden Halbwertzeiten werden aufmerksam zu beachten sein. Sie deuten eine neuartige Herausforderung an die Leistungsfähigkeit aller (ausgenommen vielleicht Gumbrechts tentativer Entwurf „Jenseits der Hermeneutik“, Frankfurt 2004, der die „Produktion von Präsenz“ im Untertitel führt) – typischerweise bewusstseinstheoretisch operierenden – Varianten „hermeneutischer“ Denke an; sie könnte münden in deren künftig ‚nachfrage-lose‘ Obsoleszenz mit dem Begleitphänomen einer ‚Rettung bedrohter Arten‘ im Wikipedia-Museum ‚Historische Kulturwissenschaften‘ – solange es noch so etwas geben sollte wie das Internet J. FS]

 

·         [75-92] „Singularitäten[…]bilden gemeinsam mit den zugehörigen Praktiken[…]die Kultursphäre der Gesellschaft“ – dementsprechend „Rationalisierung und Kulturalisierung[…]die beiden konträren Formen von Vergesellschaftung“ [75]. [Im vorletzten Teil der Präliminarien, die das theoretische Handwerkszeug präsentieren sollen und müssen, führt Reckwitz den Begriff „Kultur“ ein. Es fällt auf, dass er – ‚Ungefähritis‘?? – bereits in seinen allgemein-definitorischen Sätzen die terminologischen Varianzen „-sphäre“ und „-alisierung“ benutzt. Beide folgen seinen praxeologischen Prämissen, die auf Dekomposition von ‚Bestands-Habe‘ durchs Konzept der ‚Prozessualisierung‘ zielen – „-sphäre“ mag man deuten auf eine Rezeption von σφαιραι, an denen entlang (anstelle von Himmelskörpern) „Praktiken“ prozedieren, oder eine Assonanz an (Atmo)sphäre, in denen sich, gasförmig vorgestellt, die Resultanten jener „Praktiken“ ‚mischen‘. Jedenfalls arrangiert Reckwitz die Merkmale seines „Kultur“-Begriffs so, dass sie die auf paradigmatischen Rang zielende Invention „Singularitäten“ stützen. FS]

·         In Absetzung von traditionellen Kulturbegriffen (die Reckwitz‘ Dissertation noch als „normativ / differenzierungstheoretisch / holistisch / bedeutungsorientiert“ schematisiert) soll vorrangig ein „starker oder spezifischer Begriff der Kultur“ [76] gelten. Der „weite und zugleich schwache Kulturbegriff“ wird nur knapp charakterisiert: „“sozial relevante Sinnzusammenhänge“, „implizite Wissensordnungen“, die „regulieren, wie die Welt repräsentiert wird und welche Praxis in ihr möglich, zwingend und sinnvoll erscheint“ – als Horizont des „doing rationality“.

·         Ausführlichere Bestimmungen erhält der starke Kulturbegriff, quasi tautologisch werden Singularitäten zu „Kultureinheiten“ umetikettiert und Singularisierung zu „Kulturalisierung“. Unter den vier Praktiken erhält die des Bewertens, ab hier vorzugsweise „Valorisierung“ genannt, die „Führungsrolle“, die die zu Kultureinheiten mutierten Singularitäten mit der Qualität des „Wert[vollen] im starken Sinne“ – auch Aristoteles‘ πραξις-Begriff wird beigezogen [78 Anm 93] – imprägniert.

·         Der Wertbegriff soll aus der Umklammerung durch den „klassisch normative[n] Kulturbegriff“ „kulturtheoretisch“ gelöst, d.h. ausschließlich darauf gegründet werden, dass „diese Einheiten in der sozialen Welt den Teilnehmern selbst wertvoll sind“ [79]. [Freilich wirkt das Changieren zwischen dem Insistieren auf ‚sozialer Fabrikation‘ einerseits, der Nutzung der Begrifflichkeiten „Selbstzweck“ bzw. „Eigenwert“ andererseits – beides für das vorgetragene Singularitäten-Konzept konstitutiv! – argumentativ nicht überzeugend, vgl. etwa 79: „Kultureinheiten wird ein Selbstzweck zugeschrieben, sie gelten als Träger eines intrinsischen Wertes, eines Eigenwertes“ – Kursivierungen von mir FS].

·         Dabei setzt sich (mit Reckwitz gesprochen) der Praxismodus Performativität konzeptionell durch: „Werte müssen als Teil von gesellschaftlichen Zirkulationsdynamiken interpretiert werden“, die ihrerseits „ergebnisoffen“ sind (es fällt das Wort „Kulturkämpfe“) und insofern sich auch in „Prozesse[n] der Entvalorisierung“ konkretisieren [80f]. Nicht-singularisierte Einheiten des Sozialen „bleiben in der Kultursphäre unsichtbar“, zeitigen „Indifferenz“. Denn zur Kultur zählen Singularitäten wegen ihrer – zugeschriebenermaßen – „Affektqualitäten“ [83]. [81 Anm 97 definiert „Indifferenz“ als „Nichtaufmerksamkeit“, eine mögliche aber nicht zureichende Bestimmung (hier schon macht sich, nebenbei, ein quantifizierendes Missverständnis von Luhmann bemerkbar). Kultur- und d.h. singularisierungsbezogen, reklamiert 82 Anm 99 Kristevas Neologismus „Abjection“. Beides zusammengenommen stellt sich die Frage, wie Reckwitz‘ Konzept den – „hochkulturellen Praktiken des Bürgertums“ [79], ja der historischen Adels-Aristokratie zuzurechnenden – Gestus des „noch nicht mal ignorieren!“ in seiner „Affektqualität“ einschätzen würde… FS]

·         Zur idealtypischen Kontrastierung „Kulturalisierung versus Rationalisierung“, „gesellschaftlichen Strukturierungsprinzipien, die das Soziale in zwei verschiedene Richtungen formatieren“, tragen weitere Dualisierungen bei: prominent „Praktiken der Verausgabung“ vs. „Bewahrung und Reinvestition gesellschaftlicher Energien“ [84] sowie [Antwort auf:] „Sinn und Motivationsproblem“ [86] vs. Knappheits- und Ordnungsproblem. Bemerkenswert die prä-summative These („Es werden immer mehr [sc. Singularitäten etcetc]“): „Dieser quantitative Schub wirkt sich qualitativ strukturbildend auf die Gesellschaft aus“ [85]. [Als wenn auch die Kulturalisierung des Sozialen, eigentlich als Ausdruck der – alternativ gemeinten – Logik des Besonderen eingeführt, und nicht nur dessen Rationalisierung dem internen Steigerungsimperativ der „Logik des Allgemeinen“ gehorchte…; FS] [Missweisend, weil theoretisch fragwürdig die Charakterisierung des „doing culture“ durch den Kontrast von „Komplexität[…]reduzieren“ und „Eigenkomplexität[…]entfalten“ [85] – Ausdruck einer unausdrücklichen quantitativen Obsession des Konzepts? Wer die populär gewordene Formel des frühen Luhmann benutzt, sollte professionell damit umgehen; dort bedeutet „Reduktion“ nicht ‚Verminderung‘, sondern gemäß der Husserlschen Begriffsfassung ‚Einklammerung‘: theoretisches Außer-Geltung-setzen bis zu anderweitig emergentem Bedarf. FS]

·         [87-92] Quer zu den sog. „Praktiken“ wird die Unterscheidung von „fünf Qualitäten“ der „Kulturpraxis“ eingeführt, die, eher notdürftig, den „Dimensionen“ von Sinn und von Sinnlichkeit zugeordnet werden. Narrativ-hermeneutische und ästhetisch[-imaginär]e werden auch „Grundqualitäten“ genannt, sie zeichnen sich an den Einheiten des Sozialen nicht als „Informationen“, sondern als „Geschichten“ ab – und „mobilisieren die Affekte“ [89]. Daneben lassen sich beobachten: die ethische („Träger des Guten“) [extrem auffällig ist, wie umstandslos Reckwitz diese terminologische Entscheidung durch Zuweisung von „Ethik“ an die (in seinem Sinne) Logik des Besonderen, „Moral“ an die Logik des Allgemeinen begründet – während in der einschlägigen Tradition die mindestens ebenso entschlossene umgekehrte Zuweisung zu beobachten ist. FS] / die gestalterische (nicht bloß der Resultate, sondern auch von deren „Hervorbringung“) / die ludische: „Das Spiel ist die Praxis per excellence, in der die Kultur ihren scheinbar nutzlosen Überschuss gegenüber der rationalen Welt demonstriert“ [91].

·         Unter der Überschrift „I.4. Die Transformation der Kultursphäre“ stellt Reckwitz Stadien der gesellschaftlichen Evolution unter der „Annahme […FS] einer Doppelstruktur der Vergesellschaftung“ aus „formale[r] Rationalisierung und Kulturalisierung“ [92] dar. 1: Die Abhandlung „vormoderner“ – in „archaische“ und „traditionale“ unterschiedener – Gesellschaften erfolgt sehr knapp, aufgrund auffällig weniger ‚Groß-Thesen‘ der Sekundärliteratur schematisiert: „Der Wert der singulären Entitäten – religiöse Texte, Adelspaläste, religiöse oder weltliche Kunst, Feste – ist im Wesentlichen sozial kodifiziert und wenig umstritten“ [96]. 2: Die „bürgerliche Moderne“ wird durch die „romantische Revolution des Einzigartigen“ plakatiert: „Ambivalenz zwischen dem Anspruch einer kulturellen Allgemeinheit und eine Orientierung am Singulären, verstanden als das Individuelle“ [97] ist das Leitmotiv. „Das moderne Kunstfeld“ generiert das „Regime des ästhetisch Neuen“, den kulturellen Primat der Besonderheit [beiläufig wird die Kategorie des „Aufmerksamkeitsmarkts“, nämlich für „kulturelle Singularitätsgüter“ eingeführt; Kursivierung FS], dem aber via „Bildung“ die „Anbindung an ein normatives Allgemeines“ verordnet werden soll. Die „Semantik der ‚Individualität‘“ aber programmiere „eine umfassende Singularisierung sämtlicher Elemente der Welt“. Statt von „Wiederverzauberung der Welt“ sei von „Kulturalisierung“ zu sprechen, „in deren Folge alles von der Seite des Profanen auf jene des Sakralen überwechseln kann“. Gleichsam nebenbei rücken die „imagined communities der Nationen“ zu Singularitäten auf. 3: Als für die „organisierte Moderne“ „langfristig weichenstellend“ wird die „Kombination als Fordismus und Amerikanismus“ benannt. „Zentral ist: Indem die Güter in einer kommerziellen Marktkonstellation um die Gunst des Konsumenten buhlen, wird Kultur nun nicht mehr an den Staat, sondern an die Ökonomie gekoppelt“ [101]. Kulturalisierung in diesem Stadium der Moderne bedeute „Extensivierung von Kultur[…]durch Konsum und Massenmedien“ (v.a. den Kinofilm), namentlich die „visuellen Oberflächen der Subjekt und Objekte“ [102]. 4: „Die Transformation[…]zur Spätmoderne verdankt sich einer historischen Koinzidenz dreier Faktoren[…]: sozio-kulturelle[r] Authentizitätsrevolution[= Lebensstil der neuen Mittelklasse…], postindustrielle[r] Ökonomie der Singularitäten, […]technischer Revolution der Digitalisierung“ [103]. a) Der Maßstab der „Lebensqualität“ löse den des „Lebensstandards“ ab, eine Spätfolge des romantischen Singularisierungsprogramms. b) und c) „Ökonomie und Technologie [, in der klassischen Moderne…Motoren der Rationalisierung und Standardisierung…,] wechseln die Seite“ [105]. [Der vorletzte Abschnitt S. 106 fasst Bisheriges verdichtet zusammen; FS] .b) und c) zusammen „institutionalisieren“ Singularitäten in Gestalt „kulturelle[r] Singularitätsmärkte“ sowie als „heterogene Kollaborationen [sc. „Pluralität… von Subjekten und Objekten, die in ihrer Verschiedenartigkeit Bündnisse, Komplizenschaften und Zusammenarbeit stiften“; FS] und[…]Neogemeinschaften [etwa…religiösen, politischen oder ethnischen Communities]“. Die „Grundformel“ des „singularistische[n] Lebensstil[s]“ lautet „erfolgreiche Selbstverwirklichung“, für die die der „Norm der performativen Authentizität, der sozialen Aufführung von Unverwechselbarkeit“ gilt. In der damit heranwachsenden „Form der Hyperkultur“ „[folgt] Besonderheit[…]dem Muster kompositorischer Singularität“, die aus „diversen, immer wieder anderen[…]Bestandteilen arrangiert und kuratiert [wird]“. „Unmittelbare Konsequenz d[ies]er Singularisierungslogik sind [soziale und kulturelle Polarisierungen]“, die nach fünf „Ebenen“ unterschieden werden: „Polarisierung der Güter“, der „Arbeitsverhältnisse“, „von Klassen und Lebensstilen“, „der sozialen Räume“, „politische Polarisierung“.

[Naheliegenderweise widmet Reckwitz der Spätmoderne den relativ umfangreichsten Abschnitt seiner gesellschaftsgeschichtlichen Rekonstruktion; schon Art und Ausmaß der fußnotenmäßigen Referenzen demonstrieren seinen Interessen-focus. Ersichtlich ist bereits: die Kategorien, die er sich für die angekündigte Decodierung der von allen seinen Lesern miterlebten „Spätmoderne“ bereitlegt, formatieren schon die Darstellung der historisch zurück liegenden Stadien – eine übliche Verfahrensweise. Auffällig indes die Vielzahl der – oft durch Kursivierung hervorgehobenen – für erforderlich gehaltenen Termini, Neologismen inklusive: schon rein theorie-praktisch scheint er das ‚hyperkulturelle‘ „Muster kompositorischer Singularität“ [108] vorweg assimilieren zu müssen. Insbesondere das Geltendmachen der fünf „Polarisierungen“ [108-110] wirkt nicht so strukturell zwingend wie behauptet, eher nachgetragen: als Platzhalter für die Einlösung des phänomenen-kompatiblen Analyse-Anspruchs dieses gesellschaftstheoretischen Entwurfs. Man kann gespannt sein – aber werweiß hätte dies Buch eher ein Historiker der Bielefelder Schule schreiben sollen…? - FS]

 

·         Den Übergang zum Postindustriellen an der statistischen Verschiebung von Industriearbeit zu Dienstleistungsberufen festzumachen, sei oberflächlich. Soziologisch gehe es um Veränderungen in (1) der Form der Güter, (2) der Produktionsweise, (3) der Form des Konsums, (4) der Märkte. 1: „zentral“ gehe es um zwar noch „Dinge und Objekte[…], mehr und mehr…aber um Ereignisse, mediale Formate oder maßgeschneiderte Dienstleistungen[,…] Affektgüter“ (113]. 2: „Die Ökonomie der Singularitäten beruht auf flexibler Spezialisierung [u.a. durch digitale Technologien]“; „die kulturelle Produktion ist…ortssensibel“; die „Arbeitssubjekte“ werden „singularisiert“, nach „Profil, Kompetenzen, Talent, Persönlichkeit“ [113] [spontaner Zwischenruf des Vaters eines Gerüstbauers – auch als Zeitungsleser, bürgerlich-modern-papiergebunden J, erfährt er, Statistiken hin oder her, von Entscheidungen global operierender Autokonzerne, denen ‚Ortssensibilität‘ erkennbar ein nachgeordneter Faktor ist: ob Reckwitz hier, womöglich nicht nur hier, ein konzeptioneller bias – v.a. das Virtuelle ist wirklich – durchgegangen ist? FS] 3: „In ihren Konsumpraktiken arbeiten die spätmodernen Subjekte n ihrem als authentisch empfundenen und inszenierten, je besonderen Lebensstil“. 4: Für Singularitätsmärkte gilt: „immer neue Güter mit Überraschungswert“, Prägung durch „Hyperkompetitivität“ (d.h. extrem unberechenbare Beachtungs-Chancen).

·         „Für die creative economy[…]ließe sich eine alternative Wirtschaftsgeschichte der Moderne skizzieren“ [116; vgl. Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität, 2012]: z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Drittes_Italien, Londoner Modeszene der 1960/70er Jahre, Start-up-Szene Kaliforniens. Aber auch in die Branchen der „Produktion von funktionalen Gütern“ wandert die Logik der Singularisierung ein („Bioprodukte mit Authentizitätsanspruch, Automarken mit Erlebnisqualitäten, Zeitmesser oder Sportschuhe mit Designqualitäten…“): die Trias „von Produzent, Produkt und Konsument“ wandelt sich in die von „Autor, Werk und Rezipient/Publikum“ [117]. Statt von expandierender „Wissensökonomie“ sei von „Ökonomie der Singularitäten“ zu sprechen; als „modellhaft“ angeführt wird das „soziale Feld der Künste“. – Allerdings: „Die Ökonomie des Standardisierten bildet gleichsam die notwendige Infrastruktur im Hintergrund, damit der Kulturkapitalismus mit seinen Singularitätsgütern im öffentlichkeitswirksamen Vordergrund florieren kann“ [119]. [Hier deutet sich, theorie-formulierungsmäßig verschämt genug, eine Reverenz vor dem Umstand an, dass auch eine „Gesellschaft der Singularitäten“ schwerlich absehen kann von der Dimension des Leiblichen. Der Geltungsanspruch dieses Konzepts scheint eine ‚Ewigkeitsgarantie‘ der Stromversorgung – digitale Netzwerke und so – stillschweigend zu unterstellen. Die irdischen Begleitphänomene des Klimawandels könnten das Konzept unliebsamen Tests aussetzen – luhmann‘sch theoretische Dispositionen á la ‚der Mensch als Umwelt der »Gesellschaft«‘ würden das ‚überstehen‘ können, aber praxeologische? FS]

·         Der Begriff „Gut“ (Dinge / Dienstleistungen / Ereignisse [„in deren Rahmen Aktivitäten stattfinden“] / mediale Formate) anstelle von „Ware“ soll statt des Tauschwerts den Gebrauchswert betonen. Unterschieden werden „funktionale und kulturelle Güter“. Für kulturelle Güter werden „narrativ-hermeneutische, ästhetische, gestalterische, ethische und/oder ludische Eigenschaften“ [121-123] benannt [unter den bislang zugänglichen Reckwitz’schen semantischen Konditionen nachvollziehbar; FS]. „Die Kulturalisierung betrifft alle vier genannten Gütertypen: Dinge, mediale Formate, Dienste und Ereignisse“ [124]. Bemerkenswert ist die These: „die Produktion und Konsumtion dinglicher Güter [bleibt] in der Spätmoderne zentral“; für Weiteres relevant scheint die Markierung von Kategorien wie „Design“, „Räume[n]“ und deren „Atmosphäre“. Sowie in der Illustration des Typs „Ereignisse“ die Benutzung der (theologiegeschichtlich bekannten) Unterscheidung von „benutzen“ und „genießen“.

·         [126-128] „Was macht eine kulturelles Gut zu einem singulären? […]Originalität und Rarität“. Das qualitative Merkmal Originalität erwächst aus Eigenkomplexität und Andersheit – letztere macht „überraschend“, erster „interessant“. Das quantitative Merkmal Rarität wird indes „qualitativ aufgeladen“ (wobei es Abstufungen gibt). Originalität notwendige Bedingung für Singularität, Rarität ein ergänzender – unter Bedingungen der „Kunstwerke im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“ indes potentiell einflussreicher „Faktor“ dessen, „was als singulär gilt“ [??? Zusammenhang bleibt unklar; FS].

·         Singularitätsgüter:

o  Dinge“: können „originalisiert“ [131] werden qua markante sinnliche Wahrnehmbarkeit des „einzelnen Gegenstands“, auch qua exemplare-übergreifenden „Stil“, Autoren-Namen bzw. „Marke“ (die „für eine je eignen, narrativ-sinnliche Welt beziehungsweise Identität von erheblicher Komplexität [steht]“) – und dies durch „Situierung in einen[…]ausdehnbaren narrativen Kontext“, auch durch „ethische Besetzung“ („Dingbiografie“ wie „artgerechte Haltung…lokale Produktion etc.“). „Rarifizierung“ (in „Unikaten“ gipfelnd) erfolgt durch zeitliche und topografische Verknappung (sowie eine über den Preis gesteuerte der sozialen Zugänglichkeit).

o   Für „Dienstleistungen“ gilt Singularisierbarkeit in 3 Hinsichten: 1. Stil („Kompetenzprofil“) des Dienstleisters, 2. „Sensibilität für die Besonderheit des Klienten“ (überhaupt: „Klient“ statt „Kunde“!), 3. Ver-Persönlichung der Beziehung [als Paradebeispiel für die Kulturalisierung einer funktionalen Dienstleistung wird das „Friseurhandwerk“ angeführt]. Mediale Formate: [mangelhafte Vertrautheit mit der einschlägigen Empirie bringt den Rezensenten an die Grenze seiner Formulierungskraft; FS. Besonders hervorgehoben werden serielle bzw. interaktive Singularitäten, unter ihnen namentlich Computerspiele als „paradigmatische[s] kulturelles Gut“ in diesem Bereich.] Ereignisse: „Einmaligkeit“ ist dafür konstitutiv – ihnen eignet aber nicht eo ipso Originalität , wohl aber ein „Originalitätsvorteil“: „Ästhetik der Präsenz“ (Gumbrecht).

o   Merkmale I: „Authentizifizierung“ muss erfolgt sein (in „Beobachtung, Bewertung, Hervorbringung und Aneignung“) [137]. Verwiesen wird auf Rousseaus „Begriff der Authentizität“: das „Gegenteil des Künstlichen“. Und im Ausgang davon problematisiert: Der Begriff des »leeren Signifikanten« (Laclau) wird herbeizitiert. „Aus soziologischer Sicht basiert Authentizität auf einer Paradoxie, denn im Raum des Sozialen ist ja alles gemacht[…] – nichts ist natürlich.[…S]ie wird auf- und ausgeführt“. Ist „Authentizitätsperformanz“ bzw. „Authentizitätsarbeit“, Resultante von Produktion und Rezeption in einem. Insofern kann für eine „selbstbewusste Demonstration [der] eigenen Gemachtheit“ – wenn rezeptions-erfolgreich – sogar der Terminus „Metaauthentizität“ als sinnvoll behauptet werden. Angesichts dessen ist (namentlich im Blick auf sog. Kunstwerke) von „ambivalenter Affizierung“ und von „widersprüchlichen Singularitäten“ zu reden.

·         [Zwischenbemerktes (mit stillschweigender Rücksicht auf Rosa „Resonanz“): Reckwitz‘ Entwurf einer gegenwartstüchtigen ‚Gesellschaftstheorie‘ wirkt auf den Leser wie der Versuch, ‚Phänomene zu retten‘ wie die Aristoteliker/Ptolemäer vor der kopernikanischen/galilei-keplerschen Wende. Will sagen: Sein Angebot eines Paradigmenwechsels (in Kuhns Sinne – der bekanntlich erst lange post festum als solcher begreifbar wird!) operiert in starker Bindung an die „Oberfläche“ des Registrierbaren (um noch den, selber theoretisch kontroversen, Begriff der „Wahrnehmung“ zu vermeiden!). Der terminologische Vorschlag „Singularität“ scheint nicht komplex genug, um eine fundamentale Umstellung von ‚-theorie‘ zu leisten – viel mehr kompliziert. Diese (vorläufige!) Vermutung zumindest wird gestützt durch die Heterogenität der Vielzahl von Definitions-Attributen von „Singularität“. Deren bisherigen ‚Gipfel‘ markiert die Einführung der Kategorie „Metaauthenzitität“ (S. 139, oben Z. 413): Rettung des Authentizitäts-Markers bis in die Gegenteiligkeit der ‚Phänomene‘ hinein (immerhin zeugt Reckwitz‘ Bemerkung über die „Widersprüchlichkeit“ von Singularitäten [S. 140] von einem gewissen Bewusstsein dieser Komplikation beim Vf.) – das erinnert jedenfalls theoriegeschichtlich an die https://de.wikipedia.org/wiki/Epizykeltheorie. FS]

o   Merkmale II: Generell eignet ihnen die zeitliche Doppelstruktur von Moment und Dauer“. Zunächst wird diese Doppelung dem lebensweltlichen Zugleich der „Praktiken des Erlebens“ bzw. der „Valorisierung“ zugeschrieben, dem „leiblich-psychischen Akt im flüchtigen Moment der Gegenwärtigkeit“ bzw. der (u.U. auch massiv umformenden!) „Erinnerung“ eben daran [schon hier wird die Figur des „Klassikers“ eingeführt; FS]. Aber es „kommt[…]eine Verkomplizierung ins Spiel“: „individuelle Erinnerung“ und „kollektives Gedächtnis“ können dem „Erleben kultureller Güter[…]eine Langfristigkeit zweiter <???; FS> Ordnung zukommen“ lassen – aber das „Kreativitätsdispositiv“ [142] der spätmodernen Ökonomie impliziert diesbezüglich hohe Selektivität („aus diesem Zusammenhang der kurzfristig wertvollen Güter gelingt es nur ausgewählten, zu Klassikern zu werden“).

o   Merkmale III: Deren Kreation erfolgt nicht „aus dem Nichts“, sondern aus einer „Übersetzung von Idionsynkrasien sowie von Elementen der Allgemein-Besonderen ins Register des Singulären“ sowie aus „vorökonomischen kulturellen Praktiken“. 1. Für die „Verwandlung von Idiosynkrasien“ wird exemplarisch die „Aufwertung von Altbauwohnungen“ als Beleg genannt. 2. Versetzung von lokal und historisch verankerten Singularitäten in globale Zirkulation: Durch Hyperkultur (d.h. „Dekontextualisierung“) wird etwa „world food“ und „world music“ Exempel für alle möglichen kulturellen Ressourcen, „[zwischen denen] man wählt, sie annehmen oder ablehnen und im Lebensstil miteinander kombinieren [kann]“ [146]. „Das Subjekt in der Gesellschaft von Singularitäten ist ununterbrochen von einer Fülle von Dingen[etcetc. umgeben…] mit dem Anspruch des Singulären.[…] Es lernt daher, dass dies der Normalfall des Sozialen sein muss“ [147: Hervorhebung von mir; FS]. Diese scheints Schlüsselsätze outen die (oder eine der…) leitende(n) Grundannahme(n) des Buches. Es fällt auf, wie uneingeschränkt normativ die Formulierung einherkommt. Deren – es sollen noch 300 Seiten folgen! – Platzierung lässt von einer Projektierung (um nicht, zwiespältig genug, von: Projektion) sprechen.

 

·         [147-179] In mehreren Unterkapiteln werden Charakteristika „kultureller Singularitätsmärkte“ entfaltet; die Zwischenüberschriften verraten das meiste, die Redundanz nimmt gefühlt zu.

o   In Abgrenzung gegen Max Webers „Markt“-Verständnis („rationaler Tausch“ / zweiwertige Relation Anbieter/Käufer) seien Singularitätsmärkte „dreiwertig“ stukturiert („mindestens zwei Wettbewerber konkurrieren…um die Gunst eines Dritten [in der] Stellung eines Publikums“). Sie werden „Attraktivitätsmärkte“ genannt (d.h. sowohl „Aufmerksamkeits“- als auch „Valorisierungsmärkte“); „Attraktivität“ solle die „positive Affizierungskraft von Gütern“ heißen. – Insbesondere die zur qualitativen Strukturdifferenz aufgesteilte Antithese von [industrie-moderner] zwei- bzw. [spätmoderner] dreiwertiger Relation will nicht einleuchten – wären nicht auch die potentiellen Käufer [Tausch-Markt] als Publikum des Vergleichens zwischen auf unterschiedliche Weise attraktiven Gütern, und seien es bloß nützliche‘, zu analysieren (wann eigentlich war der Preis der einzige Attraktionsfaktor??) ??? Dass das Spektrum von Attraktionsfaktoren sich in der Spätmoderne erweitert haben mag, kann doch als graduelle Differenz betrachtet werden.

o   „Kulturökonomisierung von Wirtschaft und Gesellschaft“ [150]: Skizziert wird die „umfassende Vermarktlichung der Ökonomie“ (z.B. das Verschwinden „normativer Regulierung“ und staatsanalog „bürokratische[r] Organisation der Arbeitswelt“), die seit den 1980er Jahren „ubiquitär“ werde, darüber hinaus aber als „Wettbewerbe um Sichtbarkeit und Anerkennung kultureller Güter[…] mehr und mehr Segmente der spätmodernen Gesellschaft strukturbildend“ präge (Bildungsanbieter, digitale Partnerschaftsplattformen, „Religionen“, „Städte und Regionen“). Dies als »Ökonomisierung des Sozialen« oder Resultante „neoliberale[r] Politik“ zu beschreiben sei oberflächlich – dieser flächendeckende Parallelprozess verdanke sich der und verstärke die „Konstellation der kompetitiven Singularitäten“ [154]. – Knapper lässt sich eine petitio principii nicht auf den Punkt bringen……

o   Die „Kunst“ biete das „Strukturmodell“ für die zeitgenössischen „Aufmerksamkeitsmärkte“ [158]: „Überproduktion von Gütern“, Knappheit nur auf der Ebene der Aufmerksamkeit. Jene Überproduktion sei vorwegnehmende Reaktion auf die Unberechenbarkeit zu erzielender Anerkennung, „potenziert durch die digitalen Technologien“. Es könne von einer Pareto-Verteilung (80/20) des (Aufmerksamkeits-)Erfolgs gesprochen werden, einer asymmetrischen „Starifizierung“.

o   Denn es sei der „Buzz-Effekt…(Rummel)“ [162] wirksam: Zwar [enthalte] „jede Offerte eines attraktiven Überraschungsgutes einen spekulativen Zug“, ihr Erfolg sei weder plan- noch steuerbar. Allerdings profitiere der Marktauftritt von derlei „Affektgütern“ von deren „Ansteckungs“-Potential (Reckwitz spricht auch vom „kurzfristigen Matthäus-Effekt“!); dabei sei „Anfangsphase [karriereentscheidend]“, denn das Publikum prämiiere grundsätzlich nur „Novitäten“ („Für das aussortierte Gut von gestern gibt es in der Regel keine zweite Chance auf einen Buzz-Effekt“ [163]). Über den Erfolg von Anbietern entscheide „nicht die sachliche Leistung oder der Arbeitseifer“, sondern der Zufall; förderbar sei Aufmerksamkeit allenfalls durch geschickte Hantierung v.a. digitaler Medien.

o   Mit der Aufmerksamkeitsfocussierung sei Valorisierung meist eng verknüpft. Zu unterscheiden seien kurz-, mittel- und langfristige Valorisierung. Hierfür sei, wie schon lange im „Kunstfeld“, das klassische „Genre der Rezension“ leitend. Dabei sei „durch die digitalen Medien der Kompetenz zur Valorisierung von kulturellen Gütern erheblich diffundiert“, namentlich in die erhebliche Spannweite von „Laien“ und „Experten“ (die ihrerseits „Abstand zur Erlebenskomponente“ halten müssen, aber die „Eigenkomplexität der Singularitäten“ weitestmöglich bewahren müssen). Allerdings: „Experte ist man nicht qua Status, man wird es durch das hohe Vertrauen der Rezipienten“.

o   „Als Resultat einer langfristigen Singularisierung können Güter zu modernen Klassikern, zu Marken und zu Namen avancieren.“ [169] „In der Kulturspäre der Spätmoderne [ist] die strikte Trennung eine hochkulturellen und einer volkstümlichen Sphäre[…]porös geworden! [170] „Valorisierungsspektakel“ wie „Wettbewerbe und Preisverleihungen“ werden erwähnt; im Blick auf Aufmerksamkeitsgenerierung sei Umstrittenheit geradezu förderlich.

So entstehe „Singularitätskapital“ ( = Aufmerksamkeits- und Reputationskapital“), Sicherung von „leistungslose[m] Einkommen“. „Besonders erfolgreich die „lebenden Klassiker“, deren neue Werke einen „kaum einholbaren Startvorteil“ genießen.

o   „Paradoxerweise bringen[…]Attraktivitätsmärkte mit ihren vorgeblich unvergleichlichen Singularitätsgütern aufwändige Techniken der Quantifizierung hervor“. „Der Vergleich des Unvergleichbaren bedeutet, dass die Eigenkomplexität der Singularitäten[…]entlang bestimmter, ausgewählter Vergleichsparameter[…]reduziert wird“ [175]: „Singularitäten werden hier in Exemplare des Allgemein-Besonderen überführt“. Exemplarisch: Michelin-Sterne schon seit 1926, „Rankings mit Häufigkeitsverteilungen“ via digitaler Medien. Die Versichtbarung dessen verschärft die „extremen Aufmerksamkeitsasymmetrien“. Reckwitz spricht von einem Vorgang „doppelter Übersetzung [von] absoluten qualitativen Differenzen[…]in graduelle [dass die irreführend „qualitative oder quantitative“ genannt werden, mag im Eifer des Gefechts durchgelassen sein; Hervorhebung FS] und wieder in absolute [die Reckwitz ins J singuläre Oxymoron „faktisch absolute“ fasst; FS] „Differenz zwischen den extrem sichtbaren und den quasi unsichtbaren Gütern“. – An diesem Prozess der Singularisierung und Valorisierung von Gütern „lern[e das Subjekt], das genau dies die Normalität des Sozialen unter den Bedingungen der Gegenwart ist“ [179].

Je weiter, je mehr zeigt sich: die behaupteten Spezifikationsgewinne des Singularitäts-Paradigmas werden Stück um Stück wieder ‚kassiert‘, um das kategoriale Raster empirie-kompatibel zu machen.

Am krassesten bei der Erörterung der Rankings, die die Rücküberführung von „Singularitäten“ in „Exemplare des Allgemein-Besonderen“ [174] erfordert („temporäre Suspendierung“). Auch die für den Valorisierungsmechanismus der „Rezension“ empirisch notwendige Unterscheidung von ‚Laien‘ und ‚Experten‘ unterbietet die Spezifität („Affekt“-Generierung) von Singularitäten. Die Formulierung „Die Kunst des qualitativen Vergleichs besteht darin, die Eigenkomplexität der Singularitäten dabei nicht (übermäßig) zu reduzieren, sondern zu bewahren“ [168] überdeckt dies nur notdürftig, und die Definition des ‚Experten‘ (statt durch „Status“) durchs „hohe Vertrauen der Rezipienten“ [169] ist auch nicht spezifisch singularitätskulturell (man denke nur an die – schon lange vor Reckwitz! – massenmedial generierte, zumindest verstärkte Reputation von z.B. Joachim Kaiser oder Ferdinand Dudenhöffer als ‚Experten‘ für hochkulturell akzentuierte Musik bzw. „Autos“…)

·         Die „Singularisierung der Arbeitswelt“:

Unter dieser Dachmarke will Reckwitz die soziologischen „Leitbegriffe“ immaterielle Arbeit, flexible Spezialisierung, Subjektivierung der Arbeit, Entgrenzung von Arbeit, Organisationsform des Projekts, Arbeitskraftunternehmer konzeptionell integrieren. Das sieht er gegeben a) in der Umstellung der „Praktiken des Arbeitens“, die „Arbeit im Kern zur kulturellen Produktion, […] zur Kreativarbeit [avancieren]“ lassen, b) der „[Verdrängung von] Matrixorganisationen“ durch „Projektstrukturen und Netzwerke“, c) der „[Überlagerung des] Erfordernis[ses] allgemeiner formaler Qualifikation[…] durch Entwicklung eines einzigartigen Profils von Kompetenzen und Potenzialen“ [182]. Gewiss seien „zu Beginn des 21. Jahrhunderts natürlich nicht sämtliche Arbeitsverhältnisse“ davon betroffen; aber erneut wird das Ansteigen des (derzeit: Drittel-)Anteils der „Akademikerklasse“ an der Gesamtzahl der „Erwerbstätigen“ als prospektive Marschzahl geltend gemacht. Es läuft auf die – scheint’s: leitende – These einer „Tendenz zur Polarisierung der Arbeitswelt zwischen der Kultur- und Wissensarbeit der Hochqualifizierten einerseits, den routinisierten Dienstleistungen[…]andererseits“ [183; HervorhebungFS] hinaus. Diese „spiegel[e] den Dualismus zwischen den kulturell-singulären und den funktional-standardisierten Gütern“ wider [184], dem als jeweiliger „Arbeitstypus“ „kreative Arbeit[…]mit starker intrinsischer Motivation, welche die ganze Persönlichkeit fordert“ bzw. „im Kern Normalisierungsarbeit“ entspreche.

Spätestens hier wird’s für den auch geneigten Leser empörend: „Einspruch, Euer Ehren!“. Diese Zuspitzung auf einen „Dualismus“ von Idealtypen ergibt sich zwar aus dem grundbegrifflichen Ansatz, stellt aber doch den Allgemeingültigkeitsanspruch der Singularisierungstheorie in Frage.

Schwer zu sehen und zu sagen, welchem der beiden Idealtypen die im – dito sich seit Jahrzehnten vergrößernden!! (Zahlen derzeit nicht greifbar) – Sektor der Administration „Erwerbstätigen“ zuordnen lassen sollen.

Empirische Probleme für diese theoretische These machen Funktionär*innen – ein Begriff, der im Sachregister des Buches nicht vorkommt – wie etwa die Leiterin der BAMF-Außenstelle Bremen [mag zwar „kreative Arbeit[…]mit starker intrinsischer Motivation“ geleistet haben, war aber für „Normalisierungsarbeit“ angestellt J], der stellvertretende EntwicklungsChef „Motoren“ bei AUDI, der publizistisch unscheinbare Ausbildungsdezernent der kurhessischen Waldkirche… Alle die – und die Reihe der problematisierenden Beispiele ließe sich im lokalen Erlebnishorizont fortsetzen um den Hauptamtsleiter der Stadtverwaltung HOG, den ehrenamtlichen Chef des THW HOG, die Dekanatssekretärin des Kirchenkreises HOG – leisten zwar, mit Reckwitz zu sprechen, „Normalisierungsarbeit“ (regelhaft „standardisiert“ [184]), zum Rollenprofil gehört aber „kreative Arbeit[…]mit starker intrinsischer Motivation“ – die inner-organisationelle Erwartung von Kreativität betr. der vorgegebenen ‚Standards‘.

Schon die immer wieder eingestreuten Bemerkungen darüber, dass die Strukturen der klassischen Ökonomie (= der „Logik des Allgemeinen“) als unverzichtbare Stütze auch im Hintergrund einer sich singularisierenden Gesellschaft [so klar auch noch S. 187.197] wirksam seien, hat theoretischen Verdacht geschürt. Aber die neuerliche Evidenz eines kategorialen Webfehlers verschärft den Eindruck: Hier passt was im Grundsatz nicht – und reduziert die Bereitschaft des Lesers, sich auf feinteilige Differenzierungen in Folge des (mit gesellschaftstheoretischem Anspruch einherkommenden) Ansatzes einzulassen (dessen Relevanz auf die einer Spezialsoziologie geschrumpft scheint).

Auf die Spitze getrieben wird die irreführende Idealtypisierung durch den Hinweis auf die „[Übersetzung der] strukturelle[n] Polarität zwischen den Arbeitsformen[…]in ihre konträre gesellschaftliche und subjektive Bewertung[…]Die Arbeit ist profan, wenn der Arbeitnehmer austauschbar ist[…] singulär, wenn[…]nicht“ [184.185].

o   Ungeachtet der Hintergrundsstruktur der Logik des Allgemeinen „veränder[e] die Arbeit[…]ihre Form“ zur „Kreativarbeit[…], einer Kulturpraxis im Sinne des starken Kulturbegriffs“ (deren „zentrale Aufgabe“ die „permanente Innovation“ sei). Ihr sei der doppelte Blick zugleich auf die „Güter“ und auf das „Publikum“ inhärent – als „wegweisend[es Modell gilt darum] das Design“ [190], das bestimmt sei durch Nutzung von Technologien und Strategien („Trend-“, „Avantgarde-“, „Kollaboration-“) der Relationierung zum Publikum.

o   Prononciert eingeführt wird die Kategorie der „Projekte“ als „singularistische Form des Sozialen par excellence, welche die bürokratische Struktur der Matrixorganisation mit ihrer sozialen Logik des Allgemeinen verdrängt“ [193]. Deren Singularismus präge sich auf den Ebenen der „Zeit, der Subjekte und des Kollektivs“ aus: zeitliche Begrenztheit mit „narrativer Struktur“, Involviertheit als „ganze Persönlichkeiten“, Merkmale eines „Ensembles“ ( = „Zusammenspiel dieser Individuen zu diesem Zeitpunkt“). Als „für die Kultur der Spätmoderne ingesamt bedeutsam“ wird für diese Formation der Begriff „heterogene Kollaboration“ [194] gebildet.

o   196f bietet Reckwitz eine komprimierte Zusammenfassung seiner Antworten auf die „Frage, welche Form das Soziale in einer Gesellschaft annimmt, die sich singularisiert“: Singularitätsmärkte und Projekte. Ergänzend benennt er „Organisationskultur“ (spezifisch: die „Ortsbindung“) und „Netzwerke“ („Kooperationsbeziehungen“ von bloßer „Potenzialität“).

·         Unter dem Titel „Selbst- und Fremdsingularisierung der Arbeitssubjekte“ [201-223] traktiert Reckwitz Strukturen und Strategien der Konditionierung von Teilnahme an Singularitätsmärkten. Durchgängig betont wird die „Verzahnung“ [203] von organisationellen Erwartungen und präsumptiver Internalisierung dieser Erwartungen durch die „Arbeitssubjekte“ [S. 201 Anm 43 zur Bestimmung des Sprachgebrauchs „-subjekt“ durch Relationierung von Individuum und Arbeitskultur!]

o   Die individuelle Teilnahmevoraussetzung formale Qualifikation habe in der klassischen Moderne die Teilnahme an Arbeitsorganisationen (Stellen, Funktionsrollen, Leistungen, Laufbahn, Positionen) hinreichend ermöglicht. Sie werde in der Spätmoderne abgelöst, jedenfalls tendenziell überlagert durchs organisationelle Erfordernis von „Besonderheit“ und „außergewöhnlicher Performanz, die ‚einen Unterschied macht‘“ [203]. [Die beiläufige Erwähnung des „gesamten Feld[es] hochqualifizierter Arbeit“ unterstreicht ein weiteres Mal die sektorale Begrenzung der Reichweite der Theorie; FS]

o   Dieses Erfordernis („employability“; 207) werde – meist unter Voraussetzung formaler Qualifikation!! – erst über ein (nicht allgemein bestimmbares) set „informeller Kompetenzen“ erfüllt, die ein „nichtaustauschbares, sichtbares Profil“ bilden. Das seinerseits durch Vielseitigkeit sowie durch Kohärenz der angebotenen Kompetenzen qualifiziert sein muss. Ergänzend wird der stärker „[p]otenzial“-trächtige Terminus „Talente“ eingeführt. [Kenner komplexer Bewerbungsverfahren auch im Rahmen ‚klassisch-moderner‘ Beschäftigungsverhältnisse ‚kulturellen Arbeitens‘ werden fragen, was an all dem die behauptete qualitative Differenz der singularistischen Arbeitswelt ausmacht…; FS]

o   Unter dem Stichwort „Arbeit als Performanz“ (208-212) wird der Unterschied der „singularistischen Arbeitskultur“ zu der von ihr abgelösten durch Hervorhebung der Valorisierungsinstanz „Publikum“ charakterisiert. An die Stelle von „sachlichen“ [208] „Leistungskriterien“ [211] trete der „Erfolg[…], aus welchen Gründen auch immer“ [211]. Das Publikum, für jeden Einzelfall durchaus unberechenbar, honoriere Hervorbringungen des Arbeitssubjekts als „Aufführung“; das ‚Publikum‘ bestehe aus „Nachfrager[n] und Konsument[en]“ oder aus „Kolleginnen und Kollegen“ [209]. Maßgeblich für den ‚Erfolg‘ sei „häufig“ die „Authentizität“ des Arbeitssubjekts in der Performanz (die in jeden Fall „Inszenierung“ sei, „aber nicht so wirken [dürfe]“ [210]. – Für diese permanente Wettbewerbs-Konstellation (incl. der Unkalkulierbarkeit zwischen den „‚das gewisse Etwas‘ oder ‚geht gar nicht‘“) wird das soziale Format des „Casting“ als Veranschaulichung beigezogen.

[Dass der individuelie Leser eine ‚bauchgefühlte‘ Präferenz für den [Ideal-]Typus des „Innengeleiteten“ – im Sinne von Riesmans „Lonely crowd“ von 1950 (dt. 1956) – oder Rosas neueren (2016) Theorie-Ansatz bei „Resonanz“ mitschleppt gegenüber dem faktisch normativen Vorschlag, gegenwartsdiagnostisch von Singularitäten her und auf sie hin zu denken, mag einmal formuliert werden: Reckwitz‘ Vorschlag, dessen Entdeckungszusammenhang offenkundig Phänomene von erklärtermaßen geringer „Halbwertszeit“ sind wie das showbiz oder die volatile Kommunikation in sog. Sozialen Medien, ignoriert vorsätzlich die – auch gegenwartsdianostisch relevanten –Bedenken gegen „Beschleunigung“ (vgl. Rosa 2005). Jene Präferenz mag erwähnt, sollte indes auch ‚eingeklammert‘ werden: als generationen-spezifisch.

Aber Reckwitz-theorie-intern muss festgestellt werden: In Behauptungen wie 212 „In der industriellen Moderne [war] innerhalb der Organisationen das Erfüllen der Dienstaufgaben durch jeden einzelnen einer Wettbewerbslogik zwischen ihnen in der Regel entzogen“ [fett von FS] setzt sich zum Schaden der empirischen Triftigkeit der Theorie wieder die Befangenheit des Vf. im ‚Reimzwang‘ seiner grobschlächtigen Idealtypisierung [s.o. Z. 580-611] durch. Kaum vorstellbar, dass Reckwitz die Bibliotheken an Literatur zur ‚informellen Organisation‘ nicht gelesen hat… - warum also so ein nonsens, den jede teilnehmende Beobachtung sogar hoch-bürokratie-affiner Arbeitsorganisationen wie Kirchenverwaltungen leicht widerlegen kann?!? Die Vorsichts-Formel „in der Regel“ kann das nicht retten. FS]

o   Maßgeblich für die Bewertung der Arbeitssubjekte seien der ‚Ruf‘ in den „sozialen Netzwerken“ sowie das durchs Herkunftsmilieu“ geprägte „inkorporierte kulturelle Kapital“ [Bourdieu], für die Perfektionierung von deren „wertgeschätzte[r] Singularität“ das organisationsinterne „Human Resource Management“ sowie die „Selbststeuerung des Arbeitssubjekts“ durch „persönlichkeitsorientiertes Coaching“.

o   „Spannungsfelder hochqualifizierter Arbeit“ benennt der letzte Unterabschnitt. „double bind“-Struktur habe die vom „Subjekt“ erlebte Paradoxie, sich in „Arbeit[…]von eigenem Wert“ verwirklichen wollen zu müssen und zugleich deren „Erfolg“ von „schwankenden Erfordernissen der Märkte und den wechselnden Erwartungen des Publikums“ abhängig zu sehen (das sog. „Künstlerdilemma“). Als auf Auswege verweist Reckwitz [halb achselzuckend] auf Praktiken der sog. „Koopetition“ bzw. auf das „Modell der Designarbeit“ (= gebundene Kreativität). Darüber hinaus „[bewirke] die Kulturalisierung der Arbeit mit ihrer identifikatorischen Aufladung[…]Tendenz zur Selbstausbeutung“, und die „Logik der radikalen Verwettbewerblichung“ fördere „radikale Asymmetrien“ zwischen äußerst Erfolgreichen und den „austauschbaren Anderen“ [218f], die sog „Superstarökonomie“. Letzteres, performanzökonomie-binnenlogisch konsequent, nähre freilich auch, anders als die klassische Leistungsökonomie, „Enttäuschungserfahrungen“ mit den individuellen Mühen um „Selbstoptimierung“ [221f]. Denn schließlich wirke an den Kriterien der Chancenverteilung und Anerkennungsgewährung „Informalisierung, Personalisierung und Akzidentalisierung“ [222 Anm 80 sieht hier möglichen Ansatz für eine „normative Gerechtigkeitsdiskussion“].

 

·         [225-271] Kapitel „IV. Digitalisierung als Singularisierung: Der Aufstieg der Kulturmaschine“ wendet sich den seit ca. 1995 (und das seitdem in steiler Kurve) emergenten internet-basierten Kommunikationstechniken zu – die hier gebotene Zusammenfassung lahmt daran, dass der Referent nur äußerst selektiv, defacto marginal zu deren Nutzern gehört. Indem er etwa – um vorzugreifen – weitestmöglich von „digitalen Objekte[n…] narrativen, ästhetischen, gestalterischen oder ludischen Charakter[s]“, „welche Rezipienten und Produzenten in ihren Bann ziehen“ [235] sich fern hält und, „der Denktradition der Industriegesellschaft und ihrer technischen Kultur der Sachlichkeit verhaftet“, gegenüber dem „wirkungsmächtigsten Merkmal der Computerrevolution“, der „[Forcierung] von Affektivität“ [234], indolent bleibt. Weil er auch ‚im analogen Leben‘ die „Kommunikation um der Kommunikation willen [Hervorhebung FS]“ (die lt. Reckwitz v.a. durch „Texte in den sozialen Medien“ zulasten der „Informationsfunktion“ in den Vordergrund tritt [235f]) gering schätzt.

Die Idealtypisierung wird wieder aufgegriffen: „Während die Industrietechnik ein Motor der funktionalen Rationalisierung und Versachlichung war, ist das digitale Netz ein Generator der gesellschaftlichen Kulturalisierung und Affektintensivierung“ – darum „Kulturmaschine“ [226f]. Dass die „avancierteste Technologie der Epoche nun[…]gewissermaßen die Seite [wechselt]“ und konstitutiv „Fabrikation von Singularitäten“ [227] leistet, soll im Folgenden herauskommen.

·         Dafür bilden paradoxerweise „Verfahren und Formate der Standardisierung und Universalisierung“ eine instrumentelle „Infrastruktur“ [229]: „Computing“ (es werden Babbage, Turing, von Neumann erwähnt), „Digitalisierung medialer Formate“ (auf Basis der von Boole entwickelten „Binärlogik“), „kommunikative Vernetzung“ [230-232].

·         „Wie ändert sich dadurch die Form dessen, was in der Spätmoderne ‚Kultur‘ bedeutet?“ (wobei der o. [S. 76ff] erläuterte starke Kulturbegriff reklamiert wird) [233]. Zu unterscheiden seien „Daten, Informationen und Kulturformate“ [234]: maschinelle Elemente, Instrumentelles, Affektaufgeladenes. Letzteres sei internetspezifisch: Bilder, Texte, Klänge und Töne, Computerspiele – sie alle, „digitale Performances“, halten das „Publikum[…]im Zustand eines Dauererlebens“ [237], lassen Kulturalisierung ubiquitär werden: „Es gibt mehr Kulturelemente, (nahezu) alle Kulturelemente sind betroffen, sie sind ständig und überall präsent und zeichnen sich durch soziale Grenzüberschreitungen aus“ [237] (incl. der Grenzen zwischen dem Öffentlichen und Privaten sowie jener zwischen dem Medialen und dem Realen“ [238]) – ein kategoriales Summarium.

·         Der digitalen Kulturmaschine werden fünf Charakteristika zugeschrieben: 1. „strukturelle Asymmetrie zwischen extremer Überproduktion von Kulturformaten[…und…]Knappheit der Aufmerksamkeit“ [238] (in der „großflächigen Implementierung eines Sichtbarkeits- und Attraktivitätswettbewerbs“ verortet Reckwitz die Umstellung der „Zirkulation“ von „Informationen“ auf „kulturelle Formate“ [239]); 2.Generalisierung der Rolle des Kulturproduzenten wie auch[…]der Rolle des Publikums“ [239] (Bildschirm als Schnittstelle); 3.Enthierarchisierung der Kulturformate“ [240] (gleiche Zugänglichkeit [„alles auf einer Ebene“], gleiche Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Valorisierung); 4.radikale Verzeitlichung der Kulturformate[…]: Die kulturelle Umwelt ist so, wie sie ist, nur in diesem Moment“ [241] (das Regime des Neuen schwächt Bezüge zu Vergangenheit wie Zukunft); 5.Kultur der Rekombination“ [242], aus „Kultur“ wird „System kultureller Ressourcen“.

·         Zu unterscheiden seien „kulturelle (und affektive) Singularisierungsprozesse“ einerseits, „maschinelle“ andererseits.

·         „Jenseits von Klasse oder Stand hat jedes spätmoderne Subjekt das historisch neue Privileg (unterliegt aber zunehmend auch dem Zwang), sich in der Kulturmaschine darzustellen und beständig an seiner Selbstrepräsentation zu arbeiten. Soziale Medien[…]als der wichtigste Ort…“ [245] „Das spätmoderne Selbst ist so ein dramaturgisches, und seine Subjektivierung erfolgt primär dadurch, dass es sich in gelungener Weise vor anderen darstellt [- …ist] mehr und mehr identisch mit seiner Performance vor einem Publikum“ [246]. – Im Gegensatz zu Riesmans other-directed character (mit seinem Streben nach sozialer Unauffälligkeit!) „will und soll [das spätmoderne Subjekt] seine Unverwechselbarkeit leben“ [246]: „paradoxe Form der performativen Authentizität“ [247]

Nur Sichtbarkeit verspricht hier soziale Anerkennung, während Unsichtbarkeit den digitalen Tod bedeutet.“ Dies „Grundprinzip der Gesellschaft der Singularitäten“ folge „in entscheidendem Maße“ aus den „Medientechnologien“ [247; Hervorhebungen FS]

·         Das „für die digitale Singularisierung der Subjekte grundlegend[e Format des Profils]“ zehrt in Reckwitz‘ Darstellung von dessen schon gegebenen Bestimmungen des „Arbeitssubjekts der Wissens- und Kulturökonomie“ („Originalität und Andersheit“ bzw. der Verbindung von „Vielseitigkeit und Kohärenz“ in der Selbstpräsentation [248]. Für „digitale Profile“ kommt eine weitere hinzu, die Hantierbarkeit der Selbstpräsentation „in der Form eines modularisierten Tableaus“, mit oder ohne „standardisierte Rubriken“ (vgl. Facebook, Parship) [248f]: die „sichtbare Collage verschiedener Komponenten [z.B. Texte, Bilder, Links] einer Singularität“ tritt „an die Stelle des unbekannten und zunächst auch rätselhaften ‚Individuums‘, dessen Besonderheit sich in vordigitalen Zeiten erst nach längerer Bekanntschaft oder Freundschaft erschlossen hat (wenn überhaupt)“, „[i]m Profil baut sich Unverwechselbarkeit als kompositorische Singularität auf“ [249].

Mehr oder minder stillschweigend gilt die Metanorm einer „Permanenz der Performanz des Neuen“: „es reicht nicht, einmal zu bekunden, dass man Kolumbien, Barockopern und seine Kinder liebt; man muss diese Leidenschaften und Interessen durch zeitnahe Aktivitäten[…]ständig aufs Neue realisieren“ – de facto vorzugsweise in Gestalt „visuell dargestellte[n] Erleben[s]“ [250]. „Auch Links und Likes tragen zur Selbstsingularisierung bei[250…]In seinen Links demonstriert das Subjekt seine (digitale) Weltläufigkeit, in den Likes seine spezifische Affektivität“ [251]. Eher beiläufig wird konstatiert, dass „[d]e Profile[…]eine affektive Positivkultur des digitalen Subjekts [institutionalisieren]“ [251].

250 Anm 51 („Kulturkritisch könnte man mutmaßen: Das Foto/der Film objektiviert nicht das Erleben, sondern ersetzt es“) deutet einen Anflug von Reckwitz‘ Selbstdistanz gegenüber seinem analytisch-konstruktiven Konzept an – auch wenn der Terminus „Kulturkritik“ wie mit spitzen Fingern angefasst wirkt, anachronistisches Relikt aus Zeiten der ‚Logik des Allgemeinen‘. In eben diesem Sinne befremdet die Ungehemmtheit, mit der Reckwitz seinen vorgeblich gesellschaftstheoretischen Entwurf durch die Wahrnehmungen einer durch Omnipräsenz von Smartphones bestimmten Alltagswelt steuern lässt.

Diese Perspektivität marginalisiert das ‚analoge Leben‘durch die kategoriale Präferenz für die affektive Penetranz des ‚digitalen‘, wirkt also konzeptionell hochselektiv. In der Darstellung der Theorie wird das erkennbar namentlich, wo immer der ‚Ent-Decker‘ der ‚Logik des Besonderen‘ das gesellschaftliche Weiterwirken der ‚Logik des Allgemeinen‘ einräumt (à la „Erdenrest zu tragen peinlich“) und entsprechende ökonomische und/oder technologische Faktoren der Generierung von Singularitäten als unvermeidliche „Hintergrunds-“ [z.B. 20.200] bzw. „Infrastruktur“ [z.B. 19.73.119.229] attachiert. Die konzeptionelle (und für den Anspruch auf gesellschaftstheoretische Reichweite problematische!) Selektivität zeigt sich nicht zuletzt auch an den eher beschwiegenen ‚70 Prozent‘…: Soziologisches ‚Mistbeet‘ für die Invention der als künftiges Leit-Paradigma aufgebotenen „Singularität“ ist die perspektivische Wahrnehmung der angeblich seit den 1980er Jahren auf einen Bevölkerungsanteil von ca. 30 Prozent avancierten „Neuen Mittelklasse“ [z.B. 104.275]. Dürfen die residualen 70 Prozent als sozialevolutionär tendenziell verschwindende „Infrastruktur“-Verkörperung konzipiert werden? (Um’s plakativ zu personalisieren: der Reckwitz-Leser FS, pensioniert und singularisierungstheorie-skeptisch wie er bislang ist, in seiner Rolle als „Versorgungsempfänger“ – bloß Bestandteil einer unvermeidlichen Infrastruktur für die Singularisierung des 1 Generation jüngeren Angehörigen der Neuen Mittelklasse, der in der ERK Darmstadt monatlich die Bezüge berechnet?)

Das bringt auf traditionell sog. Letzte Fragen. „Unverwechselbarkeit“ [249] wird als Leit-Idee des sich in digitaler Performanz singularisierenden „Subjekts“ vorgestellt (212 findet sich auch der Terminus „Unersetzbarkeit“ – was freilich bei der terminologischen Lässigkeit des Autors nicht auf die Goldwaage zu legen ist). Eine unscheinbare Variation der „Unvertretbarkeit“ des ‚analogen Lebens‘, das Menschen führen (und aushalten müssen) – und das lange bevor sie als „Subjekt“ sich verstehen zu sollen angeleitet wurden. Eine ‚unterm Strich‘ „affektive Positivkultur de[r] digitalen Subjekt[e]“ [251] schreibt Reckwitz dem Profilierungszwang zu. Weiter unten [270 Anm 88!] wird konzediert, dass in der Selbstdarstellung von singularisierten ‚Subjekten‘ massive ‚Deaktivierungs’prozesse wie Krankheit und Sterben mit Rücksicht auf „Valorisierung“ durchs „Publikum“ aktivistisch ‚dramaturgisiert‘ werden (müssen). Eine theoretische Perspektive, in der etwas wie die fundamentale Passivität geborenen Daseins keinen Ort hat.

Dies zu bemerken ist nicht nur das Theologen als ‚Sowieso‘ leicht zuschreibbare ‚Memento mori‘. Es erinnert daran, dass die von Reckwitz theoretisch arrangierten sozialen Phänomene auch anders (und vielleicht ‚lebensgerechter‘?) thematisiert werden können – etwa á la Sennett, oder Rosa. Es ist ein weites Feld. Aber der Verdacht erhält Nahrung, es handle sich bei Reckwitz‘ Entwurf eher um eine ‚Theorie der Oberfläche‘ – dass Karl Marx die „Zirkulationssphäre“ erst im Zweiten Band seines „Das Kapital“ thematisiert hat, könnte auch Gesellschaftstheoretikern des 21. Jh. zu denken geben.

·         Als „‚hinter [dem] Rücken‘ [der sich wechselseitig beobachtenden Netz-Subjekte“ am Werk wird noch eine weitere „Art der Singularisierung“ benannt, die durch „apparative Systeme der Beobachtung“: „data analytics bei Facebook und Google“ sowie „Self-Tracking-Geräte“ [253]. Dies erfülle das Begriffskürzel „BigData“. Die Soziologen-These daraufhin lautet: Im Unterschied zu den klassisch-modernen, statistisch operierenden Small Data lasse BigData die „Differenzierung zwischen dem Persönlich-Privaten und dem Systemisch-Allgemeinen kollabier[en]“ [254] und singularisiere Subjekte, und sei’s als „modulare“.

·         Als weitere Techniken der Singularisierung „[i]m digitalen Computernetz“ werden aufgeführt: „Personalisierung des Internet“ (Facebooks „maßgeschneiderte[r] Newsfeed“, die ans „spezifische Beobachtungsprofil der Nutzerin“ angepassten Suchergebnisse von Google) – interpretierbar als „Antwort auf das digitale Aufmerksamkeitsproblem“, defacto eine Verunsichtbarung „subjektive (ver)störend[r] Objekte“ durch Algorithmen. Sowie die Chance für den Nutzer, durch „‚Softwarisierung‘ der Objekte“ das „technische Weltverhältnis“ zu singularisieren (Internet der Dinge).

·         Darüber hinaus formieren sich „digitale Neogemeinschaften […] als einzigartige[…,]mit hoher Wertzuschreibung und intensiver Affektivität verbunden“ „nebeneinander“ [261]; sie werden unterschieden von „heterogenen Kollaborationen“ (z.B. Wikipedia) und „Singularitätsmärkten“ (z.B. YouTuber), ihnen kommt „aus Sicht ihrer Mitglieder wie äußerer Beobachter als Ganzen das Merkmal des Singulären zu“ [264]: „mediale Parallelgesellschaften“ mit „egalitärer Struktur“ (zu „aktiver Partizipation ermutige[nd]“) und „hochgradig affektiv[er Kommunikation…beiderlei Färbung]“ [265] – ein Partikularisierungseffekt der „Universalität der globalen Vernetzung“ [262].

·         Abschließend ist die Rede von „Spannungsfeldern und Paradoxien“: 1. „Chance, sich als ein Selbst mit[…]auch ausgefallenen Interessen zu präsentieren und[…]zu vernetzen“ – Sog zur Anpassung an die „soziale Erwartung, einzigartig zu sein, und zwar auf akzeptable Weise“ (kein „flat character“!). d.h. unter „Abgrenzung [von] nichtakzeptablen Besonderheiten“ [266f] (Risiko von „Scham“ und „Fremdschämen“ [267] – wobei „Entwertungen sich in positive Valorisierungen umkehren und Diskriminierte[...]im Netz eigene Foren installieren [können]“ [268]; 2. „digitale Zementierung des Individuums“ (Verzahnung von „Online- und Offline-Identitäten“ sowie das „strukturelle Nichtvergessen des Netzes“ bremsen Selbst[darstellungs]experimente aus); 3. das Internet, obwohl „Medium eines radikaldemokratischen Pluralismus“, verschärft das Risiko der „Schwächung der allgemeinen Öffentlichkeit“ durch „Vervielfältigung von Perspektiven[…]bis zur Inkommensurabilität“ [269]; 4. Das „Regime des affektiven Aktualismus […] marginalisiert, was sich nicht in die Form des Ereignisses bringen lässt und was affektiv eher neutral oder ambivalent ist“ [269f]; 5.digitale Affektkultur der Extreme“.

 

·         Der „spätmoderne Lebensstil“ ist verankert in einer „primären sozialen Trägergruppe[...], der neuen Mittelklasse (= „akademische Mittelklasse“ = „Akademikerklasse“); indes seien nicht „nur bestimmte Teile und Milieus der Gesellschaft von Kulturalisierung und Singularisierung betroffen“; „niemand kann sich ihnen vollständig entziehen“ [274]. (Eine schwer bestreitbar gemachte These, mit der Reckwitz denkbaren Einwänden gegen eine konzeptionelle Generalisierung von lediglich sektoral Geltendem vorbaut.) Dieser Lebensstil wirke über die Grenzen der primären Trägergruppe – inzwischen „etwa ein Drittel der Bevölkerung“ [vorsichtige statistische Zahlen 275 Anm 5] – hinaus hegemonial [275]. – Entgegen Schelskys zu Recht weitreichender Formel von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (der „heute vergangenen industriell[n] Moderne“: „Logik der Standardisierung der Ressourcen […], Normalisierung der Lebensformen“ – „mehr als neunzig Prozent der Bevölkerung[…]mit dem Selbstbewusstsein, [in ihrem Lebensstil] ‚Mitte und Maß‘ zu markieren“ [276f] sei ein Wandel zu einer „kulturellen Klassengesellschaft“ [276] zu diagnostizieren (ausdrücklich gegen Becks Individualisierungstheorie!).

·         Putnam habe aufgrund von US-Sozialstrukturdaten diesen Wandel „für den Westen insgesamt repräsentativ“ [277f] beschrieben. „[S]eit den 1970er Jahren wirk[sam]“ seien ökonomische Umwälzungen „in Richtung Postindustrialismus“ sowie eine „Bildungsexpansion“ [279]. Im Zuge dessen sei eine „neue Unterklasse“ entstanden: „geringqualifizierte Dienstleistungsklasse“ („gegenwärtig[…]etwa bis zu einem Drittel der westlichen Bevölkerung“) mit „historische[m] Wohlstandsverlust“ [280]. In „materieller Hinsicht“ sei „diese Entwicklung in der Akademikerklasse[…]weniger eindeutig“ – deren „einigendes Band“ sei „hohes kulturelles Kapital“ [280]. Die „Klassenpolarisierung“ betreffe auch „Wohnverhältnisse“ und „klassenübergreifende persönliche Beziehungen“. Daneben gebe es die „(neue) Oberklasse […aufgrund] enorme[r] Vermögensakkumulation“ [280] durch „winner-takes-it-all-Prozesse“ sowie die „alte, im Kern nichtakademische Mittelklasse[…], unmittelbare Nachfahrin des einstmals dominanten Lebensstils“. „Die spätmoderne Gesellschaft ist damit eine Drei-Drittel-Gesellschaft“ [Fettungen FS].

In Anlehnung an Becks Formel „Fahrstuhleffekt“ („Wohlstandssteigerung für alle Schichten“) sprich Reckwitz vom sozialstrukturellen „Paternostereffekt“, eine Parallelentwicklung „kulturellen Aufstiegs [bzw.] Abstiegs der jeweiligen sozialen Gruppen“ [283], für den er drei „Ebenen“ benennt: 1. „hohe formale Bildung[…]wie informelles kulturelles Kapital[ als] zentrale Ressource“; 2. „umfassende Ästhetisierung und Ethisierung des Alltagslebens“; 3.Kulturalisierung der Ungleichheit“ via [De-]„Valorisierung“ von „Lebensform“ bzw. dessen Subjekten sowohl in Selbstwahrnehmung als auch in sozialer Anerkennung.

·         Die „Logik der Lebensführung der neuen Mittelklasse“ [285] speist sich aus Traditionen der „Romantik“ wie der „Bürgerlichkeit“ – in einer (angesichts von deren historischem Antagonismus) „paradox[en Formel]: erfolgreiche Selbstverwirklichung“ [289; fett FS]. Sie verbindet „Vorstellungen einer emphatischen Individualität“ („Entstandardisierung“) [286] mit „konsequenter Arbeit am [hohen sozialen] Status“ („Bildung“, „Arbeitsethos“ usw.)

·         „Der Selbstverwirklichungsgedanke ist das ‚gesunkene Kulturgut‘ der Kultur der Spätmoderne und ihrer neuen Mittelklasse nach 1968. Das Subjekt setzt sich hier als befähigt und berechtigt zur Selbstverwirklichung voraus…“ [290]. Unterschieden werden „weltabgewandte“ und „weltzugewandte Selbstverwirklichung“ [291]. Letztere gilt Reckwitz als die singularistische Blaupause („Was ich eigentlich bin und wirklich will, erweist sich erst in meinen alltäglichen Praktiken[…] – muss voraussetzen, dass die Welt für eine solche Haltung eingerichtet ist[…], die Spätmoderne mit ihren reichhaltigen Offerten[…]zwischen Yoga-Retreat, Ethnic Food, Kreativarbeit, Facebook und Gesangsstunden[…], liberalen Erziehungsstilen und emanzipierten Geschlechterbeziehungen“). „Der Habitus passt ins Feld“ [291] resumiert lakonisch Reckwitz, ganz Bourdieu-like, mit leisem Triumph, dass sein Theorie-Sudoku aufzugehen scheint J. – „Systemische Makroprozesse“ und „Mikropraxis“ der „Kulturalisierung und Singularisierung“ („Ästhetisierung, Ethisierung des Lebens“) wirken konvergent an der „Authentifizierung des Lebens“ [293] zusammen. „Das Selbstverwirklichungssubjekt [will] sein Leben mit Praktiken bevölkern, in denen Objekte, Orte, Ereignisse, Kollektive oder andere Subjekte als einzigartige erfahren[…], geschätzt und genossen werden können“ [293f] – in seiner eigenen „kompositorischen Singularität“ [294].

·         Aus dem „Kunstfeld“ borgt sich Reckwitz eine strategische Metapher für den „spätmodernen Lebensstil“, die „Subjektform des Kurator[s]“ („erfindet nicht von Grund auf neues, er stellt klug zusammen“): das „kuratierte Leben“ „besteht in der klugen Auswahl und Aneignung[…], die aus dem Disparaten ein stimmiges Ganzes machen, das trotzdem seine Heterogenität bewahrt“ [295; fett FS]. „Das Neue in diesem kreativen Lebensstil ist[…]das relativ Neue“ [296] „Das Kuratieren als Querschnittspraxis“ löst die des „Konsums“ ab – indem es sie resorbiert, durch Erweiterung der Praxis des Auswählens durch die der „Aneignung“ [296f]. So „[kann] das kuratierte Leben beides sein: radikal konsumistisch und grundsätzlich antikonsumistisch“ [297] – das Halten dieser Spannung zwischen „[E]infache[m]“ („Wahl“) und „[A]nspruchsvolle[m]“ („Aneignung“) lässt den „Lebensstil der akademischen Mittelklasse[…]hochgradig aktiv“ sein [298].

Ein theoretischer Kunstkniff, mit dem Reckwitz sich mehrere Soziologen-Probleme seiner „Singularitäten“-Invention vom Hals halten kann:

o   Kategoriale Entscheidungen müssen auch Versuchen empirischer Falsifikation standhalten können. Die unvermeidliche ‚Ableitung‘ der „Singularitäts“-Idee aus auch der Romantik lässt ‚das Absolute‘ fordernd auf den Plan treten – bei dem Soziologen gleich abwinken. Aber fürs „kuratierte Leben“ des spätmodernen Subjekts genügt ja „das relativ Neue“…

o   Das „Lebensstil…hochgradig aktiv“ muss man nicht auf die Goldwaage legen wollen (so empirisch sachhaltig es sein mag). Aber die „Habitus passt ins Feld“-These puffert Überstrapazierungen des „Subjekts“ ab: die ‚Verhältnisse‘ als Ermöglichungsgrund. Die Reichweite der These hängt natürlich davon ab, ob „passt“ als Ausdruck einer empirischen Verallgemeinerung (was zu vermuten ist!) oder als kategorial gemeint ist. (Immerhin könnte man prüfen, ob’s Anlass gibt, als Theorie-Reparateur zu Rosas „Resonanz“-Paradigma ‚überzulaufen‘ J)

o   Der Terminus „Aneignung“ balanciert vorläufig so geschickt zwischen ‚Selbst‘ und ‚Anderem‘: ein begrifflicher Vorschlag, dass er schwer angreifbar macht. Theoretische Überraschungen nicht ausgeschlossen.

·         In einem Kapitel „Statusinvestition und das Prestige des Einzigartigen“ arrondiert Reckwitz die Bestimmungen des singularistischen „Subjekt[s] der neuen Mittelklasse“ um einen tragenden Schlussstein [303-308].

„Grundlegend [sc. für die „Kopplung von Authentizitäts- und Erfolgsstreben“; FS] ist zunächst, dass die anerkannte Berufsarbeit in klassischer Manier ihre [sc. der neuen Mittelklasse ; FS] Basis bleibt“[…. Sie] folgt einem materialistisch grundierten Postmaterialismus. Das ‚gute Leben‘ besitzt eine Lebensqualität, die über Lebensstandard hinausgeht – setzt aber zugleich (ökonomisches, kulturelles, soziales) Kapital voraus, dessen Erwerb und Reproduktion zu einer permanenten Aufgabe wird.“ [303; Hervorhebungen FS] [In prominenter Weise wird die schon wiederholt ‚eingeschlichene‘ These von der unvermeidlichen Weiterwirksamkeit der für die sog. klassische Moderne kriteriell gemachten „Logik des Allgemeinen“  geltend gemacht. Es fällt auf, dass auch im Blick auf die in instrumenteller Funktion als „bleibend“ reklamierte „Berufsarbeit in klassischer Manier“ von „Anerkennung“ die Rede ist. Ob der Marxsche Terminus „Basis“ – der sog. „Lebensstil“ gehörte in dieser Theorie-Logik dann zum „Überbau“! – im Bewusstsein dieser Konnotation gewählt ist, muss angesichts Reckwitz‘ terminologischer Leichthändigkeit in der Schwebe bleiben.] Unter Rückgriff auf Schimank u.a. wird „investive Statusarbeit“ als „prägende[e Strategie] für die Lebensführung“ festgestellt. „Die selbstunternehmerische Statusinvestition[…] betrifft alle relevanten Kapitalsorten“: „kulturelles“, „ökonomisches“, „Netzwerkkapital“, „psychophysisches Subjektkapital“ – empirische Illustrationen werden gegeben [304f], Diese „Statusinvestition“ sei einerseits als „mitlaufend“ zu verstehen (s.o. als bloß instrumentell: in – auch und gerade im Selbstverständnis! – Abgrenzung zur „alten Mittelklasse“, die[…] vorgeblich kleinbürgerlich ‚nicht zu leben verstand‘“. Die fürs Selbstverständnis entscheidende differentia specifica dürfte unter den ‚soft-skill‘-„Kapitalsorten“ zu finden sein.) [305]. Andererseits gehöre die Statusinvestition als Moment performativer Selbstverwirklichung kriteriell unmittelbar zum „singularisierten Lebensstil“, als von anderen wahrgenommener Ausdruck „kuratierten Lebens“, der auf der Wahrnehmungsseite als „soziales Prestige“ wirksam ist [305f]. [306 Anm 62 grenzt sich Reckwitz – ein in seiner Theorie-Darstellung seltenes prononciertes Merkmal, und darum als anspruchsvolle Selbstverortung seines Theorie-Programms erwähnenswert! – von „komplementär einseitige[n] Ansätzen“ ab: Schulze rekonstruiere die „Spätmoderne“ ganz vorzugsweise von „selbstbezügliche[n] Erlebnisse[n] her, wogegen für Bourdieu „klassisch Distinktion und Prestige alles [seien] und intrinsische Werte nurmehr als ideologischer Schein übrig[blieben]. Der singularistische Lebensstil beweg[e] sich jedoch zugleich auf den beiden Ebenen.“] Erneute empirische Illustrationen „veranschaulichen, wie sich Singularität in ein Singularitätsprestige[…]verwandelt“ [306]; „[somit] „befindet sich das Subjekt in einem mehr oder weniger subtilen Distinktionswettbewerb[…]. Anerkannte Singularität wird für des Subjekt hier selbst zum Kapital – zum Singularitätskapital.“ [307; fett FS].

Als erklärtermaßen „zusammenfassende“ (und unmittelbar Folgendes vorzeichnende) These sei zitiert: „Im singularistischen Lebensstil der akademischen Mittelklasse findet über den Weg der Valorisierung von Gütern sowie der Akkumulation von Singularitätskapitals eine Valorisierung der Subjekte statt, und zwar in Hinsicht sowohl auf das Selbstwertgefühl als auch auf ein Prestige in den Augen anderer. Indem man sich wertvolle Güter der Welt aneignet – sie bereist oder in ihnen wohnt, sie verzehrt, mit ihnen zusammenlebt (Partner, Kinder), sie frequentiert (Kultureinrichtungen, Eliteuniversitäten etc.) oder sich anderweitig zu eigen macht (etwa als sportliche oder spirituelle Praxis) – gewinnt das Subjekt an Wert und valorisiert sich selber. Es findet einen soziale Übersetzung von der Valorisierung der Güter und Praktiken auf die Ebene der Valorisierung des Subjekts, kurzum: es findet ein Valorisierungstransfer statt. Das spätmoderne Subjekt ist damit nicht als Träger allgemeiner Kompetenzen oder spezialisierter Leistungen oder gar qua seines Menschseins wertvoll, sondern wird vor sich selbst und vor anderen erst wertvoll durch diese Aneignungsprozesse, in deren Verlauf als wertvoll anerkannte besondere Güter und Praktiken in den Lebensstil integriert werden oder als Kapital wirken.“ [307f]

·         Anlass zu einer Zwischenbilanz. In entsprechender Vorläufigkeit notiert der (auch protestantisch-theologisch imprägnierte) Leser FS einige Beobachtungen und Reflexionen, die zu erörtern auch in einer Tagung wie „Die Gesellschaft der Singularitäten trifft auf Religion“ (Ev.Akademie Hofgeismar 15.-17.02.2019) Gelegenheit wäre:

o   Reckwitz‘ „Singularitäten“-Konzeptionsvorschlag (nicht zufällig im modus pluralis buchtitelfähig) will nicht im Sprachspiel einer Ersten Philosophie diskutiert werden, sondern ‚handfest‘ soziologisch (dabei immer auch die Spezial-Perspektive des „Praxeologischen“ vorsorglich geltend machend). Hierfür steht nicht zuletzt die antiidealistische Betonung des Körperlichen – indes ohne dass erkennbar würde, inwiefern die Grund-Unterscheidung von ‚Körper‘ und ‚Leib‘ (etwa bei Plessner) reflektiert und konzeptionell verarbeitet wäre (hierzu vgl. auch unten).

o   Aber er entkommt, grundbegrifflich ansprüchlich wie er denn doch ist, dem Horizont des fundamentalen Begriffs-design nicht. Das „Singularitäten“-Konzept setzt einen Begriff von „Subjekt“ voraus, der – so der mainstream neuzeitlichen Denkens – charakterisiert (mit Reckwitz dürfte man sagen „profiliert“ J) ist durch „Selbststeigerung“ (Belege finden sich allein schon im letzten referierten Kapitel zur Genüge).

§  Die passagere Anleihe bei der von Latour u.a. propagierten ANT trägt argumentativ nicht durch, sondern reicht nur zur Legitimation der Co-Singularisierung von „Objekten, Räumlichkeiten, Zeitlichkeiten, Kollektiven“ [37; ähnlich zwar noch, aber bereits deutlich abgeschwächt 293]. Leitvorstellung bleibt ein asymmetrisch konzipiertes „Subjekt“: Am deutlichsten wird das an der – denn doch v.a. dieserart verwandten! – Herrschaftsfigur der „Aneignung“ [zuletzt 295.307], die die „Objekte etcetc“ zum „Subjekt“ allenfalls in ein ‚Respondenz‘-Verhältnis setzt (290 ist vom „Berechtigungsbewusstsein“ die Rede!) – im qualitativen Unterschied zur Co-Konstitution von „Subjekt“ und „Welt“ die Rosa als „Resonanz“ konzipiert (um nur auf ein Reckwitz-synchrones soziologisches Modell zu rekurrieren).

Insoweit also nichts Neues. Sondern „klassische Moderne“ – sogar noch in der Gestalt, die Marx dem „Subjekt“ im ‚vom-Kopf-auf-die Füße!-Verfahren verliehen hat: Das Kapital ist der Schlüssel zum Verständnis dieses merkwürdigen Lebens, das sich erhält und steigert, weil es das einzige Leben, die einzige Macht ist, die sich nur insofern erhält, als sie sich steigert, deren einzige Bedingung die endlose Steigerung ist.“ Eine Theorie, die um einen auf Selbststeigerung verpflichteten Grundbegriff gebaut ist, ist mithin sowohl der Kritik am „Kapital“, der sog. immanenten, wie der menschenrechts-reklamierenden praktischen am „Kapitalismus“ ausgesetzt als auch der am „Fortschritt“, dem historischen Ideologem jenes Grundbegriffs.

o   Apropos Körperlichkeit. Deren gesellschaftstheoretische ‚Entdeckung‘ sollte die asymmetrische Distanz zwischen Selbst und Welt, den oft sog. „Cartesianismus“ des solitären Cogito, brechen.

§  Die Redeweise des frühen Habermas von der sowohl „äußeren“ wie „inneren Natur“ des Menschen sollte jene ‚hinter dem Rücken des Bewusstseins‘ wirksame Einbettung des Subjekts in das über es hinaus reichende Andere markieren. Ohne dass dieses Interesse sich in der späteren, sprachphilosophisch inspirierten „Theorie des kommunikativen Handelns“ folgenreich niedergeschlagen hätte.

Die phänomenologischen Studien von Merleau-Ponty sind im nicht-frankophonen mainstream der Rezeption praktisch untergegangen. Und die Arbeiten von Thomas Fuchs (etwa „Das Gehirn – ein Beziehungsorgan“) gelten maßgeblichen Fachkreisen als (halb?) esoterisches Nischenprodukt.

Mit Reckwitz zu sprechen: Man mag darin auch – im Einzelnen nicht rekonstruierbar – einen, Effekt des „winner-takes-it-all“-Gesetzes [155ff] von „Valorisierungswettbewerben“ [z.B. 245] sehen, die nicht ‚guten Gründen‘, sondern schlicht Mehrheiten in der Konkurrenz ums knappe Gut „Aufmerksamkeit“ [z.B. 238f] folgen. Wie Reckwitz, ganz ‚wertfreier Soziologe‘ [vgl. 23], cool für empirisch normal ansieht. Immerhin notiert er am Rande auch als „Spannungsfeld“ [265ff], dass unter dem kommunikationsdominanten „Regime des affektiven Aktualismus[…]marginalisiert [wird], was affektiv eher neutral oder ambivalent ist“ [269f]. Einer argumentativen Depotenzierung des „Subjekts“ haften unter diesem Gesichtspunkt gleich zwei aufmerksamkeitsmindernde Faktoren an: Kränkung des Selbstbestimmungs-Kompetenz-Gefühls sowie „unverständliche Wissenschaft“ [um Luhmanns Formel zu zitieren]. Aber das nur nebenbei.

Diese Intention verfolgt Reckwitz in seiner Einbeziehung von Körperlichkeit in die Theorie der „Singularitäten“ ersichtlich nicht, sowohl im (1) engeren wie im (2) weiteren Sinne. 1: Wo immer von „Körper“ die Rede ist [z.B. nur 257f „Körper-Tracking“; „psychophysisches Subjektkapital“ 305: thematisch konzentriert 325-329], handelt es sich um den Gegenstand der Optimierung einer „kulturellen Ressource“ [z.B 245]. 2: kategorial nicht anders denn „Objekte etc“ [57ff. 103 u.ö.] gehört der „Körper“ ins Repertoire der Medien und Instrumente der Selbst-Singularisierung; sprechend der Schluss-Satz „Das singuläre Subjekt ist…eben ein heroisches Subjekt, das seinen eigenen Körper und die Natur bezwingt“ [329].

·         Als „Die Gesellschaft der Singularitäten trifft auf Religion“ ist die o.g. Tagung angekündigt, in nachgerade klassischer Ev.Akademie-Diktion Versprechen eines grenzüberschreitenden Dialogs von Verschiedenen. ‚Treffen auf…‘ ist die (durchaus ‚körper‘-haltige J) Metapher für ein Ereignis sprachlicher Kommunikation. Die Metapher hält zunächst offen, ob es zu Widerspruch (gar: Widerstand?) – und dito offen bleibt, ob der ggfs. ein- oder wechselseitig ausfällt! – oder zur Katalyse einer Verschmelzung zu neuer Gemeinsamkeit kommt (bzw. wenigstens der Entdeckung von konzeptionellen sog. Schnittmengen, dem Feld der Erprobung lebenspraktischer Kompromisse). Entdeckbar wird sein, wie verschieden eigentlich die vermeintlich Verschiedenen sind und wieviel und was an Gemeinsamem sie hinterrücks von vornherein verbindet.

Mit diesem soziologischen Programm hat schon 1964 Joachim Matthes unter dem ironischen Titel „Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft“ der in ihrer theologischen Selbstreflexion auf ‚Widerstand!‘ gebürsteten evangelischen Kirche Deutschlands ‚die Leviten gelesen‘ und – wirkungsgeschichtliche Spätfolge – die seit 1972 im Zehnjahresabstand bis zur Stunde vorangetriebene Praxis der empirischen Selbsterforschung durch sog. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen (KMU) initiiert (deren Detail-Erörterung hat hier keinen Platz). Mit dem erwartbaren Ergebnis, dass es ‚alles, was es auf der Welt überhaupt gibt, in der Kirche auch gibt‘ [R.Gebhardt].

„Was bedeutet das alles“ (Thomas Nagel) für die Erörterung von Reckwitz‘ gesellschaftstheoretischem Vorschlag? Dass in Reckwitz‘ Buch „Religion“ nur ganz marginal als eben auch auftretendes soziales Phänomen thematisiert wird, ist evident. Das „…trifft auf…“ ergebnisträchtig zu praktizieren, verlangt nach einem Blick unter die Oberfläche des zu Lesenden. Mit dem o. zitierten „zusammenfassenden“ These  „Das spätmoderne Subjekt ist damit nicht als Träger allgemeiner Kompetenzen oder spezialisierter Leistungen oder gar qua seines Menschseins wertvoll, sondern wird vor sich selbst und vor anderen erst wertvoll durch diese Aneignungsprozesse…“ liefert freilich Reckwitz evangelischen Theologen eine ‚Steilvorlage‘ (fußballerisch gesprochen) zum Widerspruch – die seiner durchgängigen „Valorisierungs“-Diktion verdankte Nutzung des „Wert“-Begriffs darf vorerst auf sich beruhen…

Dieser These möchten sogar agnostische Menschenrechtler*innen widersprechen wollen, mit Blick auf die ungerechte Chancenverteilung bei ‚diese[n] Aneignungsprozesse[n]‘. Aber evangelische Theologen sind erst recht herausgefordert. In ausdrücklicher Auseinandersetzung mit Aristoteles‘ „Metaphysik“ kommt Martin Luther 1517 zu der onto- wie anthropologischen Grund-Einsicht „Non ‚efficimur iusti iusta operando‘, sed iusti facti operamur iusta“ (dt. „nicht durchs Tun des Gerechten werden wir Gerechte, sondern erst infolge des Freispruchs trotz Ungerechtigkeit können wir Gerechtes zuwege bringen“); Luther-Interpreten im 20. Jh. wie Ebeling haben diesen widerspruchsträchtigen Gegensatz auf die Formel ‚Person statt Werk‘ gebracht. Eben gerade aufgrund dessen können wir wissen: Luthers Grund-Einsicht bezieht sich aufs Gottes-Urteil übers ‚ewige Heil‘, nicht auf „soziale Anerkennung“ hienieden. Nur hat die Erfahrung mit religiöser Kommunikation seit – die Versuchung liegt nahe zu sagen: der von Reckwitz notorisch reklamierten ‚Achsenzeit‘ J – den 1980er Jahren mit der Frage infiziert, als wie messerscharf eben dieser Unterschied aufgefasst werden wirklich muss oder ob ein gehöriges Maß an Indifferenz theologisch-reflexiv erlaubt ist. Die zu beantworten, bedarf es wohl einer großen Prise Schleiermacher

o   Theologiegeschichtskenner werden sich erinnern an die Kontroverse um den sog. „Anknüpfungspunkt“, die der als Differenztheologe schon prominent gewordene Karl Barth mit seinem zeitweiligen Bundesgenossen Emil Brunner 1930 angezettelt hat. Seinerzeit ging es um gefühlt Letzte Fragen. Die zwar seitdem auch noch nicht theologisch-konsensuell beantwortet sind, die aber Anfang des 21. Jh. nur noch wenige erheblich finden. Ebensowenig wie Barths (um das Erscheinen von weiteren 12 Bänden der seinerzeit im Werden begriffenen monumentalen „Kirchlichen Dogmatik“) späteres Einlenken auf die (kontrovers-bezüglich einvernehmlichere) Linie einer Theologie des „Heiligen Geistes“ (die die Kontingenzen der lebensmäßig gewachsenen ‚Verschiedenheit‘ des ‚Christlichen‘ achtsamer hätte bedenken können) entsprechend Aufmerksamkeit gefunden hätte.

·         Reckwitz‘ „Die Gesellschaft der Singularitäten“ tritt wissenschaftsliterarisch auf mit dem Anspruch einer aktuellen „Gesellschaftstheorie“. Dessen Berechtigung zu überprüfen muss dem inner-professionellen Diskurs überlassen bleiben (wie partikularinteressenverzerrt der sein mag, ums habermasisch auszudrücken); einschlägige Zweifel habe ich weiter oben angemeldet. Professions-übergreifende Aufmerksamkeitsgewinne kann das Buch schon jetzt einstreichen. Das Mindeste, was Reckwitz‘ Buch zugute zu halten ist: eine  aufschlussreich perspektivierte Zeitdiagnose.

Dass der Leser FS sich, ungeachtet seines passageren individuellen Kopfschüttelns, mit schärferer Ablehnung der Reckwitzschen Dispositionen zurückhält – tja: „Man kann seiner eigenen Zeit nicht böse sein, ohne selber Schaden zu nehmen“ überlegt sich der Protagonist in Musils „Mann ohne Eigenschaften“.

·         Unter dem Sammeltitel „Bausteine des singularistischen Lebensstils“ werden „aus der Perspektive der klassischen Bürgerlichkeit eher profan ersch[einende] [Praktiken]“ thematisiert, „die für eine Kultur der Authentizität besonders dankbar scheinen, da sie den Mythos des Alltäglichen, des Sinnlichen und Unmittelbaren in sich tragen“ [308f].

o   Essen: [Selbstverständlich muss der Soziologe die Tiefenschärfe seines Blicks durch Zitation von Lévi-Strauss und M.Douglas zu Protokoll geben] 1. „globale Verbreitung lokaler und regionaler Esskulturen, vor allem durch die Migrationsbewegungen“; hyperkulturelle Verwandlung des ursprünglich bloß Lokalen in singularisierende „kulturelle Ressourcen“ [311] – 2. „ausgeprägter Experimentalismus der spätmodernen Küche“, „kuratorische Kunst des Zusammenstellens von Heterogenem“ [311f] – 3. „Ethisierung des Kulinarischen“ (Art und Weise der Produktion, Grad des ‚gesund‘-Erscheinens) – 4. „Praktiken des Essens und Kochens“ werden ästhetisiert/ethisiert; „seit den 1990er Jahren[…]in den Wohnungen und Häusern[…]die Küchen von der Peripherie ins Zentrum gerückt“, wo „das ansonsten verkopfte spätmoderne (Akademiker-)Subjekt als handwerklich tätiges [sich] erfahren [kann]“ [313]

o   Wohnen: „man ist auch, wo und wie man wohnt“, in der „Gegenkultur der 1970er Jahre [wurde] Wohnen zu einem Politikum des Privaten“ [314]. „Orte sind[…]einer gesellschaftlichen Valorisierungsdynamik“ unterworfen [„feine Unterschiede“ – aha, Bourdieu gehört zur Grundgrammatik J]; „Erleben von Urbanität“ ‚schlägt‘ unter Authentizitätskriterien das „Wohnideal“ des Einfamilienhauses [314f]. Die „Gestaltung und Einrichtung der Wohnung [wird] zu einer Daueraufgabe“, nämlich des „kuratierte[n] Wohnen[s]“: „[a]uthentisch erscheint[…], wenn[…]klassisch und außergewöhnlich“… [316f]. 1. Raumqualitäten: „Tendenz, Räume[…]ineinander übergehen zu lassen“, Fenstergröße und Raumhöhen sollen Großzügigkeit signalisieren, „Wände und Fußböden[…]einen neutralen Bühnenhintergrund“ abgeben und zugleich ein authentisches Erscheinungsbild [317f]. 2. Mobiliar: „weicher Modernismus“, d.h. „raffinierte Kombination von Einzelstücken“ [318]. 3. Accessoires: ausgewählte Funktionsgegenstände, Kunst-Stücke, Reisemitbringsel diesseits kommerzieller Souvenirs, Sammlereien, Dinge von persönlichem Erinnerungswert. All das macht die „kuratierte Wohnung [zum] Orts performativer Selbstverwirklichung“ [319].

o   Reisen: „Schlüsselpraxis in der Lebensführung der Akademikerklasse, die ihr kosmopolitisches Bewusstsein prägt“ [320]; „kuratiertes Reisen […]auf der Suche nach den besonderen Orten und Momenten in ihrer Authentizität“ [321; Hervorhebungen FS]. In diesem Sinne relevante Reiseziele haben „interessante Dichte und überraschende Andersheit“ [322]. [Dieses Item der Singularisierung wird als vergleichsweise stark abhängig von kontingenten Gegebenheiten dargestellt: z.B. „Besonderheit[…]im Auge des Betrachters“, 323; „immer eine Kombination aus Planung und Zufall“, 324]

o   Körper: Im Gegensatz zu „ausgesprochener Körperzurückhaltung [in] Bürgertum und alte[m] Mittelstand[…speist sich] die spätmoderne Identität in erheblichem Maße aus primär körperbezogenen Praktiken“ – Wandlungsfaktor: die „Counter Cultures der 1970er und 1980er Jahre, [die] das Erleben des eigenen Leibes nobilitierten“ [325]: 1. „Bemühungen der Selbstoptimierung“ (standardisierendes „Fitness-Training“ als „Infrastruktur“) – 2. „Arbeit am physischen Erscheinungsbild“ (von Kosmetik bis Stilberatung u.ä.) nach „weiterhin allgemeingültige[n] Kriterien“ (incl. Abweichungen vom „[M]askenhaften“) [326f] – 3. „Bewegungskulturen[…als] Technologien des Selbst“ – 3.1. hyperkulturelle Aneignung fremder Kontexte – 3.2. Außeralltäglichkeit als Chance „ekstatische[r] Grenzerfahrungen“ [328] – 3.3. Experimentalität statt Reguliertheit – 3.4. „ins Freie“! – 3.5. „Das singuläre Subjekt ist[…]heroisches Subjekt, das seinen eigenen Körper und die Natur bezwingt“ [329]

o   Erziehung und Schule: Zur „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ gehörte „das Ideal des ‚sozial angepassten Kindes‘“ [330] – das sei unter Bedingungen der „sozialstrukturellen und kulturellen Polarisierung der Spätmoderne“ anders geworden, und in typisch verschiedener Weise: Es habe sich der „anspruchsvolle Erziehungsstil“ »intensiver Elternschaft« [herauskristallisiert]“, das „Ideal ist[…]das autonome, selbstmotivierte Kind mit ausgeprägtem Selbstwertgefühl und vielseitigen Interessen, die in ihrer Eigensinnigkeit zu fördern sind“: ein „Singularisierungsprogramm des Kindes“ [331]. Der Erwerb von sowohl schul- und berufserfolgsfördernden „Kompetenzen“ als auch von „informellem kulturellem Kapital“ im „familiären Herkunftsmilieu“ [332] wird, weil distinktiv wirksam, wichtig. Die Unterwerfung des Schulsystems [im Text ist von einer Selbstunterwerfung die Rede – plausibler scheint indes, in den genannten Maßnahmen einen strategischen Regierungs-Oktroi im Kontext international – OECD! – betriebener Konkurrenz von Staaten um vordere Plätze im ranking der Prozentualanteile formal höherer ‚Bildungsabschlüsse‘ zu sehen; FS] unter „quasiindustrielle Standardisierungsimperativ[e]“ infolge von PISA oder TIMSS scheine den historischen Trend zur Singularisierung zu bremsen [333]. Reckwitz sieht indes in diesem – seiner Theorie nach inkonsequenten – revival der „Logik des Allgemeinen“ die Funktion, „Minimalstandards“ bei Kindern aus „Familien der Geringqualifizierten“ zu sichern. Dem gegenüber breite sich ein Netz „ambitionierter Schulen“ („einzigartige Schulkultur“ und „besonderes Bildungsangebot“) aus, in Konkurrenz um die „überaus kritischen und wählerischen[…]Familien der neuen Mittelklasse“ [334] – ein, in Makro- wie in Mikro-Betrachtung, Schul-Institution wie „Lernende, Lehrende und Eltern“ forderndes (bis „[ü]berforder[ndes]; 335) Angebot.

Der Soziologe demonstriert eindrücklich seine differenzierte und weiträumige Wahrnehmungsfähigkeit für die Dinge des Lebens – und zugleich durch Anwendung seiner Kategorienbildungs-Kompetenz das Decouvrierungs-Merkmal des ‚soziologischen Blicks‘: soziologie-typisch dienen Meta-Narrative dazu, kulturgeschichtliche Prozesse, die auf ungezählte Einzelhandlungen ‚ursächlich‘ zurückzuführen wären, in eine ‚Große Erzählung‘ zu verwandeln (um Lyotard zu ironisieren…) - ceteris paribus wie Freuds Typus der Psychoanalyse). Dabei fällt zweierlei auf: Zum einen nutzt Reckwitz verstärkt die zuvor dargetane idealtypische Opposition von „Bürgertum und alte[m] Mittelstand“ vs. „Spätmoderne“ – was nach über 300 Seiten Theorie-Konstruktion erlaubt sein mag, aber den Aussagen übers „Spätmoderne“ auch etwas lediglich Privativ-Komplementäres, ja von petitio principii einträgt. Zum anderen lässt er diskret ‚Kein Thema!‘ sein, den Einsatz von wieviel schnödem Geld die beschriebenen Praktiken der Singularisierung (nahezu beliebiges Beispiel 328: „Freeclimbing, Akro-Paragliding, Apnoetauchen, Base-Jumping und dergleichen“) verlangen – Erinnerung daran, dass „Die Gesellschaft der Singularitäten“ eine Gesellschaft der „Besserverdiener“ imaginiert (wie das 1994 der politische Sprech der seinerzeitigen ‚Pünktchen-F.D.P.‘ ausdrückte). Das dürfte in die Chance auch etlicher Paare mit Kindern, dem Sog zur (von Reckwitz als Trend betonten) ‚Metropolisierung’ sich zu überlassen, „trotz Doppelerwerbstätigkeit der Eltern“ (die Reckwitz 331 wg. ihrer „historisch einmalige[n… K]indzentriert[heit]“ bestaunt) einen Knick setzen (etwa im Blick auf Wohnen und „ambitionierte Schulen“ [333ff]).

o   Noch weitere „Querschnittsmerkmale“ [338] der „Lebensführung der neuen Mittelklasse“ werden thematisiert: Work-Life-Balance: Zu beobachten sei „strukturelle Angleichung von Arbeit und Privatsphäre“, und zwar „von beiden Seiten aus“: „beide verschreiben sich [psychisch anspruchsvoll] einem produktiven Aktivismus“ [336f]. Urbanität: Die „spätmoderne Gesellschaft tendiert zu einer sozialräumlichen Polarisierung zwischen den postindustriellen Großstädten[…]und den übrigen Siedlungsgebieten[….E]ntsprechende Migrationsbewegungen der Hochqualifizierten…“ [337]. Juvenilisierung: Gleichzeitig mit der bekannten „demografischen Entwicklung der spätmodernen Gesellschaften[…]findet[…]auf der kulturellen Ebene ein Prozess der Juvenilisierung statt“ [337] – bis hin zum Ideal des „aktiven Alterns“ („in der akademischen Mittelklasse, die über entsprechende kulturelle, gesundheitlilche und ökonomische Ressourcen verfügt“). „[G]enuine Jugendbewegungen“ wie „Generationskonflikte“ verlieren Relevanz angesichts der „Hegemonialität[…generationen-]gemeinsamen Lebensstils des materialisitsch grundierten Postmaterialismus“ [338]. Degendering: An die Stelle der „[bis weit ins 20. Jahrhundert] als alternativlos angenommenen dualistische[n] Geschlechterkultur“, die „die Frauen und die Männer als zwei ‚Menschentypen‘[…], als Kollektive [singularisierte]“ treten zwei neuere Modelle: a) die Annahme der „[G]eschlechtsneutral[ität]“ von „zentralen beruflichen Fähigkeiten“ wie „generelle[m] Ziel der subjektiven Selbstverwirklichung“ etc; b) die Singularisierung des „Subjekt[s] als einzigartiger Träger seiner Geschlechterrollen“ [339]. Neuer Liberalismus: Er setze sich als „subpolitische Weltanschauung [der Akademikerklasse]“ aus „Meritokratismus, Postmaterialismus und Kosmopolitismus“ [341] zusammen, deren „Einheit“ in einem „liberalen Fortschrittsverständnis“ (Globalisierung, Postindustrialismus, Bildungsexpansion, nachhaltige Politik, „kosmopolitische Gleichberechtigung“) zu sehen sei.

o   „Die Doppelstruktur von weltzugewandter Selbstentfaltung und mitlaufender sozialer Statusinvestition ist grundsätzlich spannungsgeladen“ [342: Hervorhebung FS]:

§  Auf der Hand liegt das „Romantik-Status-Dilemma“.

§  Die „Orientierung an der Selbstverwirklichung[…]ist[…von der] typisch modernen Struktur der Steigerung geprägt“, namentlich weil nicht[…]ein natürlicher, gegebener innerer Kern des Subjekts sich eigenlogisch entfaltet, sondern das Subjekt sich mittels der reichhaltigen Praktiken und Objekte der Welt verwirklicht. Daraus ergibt sich jedoch ein Imperativ der Selbstentgrenzung“ samt seiner „Kehrseite“, der „Selbstüberforderung“ [343]; in jenen Imperativ sei „eine Verzichtsaversion eingebaut“ (um der Identifikation mit der „negativ bewerteten Gegenfigur [‚immobiles Subjekt‘] zu entgehen [344].

§  Im Gegensatz zur „industriellen Moderne“ mit ihrer zumindest ökonomischen Risiko-Minimierung sei die „Kultur der Spätmoderne[…]ein struktureller Enttäuschungsgenerator“, v.a. wegen ihrer „Winner-takes[…-]the-most-Logiken“, die praktisch alle „Güter, die für die akademische Mittelklasse relevant sind“, infiltrieren [345]. Die „ausgeprägte Sichtbarkeit des Erfolgs anderer“ verschärfe die „Enttäuschungserfahrung, die sich einstellt, wenn man meint, nicht ‚mithalten‘ zu können“ [346]. Zudem sei der „Maßstab [eines erfüllten Lebens] sehr viel volatiler, subjektiver, emotionaler und damit fragiler“ als ‚früher‘ – ob nämlich „das Erleben des Subjekts, seine Wahrnehmung und Affiziertheit“ dessen Selbstverwirklichung fördere, „wird erst post hoc deutlich“ (Beispiele: „eine Reise“, „der einmal gewählte Beruf“, „die geschlossene Ehe“) [346f].

§  Abschließend räumt Reckwitz ein: „[D]ie Kultur der Spätmoderne [stellt] kaum kulturelle Ressourcen zur Enttäuschungstoleranz und –bewältigung zur Verfügung[…], auch für Enttäuschungen, die sich aus existenziellen ‚Unverfügbarkeiten‘ [347 Anm 150 verwahrt sich Reckwitz ausdrücklich gegen ein „theologisch[es]“ Verständnis; FS] ergeben“ [347] (Beispiele 348: „Unglücks- und Katastrophenfälle“, „charakterologische Ausstattung des Individuums“, „Herkunftsmilieu“). Im Gegensatz zur „klassische[n] Moderne“ [als deren „Steuerungen“ für „Unverfügbarkeiten“ werden 348 „Medizin“ wie „Versicherungswesen“ genannt – indes muss man die als weiterhin und sogar verstärkt relevant ansehen! FS] werde „[d]as Risikomanagement[…]von sozialen Systemen ans Subjekt delegiert[…] Kulturelle Muster wie Gelassenheit oder gar Demut erscheinen in der Spätmoderne überholt“ [348]. – Als „gesellschaftstyp[ische]“ Enttäuschungsverarbeitungsmuster des spätmodernen Subjekts werden „nur mit äußerster Vorsicht“ des Soziologen genannt „Depression“ („psychisches Symptom, das[…]das Subjekt[…]in einen Zustand der Passivität und Emotionslosigkeit bringt“) und, anmerkungsweise [349 Anm 153], „der Amoklauf: hier richtet sich die Affektion kurzschlussartig nach außen“ [349].

Das letzte Unterkapitelchen wurde relativ detailliert referiert. Weniger deshalb, weil der theologisch imprägnierte Leser sich an der soziologischen Reverenz für „Unverfügbarkeit“ erfreuen würde – das auch. Aber v.a. deswegen, weil der ‚Prophet der performativen Authentizität‘ im Horizont [was für eine terminologische Vereinnahmung des Soziologen, der die 100-jährige „Verstehen/Erklären-Kontroverse“ seines Fachs ‚eingeatmet‘ haben dürfte, auf die Seite der ‚Hermeneutiker?!?] seines Fach-Diskurses den kategorialen Blindheiten seines paradigmatisch gemeinten Vorschlags einige Artikulation gewidmet hat.

Die theologische Lesart von Reckwitz wird sich sinnvoll nicht bei dessen Konzession von ‚unerklärlichen Zwischenfällen‘ aufhalten, die dem Singularisierungs-Erfolg des performativ authentischen Subjekts in die Quere kommen (schon von wegen Bonhoeffers Kritik am Zehren ‚der Theologie‘ von Grenz-Krisen des individuellen Menschseins) – dazu hat schon Hermann Lübbe (Luhmanns eher beiläufige Schreibe von „Religion als Kontingenzbewältigung‘ weiterführend) Bemerkliches gesagt.

Vielmehr ist Reckwitz‘ Artikulation für den Theologen eine ernsthafte Versuchung zur systematischen ‚Retourkutsche‘ des Immer-schon-gewusst-habens:

§  Die auf Selbstgestaltung qua Weltaneignung gebürstete Figur des [nicht nur, aber besonders: spätmodernen] „Subjekts“ ist zunächst theoretisches Konstrukt; ihr wird aber zugetraut, überindividuelle Gesetzmäßigkeiten kognitiv erfassbar zu machen, die sich ‚hinter dem Rücken‘ einzelner Menschen (d.h. unabhängig von deren Selbstbewusstsein) in deren ‚echtem Leben‘ durchsetzen [wie sich im ‚Erklärens‘-Paradigma einer ‚Naturwissenschaft des Sozialen‘ formulieren ließe]. Will sagen: die Triftigkeit jener theoretischen Figur ist auch empirischen Tests ausgesetzt – und der Bewährungsprobe durch die Konkurrenz mit alternativen Konzeptualisierungen erlebbarer Wirklichkeit.

§  Eine dieser Alternativen ist Luthers Grundprinzip des „mere passive“ in seinem Begriff des „Menschen“ das das Modell menschlicher „Kreativität aus Passion“ formulieren lässt [zum Theologie-Technischen vgl. bes. Ingolf Dalferths Mere passive. Die Passivität der Gabe bei Luther, in: ders., Umsonst. Eine Erinnerung an die kreative Passivität des Menschen, Tübingen 2011, 50-91]. Einschlägig ist diese Alternative, obwohl Luther (im Horizont seinesprimavista im Gegensatz zu Reckwitz! – dualistischen Wirklichkeitsverständnisses) jene „mere passive“-Konstitution des Menschen auf der Transzendenz-Seite der Gottesbeziehung verortet (wohl aber sekundäre Wirkungen auf der Immanenz-Seite der ‚Welt des Handelns‘ vorsieht!) und selbst wenn die von Reckwitz gelegentlich als in Mode gekommen beigezogene ‚Glücks‘-Forschung keine Verlinkungen zum von Luther primär gemeinten ewigen Heil vorsieht J

§  Denn Reckwitz ist es, der von „Spannungsfeldern der Lebensführung“ [342] spricht, also von den empirisch identifizierbaren Verkörperungen seiner theoretisch angesonnenen Kategorie des „Subjekts“. Könnte sein, dass die Quelle der reklamierten ‚Spannungen etc‘ in dieser Kategorie des „Subjekts“ steckt: wenn nämlich Träger*innen des aktivismusgeladenen spine „performative Authentizität“ auf Vorkommnisse stoßen, die als unerwünschte Widrigkeiten erlebt werden, mehr noch: von der „sozialkonstruktivistischen Position“ [63] des kategorienbildenden Theoretikers aus als schnöde ‚Gegebenes‘ gar nicht ‚vorgesehen‘ sind. – Wenn die Theorie durch systematische Abblendung des Existenzmodus „Passivität“ mißweisende Annahmen über die ‚Wirklichkeit im Ganzen‘ generiert, muss die einzelweise Affektion mit „Enttäuschungen“ [344f] durchs ‚echte Leben‘ nicht wundern.

 

 

·         „[D]iametral entgegen[…]die Lebensform der neuen Unterklasse“! „Die Polarisierung zwischen neuer Mittel- und Unterklasse betrifft[…]gerade einen Gegensatz seitens der kulturellen Logiken der Lebensführung[…]“ – eine „negative Kulturalisierung [der neuen Unterklasse[…]“, eine „Entwertung, die von außen, aber häufig auch von innen in Form einer Selbstentwertung erfolgt“ [350]. Schon auf der ersten Seite des KapitelsDie Kulturalisierung der Ungleichheitwird dessen Summe zusammengefasst, so dass im Folgenden die nur stichwortartige Benennung von deren Komponenten genügen mag: die „neue Unterklasse“ als „Modernisierungsverlierer“ [ein Beleg von N.Götz schon aus 1997 wird 351 Anm 155 angeführt] gilt Reckwitz als „Kulturalisierungsverlierer“ – ihre Lebensform folge der „Alltagslogik des muddling through“ („Umgang mit permanenten Schwierigkeiten und[…] kurzer Zeithorizont“) – statt „Selbstverwirklichung oder Statusinvestition[…sei dort] Selbstdiziplin“ geboten – eine Überlebenstechnik (der „»Instrumentalitäts-Deal« der Arbeit“: „Mühsal gegen Status“ gelte nicht mehr); „Lebensstil der Konventionalität bereits eine Leistung“ [352ff] – die neue Unterklasse sei nach „Fraktionen“ zu unterscheiden, der „respektablen“ (Lebenspraxis „Durchhalten“) bzw. der „subproletarischen“ (Lebenspraxis „Sichdurchbeißen“ bzw., passiver, „Sichgehenlassen“) [354f] / „Die neue Unterklasse[…]wird als wertlos markiert, und zwar im Blick auf sämtliche Komponenten, die wir im Zusammenhang mit dem Lebensstil der neuen Mittelklasse behandelt haben“; die strategische Deutungsmetapher ist „negatives Abziehbild“; eine argumentative Rolle spielt die schon oben eingeführte Metapher „Paternostereffekt“ / unter Voraussetzung dieser gesellschaftlich dominanten „Entwertung“ [350] benennt Reckwitz „Abwehrstrategien[…]aus den Milieus der Unterklasse“ [361ff]: „Bildungsaufstieg“ („nur um den Preis der vollständigen Loslösung vom Herkunftsmilieu zu haben“; 361 Anm 177 nennt Eribon), „Imagination eines singulären Aufstiegs qua Talent“ (Vorbilder in Popkultur und Spitzensport), tendenziell „illegitime [richtig: illegale FS] Singularität“ durch „besondere Cleverness“, kollektiv „plebejische Authentizitäten/ abschließend skizziert Reckwitz dasTableau der spätmodernen Klassen und ihrer Relationen(im Folgenden tabellarisch umgesetzt):

 

Merkmale

Bemerkungen

1 % Oberklasse, darin:

„exorbitant hohes ökonomisches Kapital“

 

„alte Oberklasse“

·         alteingesessene lokale Unternehmerfamilien

 

·         nouveaux riches

·         Lebensstandardorientierung demonstrativ zurückhaltend weiterführend

·         demonstrativer Luxus-Exzess

„neue Oberklasse“

·         Professionen der globalen Funktionselite

 

 

·         Kreativstars

·         Teilnahme am kuratierten Lebensstil, aber (ökonomisch umfangreicher grundiert) „freier aufspielend“

·         zusätzlich: sehr hohes „soziales Kapital“

1/3 akademische Mittelklasse

[siehe das ganze Buch]

„Verhältnis zur Oberklasse erscheint ambivalent“

1/3 „alte Mittelklasse“

mittleres ökonomisches, tendenziell mittleres kulturelles Kapital

·         Angestellte mit Berufsausbildung

·         Abgesichert tätige Facharbeiter

·         lokale Selbständige

„Position als hegemoniale sozialkulturelle Mitte[…]verloren“

 

Fortsetzung von Statusinvestition und Selbstdisziplin

relativ hohe Sesshaftigkeit

Substanzverlust in beide Richtungen

Teilung in 3 Fraktionen:

·         v.a. in prosperierenden Kleinstädten stabil

·         Bildungs-Strebungen Richtung Akademikerklasse

·         „Abstiegsängste nach unten sowie Ressentiment nach unten und nach oben“

Subtile kulturelle Entwertung:

·         mittlere Bildungsabschlüsse

·         traditionelles Arbeitsethos

·         Geschlechter-Arbeitsteilung

·         Kosmopolitismus vs. Sesshaftigkeit

·         Lebensqualität vs. Lebensstandard

1/3 „neue Unterklasse“

[siehe dieses Kapitel]

·         „alte Mittelklasse[…]Sehnsuchtsort“

·         Aversion gegen „neue Mittelklasse“, auch „die Eliten“

·         mögliche Attraktivität „plebejischer Authentizitäten“

 

Was Reckwitz in diesem (relativ kurzen!) Kapitel vorträgt, wirkt wie ein bloßer Baustein zur Arrondierung des gesellschaftstheoretischen Anspruches seines Buches: feuilletonistisch im Stil, so gut wie ohne quantitative Angaben – eine kategoriale  ‚Modellierung‘ der von ihm so genannten „Unterklasse“, die darauf angelegt ist, die gesellschaftliche ‚Hegemonialität‘ des „singularistischen“ Paradigmas zu bestätigen. Die Einbringung des oben referierten „Tableaus“ an just dieser Stelle des Buches mag als literarische Verlegenheitslösung durchgehen.

Das analytische ‚Portrait‘ der „neuen Unterklasse“ wirkt plausibel, auch sozialphänomenologisch aufmerksam [vgl. 352] – aber nicht solidarisch. Der Leser, u.a. teilnehmender Beobachter des ‚echten Lebens‘ eines im Sinne dieser Analyse ‚einschlägigen‘ erwachsenen Sohnes, fühlt sich, selber in Reckwitz‘ „Tableau“ eigentümlich ortlos, herausgefordert, stellvertretend politischen Protest anzumelden. Indes infiziert die Theorie der „Gesellschaft der Singularitäten“ auch noch derlei Protest-Ambitionen mit dem Zweifel, ob das kulturelle Ausufern der „neuen Mittelklasse“ dafür noch einen ‚klassenübergreifenden‘ Referenzpunkt zulasse: ob nicht womöglich gemeinsam mit der „Logik des Allgemeinen“ auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte auf den gesellschaftsgeschichtlichen Abschreibungsetat geraten schon ist.

Diese Erörterung überschreitet die comments der soziologischen Analyse; Karl Marx fand für diese ‚metabasis eis allo genos‘ in der „Deutschen Ideologie“ den Ausdruck „wirkliche Bewegung“. Was eine „wirkliche Bewegung“ ist, ist nicht theoretisch, ‚auf dem Papier‘, zu entscheiden – ein Praxis-Test ist in Frankreich aktuell massenmedial verfolgbar: Die Massenhaftigkeit sowohl der „gilets jaunes“ als auch von „En marché“ (!!) mutet an wie eine „wirkliche Bewegung“. Ob die öffentliche Präsenz der „neuen Unterklasse“ oder Präsident Macron den (kurzfristig) ‚politisch Kürzeren ziehen‘, erscheint am 23.12.2018 noch unausgemacht. Der coole soziologische Blick lässt gleichwohl prognostizieren: die Differenz der „Zeithorizont[e]“ [351] wird es sein, die den Test zugunsten des mit institutionellen Befugnissen ausgestatteten ‚Elitisten‘ im Präsidentenamt ausgehen lässt. Punkt für Reckwitz – längerfristige Folgen? Sehen wir später.

Ende des ‚politischen‘ Zwischenrufs.

Die theoretisch distinguiertere Anmerkung ist: Entgegen den methodologischen Reserven gegenüber „normative[r] Theorie“ [23] verfolgt Reckwitz eine durchaus ‚normative‘ Linie. Die als ‚richtig‘ defacto zumindest erscheinen lässt das Zeitgemäße (weil gesellschaftsgeschichtlich Zeitgemäße), wie das die von ihm so genannte „neue Mittelklasse“ in ihren Praktiken verkörpert. Dass dagegen Einsprüche denkbar sind, ist trivial. Nur verpasst Reckwitz solchem Diskurs mit einer subtilen Immunisierungsstrategie [siehe 22f!!] ein schwer mobilisierbares positionell-kontroverses design. Zwar will er es sich nach Selbstauskunft nicht „auf dem Hochsitz des distanzierten Beobachters bequem machen“ [23], nimmt aber doch mit dem nur notdürftig verhüllten Gestus der rhetorischen Frage die Position des Überpositionellen ein, der alle zulässigen Alternativ-Sichtweisen („Daher kann es weder um…oder…noch umgekehrt…[gehen]“) schon ‚überholt‘ hat. Bescheidenheit des Theoretikers geht anders (und, positionell angeheizt, ließe sich anfügen: Kritische Theorie der Gesellschaft á jour 2018 ‚geht Rosa‘). Wer Reckwitz‘ von Georg Lukács geborgte Platzanweisung für Kritiker (»Grand Hotel Abgrund«) [23] nicht befolgen mag, muss dann eben „ohne Eleganz eine rhetorisch gestellte Frage regelwidrig[…] bejahen“ (wie das 1963 Habermas mal gegenüber Karl Löwith formuliert hat).

 

·         Kapitel VI soll den „Wandel des Politischen“ thematisieren (ein Muss für einen gesellschaftstheoretischen Entwurf wie den vorliegenden. Es wird sich zeigen, dass der Umfang der kritischen Anmerkungen des Lesers zunimmt). Einleitend die Generalthese „In der Spätmoderne wird die Politik des Allgemeinen mehr und mehr von einer Politik des Besonderen abgelöst“ [371]. Für diese werden als „Form[en] des Regierens“ benannt ein „apertistische[r] und differenzielle[r] Liberalismus“ sowie „Tendenzen“ zu einem „»Kulturessenzialismus« oder »Kulturkommunitarismus«“: Forcierung von „kulturorientierte[r] Gouvernementalität“ einerseits, „Identitätspolitik“ andererseits. „1968, 1979 und 1990 stehen für die schrittweise Erosion der Politik der organisierten Moderne und den Aufstieg des apertistisch-differenziellen Liberalismus, 1979, 1990 und 2001 symbolisieren den Aufstieg des Kulturessenzialismus“ [371-373].

·         Für die „Blütezeit der organisierten Moderne“ („bis in die 1970er Jahre“) wird die Prägung der Politik durch einen „sozialdemokratisch-korporatistischen Konsens“ geltend gemacht (dem auch als „konservative Variante[…]die Politik Adenauers und de Gaulles“ zuzurechnen seien; 374 Anm 2), dessen „pointiertester[…]Ausdruck [das schwedische Volksheim]“ gewesen sei. Demgegenüber sei nun der apertistisch-differenzielle Liberalismus dominant geworden: „Öffnung, Entgrenzung und Deregulierung des Sozialen“ [375]. „Politische[r] Paradigmenwechsel“ und „gesamtgesellschaftliche[r] Strukturwandel“ „flankier[en]“ bzw. „forcier[en]“ sich gegenseitig [376].

Anstelle von „Neoliberalismus“ sei präziser (mit Schumpeter) vom „innovationsorientierten Wettbewerbsstaat“ zu sprechen: der „Markt[…]das effizienteste Anreiz- und Sanktionssystem“; „[a]n die Stelle des Staatsbürgers und sozialen Bürgers[…]der Selbstunternehmer und Konsument getreten“ [377]. Besonders akzentuiert wird „die differenzielle Seite des neuen (Wirtschafts-)Liberalismus“, die sich bis in die „Governance-Strukturen insgesamt“ [378] auswirke, wie sie sich in „Förderung von kultureller Diversität“ [379] manifestieren. Es entstehe „ein heterogenes Feld von policies, die um die Fragen von Nichtdiskriminierung und Lebensqualität kreisen. Auch bezogen darauf, installiert der neue Liberalismus zunächst durchaus ein System des Allgemeinen: das System der Menschenrechte [… - s]eit Ende der 1970er Jahre[…]zu einer einflussreichen politischen Legitimationsstruktur geworden“ [379]. [Einmal abgesehen von dem Anachronismus, die ‚Installation‘ des ‚Systems der Menschenrechte‘ mit dem sog. ‚neuen Liberalismus‘ zu verknüpfen – hierbei scheint sich ein spezifischer bias des Singularisierungstheoretikers durchgesetzt zu haben, der die journalistische Reklamation von „Sichtbarkeit“ des vom mainstream des Allgemeinen zur ‚Ausnahme‘ Marginalisierten für „Legitimation“ zu halten geneigt ist: die Interpretation der Menschenrechte als allgemeine Infrastruktur für die Förderung von Besonderungen wirft doch Fragen auf: Den LGBTQs – die weiter unten erwähnten Inuit, Sorben, Aborigines etcetc sind ‚mitgemeint‘ L – soll’s egalitär gut gehen dürfen; aber die sozialsystemische Deklassierung von „Abgehängten“ darf im Toten Winkel der „Gesellschaft der Singularitäten“ bleiben? „Authentizitäts“-Aspirationen werden als im Prinzip selbst-berechtigt gefördert; aber der faktische Ausfall von Partizipation vieler ist als „Wettbewerbs“-Ergebnis in Kauf zu nehmen?] – Eingeführt werden, als „politischer Wert“, die Termini „diversity“ bzw., als „Symbiose von Eigenwerthaftigkeit und Zweckrationalität“ „diversity management“ [380f].

·         Schon 379 angekündigt, wendet sich der Gedankengang der „Politik der Städte“ zu:   

o   Neben „Bedeutungsverlust nationaler Regulierung“ und „Aufschwung supranationaler Steuerungsinstanzen“ sei von „Bedeutungsgewinn [von] Instanzen unterhalb der nationalen Ebene[…], Städten und Regionen“ zu reden – Stichwort „Glokalisierung“ [382f]. Jene „urbane Subpolitik“, aufzufassen als „Steuerung zweiter Ordnung von sozialen Prozessen“, sei „Kern der neuen liberalen Gouvernementalität“ [383]. Der spätmoderne-typischen Formung von „Großstädte[n] und Metropolen [zu] besondere[n] Orte[n]“ [384] liege als Muster die „vernakuläre Kulturalisierung der Stadt“ [385] zugrunde, eine „Umdeklinierung des urbanen Raums von der funktionalen Nutzungssphäre in die kulturelle Sphäre der emotional grundierten Wertzuschreibung“ [386]. Entscheidend sei. „Dass die creative economy und die Stadtpolitik bei diesem Städtewettbewerb mittun und ihn vorantreiben, setzt voraus, dass bereits zuvor Subjekte und Milieus ihrerseits begonnen haben, Lebensorte unter dem Gesichtspunkt der Attraktivität beziehungsweise Unattraktivität zu betrachten und sie über den Weg des abwägenden Vergleichs in eine Konkurrenzsituation zu bringen“ [387; Hervorhebung FS]. Denn „[f]ür die neue Mittelklasse [sei] der Wohn- und Lebensort zu einem Objekt der[…]Wahl[…]geworden“, für die „funktionale Aspekte [immer auch] eine Rolle [spielen]“, „ebenso zentral“ aber die „Eigenlogik ihrer [sc. der Stadt] Atmosphäre“ [387]. [Auffällig ist sowohl die Focussierung dieses Abschnitts auf das Motiv der ‚Wahl‘ (das schon Becks individualisierungstheoretischen Vorschlag regiert) als auch die Reckwitz-typische Gewichtung der ‚Wahl‘-Kriterien nach ‚Logik des Allgemeinen‘ (= Infrastruktur) bzw. ‚Besonderen‘ (orientiert am ‚Authentizitäts‘-Ideal). Erheblicher ist allerdings die im Text unbeantwortet bleibende politik-soziologische Frage: wie eigentlich sollen Funktion und Leistung (zugegeben: Reckwitz-externe, nämlich Luhmannsche Maßstäbe) von so was wie „Politik“ (im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Subsystemen) bestimmt werden können, wenn deren spätmodernes Hauptmerkmal die konstitutive Nachträglichkeit gegenüber sozialen Singularisierungsprozessen ist?]

o   „Stadtpolitik betreibt[…]Singularitätsmanagement[…]: Eigenkomplexität nach innen, Andersheit nach außen, zusätzlich möglichst noch Rarität“ [388f]“. Deren „Spannungsfelder“ [Achtung, Reckwitz‘ Signalbegriff für ‚empirische‘ Falsifikationskrisen seiner General-Hypothese] werden traktiert: „Sichtbarkeitsmarkt“ (Passanten, Investoren) vs. „Lebensqualität“ (gegenwärtige Bewohner); Singularisierung vs. Standardisierung „des Urbanen“. Reckwitz rettet sich quasi-salomonisch: „die Globalisierung des Städtewettbewerbs [führt…] zur Etablierung einer dynamischen Bewertungs- und Produktionssphäre von Eigenlogiken, in der Singularisierung und Entsingularisierung/Standardisierung gleichermaßen präsent sind“ [392] – Beispiele folgen. Nachgerade entlarvend der – kontextspezifisch gemeinte, aber verallgemeinerungsfähige! – Schluss-Satz „Die staatliche Politik steht dann vor der Herausforderung, auf die unerwünschten Folgen ihrer liberalen Gouvernementalität zu reagieren“ [393]. Als wenn „unerwünschte Folgen“ nicht der Normalfall von „Politik“ wären – ein analytisch hilfloseres Resumé geht kaum.

·         Ein weiteres Unterkapitel gilt dem „Aufstieg des Kulturessenzialismus“ [394; Hervorhebung FS]. Der verkörpere sich sozial in einem Plural von „Kulturkommunitarismen“, die kategorial als „Neogemeinschaften“ (wahlweise „Communities“) begriffen werden sollen. Ihre Merkmale: „der Gemeinschaftlichkeit der eigenen Gruppe [wird] ein Primat zu[geschrieben / die anderen Träger des Sozialen […] erlangen ihre Bedeutung[…]immer erst in Relation zur Community / das Individuum [wird] nicht als besondere Einheit adressiert“ [395] / kein „rationaler Zweckverband“, sondern von zugeschriebenem „intrinsische[n] Eigenwert“, der „als Träger von Authentizität wertgeschätzt [wird]“ und deren „Kern oder Ursprung als Essenz unhinterfragbar [scheint]“ / „eindeutig geregelte Mitgliedschaft“ mit „kultureller und sozialer Homogenisierung“ / abgestuft rigorose Innen-Außen-Abgrenzung. Letztere („kulturessenzialistische Valorisierung“) „unterscheide sich signifikant vom Valorisierungsregime der Hyperkultur“ – erkennbar an den Haltungen gegenüber dem ‚Außen‘: Indifferenz (die in ‚Unsichtbarkeit‘ bannt) bzw. affektgeladene Negativität (die „beständig sichtbar[…]und entvalorisiert [macht]“) [397]. Als „Ebenen der Identitätsstiftung [nach innen]“ werden „Geschichte, Raum und Ethik“ benannt [397f].

Das Spezifikum spätmoderner Neogemeinschaften gegenüber „traditionalen Gemeinschaften“: sie „müssen erst neu institutionalisiert[…]werden, und die Subjekte entscheiden sich dazu[…]“ – dabei sind sie gezeichnet vom „Paradox“, „soziale Konstruktionen“ zu sein, „die aber ihre eigene Kontingenz invisibilisieren müssen“ [399] – Es folgt ein ‚historischer Schlenker‘ zur Emergenz „postromantische[r] Kulturessenzialismen“, dem sich eine Taxonomie weiterer „Merkmale“ höchst unterschiedlicher Valenz anschließt. Eine etwas ‚ausgefranste‘ Passage.

·         Es schließen sich mehrere Unterkapitelchen zu „Spielarten“ [401] jener Neogemeinschaften an; dabei tritt die Verwendung des Terminus „Kulturessenzialismus“ auffällig zurück.

o  Ethnische Gemeinschaften“: Hier sortiert Reckwitz Phänomene, die er historisch zu den Typen „[schwarze] Bürgerrechtsbewegungen der 1970er Jahre“ und „intensivierten Migrationsbewegungen vom globalisierten Süden“ bündelt und soziologisch in die Kategorien „Selbst- und Fremdkulturalisierung“ fasst; ein gleichzeitiger Rückgriff auf eine hegelianisierende Trichotomie („Communities an sich / […]an und für sich / […]für andere“) [401] wirkt fremdkörperhaft äußerlich. Der Status namentlich „ethnische[r] Migrationskollektive“ als ‚Neogemeinschaften‘ gilt für eine „empirisch offene Frage“ [403], da „Gegenstand und Ergebnis von prinzipiell unberechenbaren kulturellen Aushandlungsprozessen“: zur Erfassung der Phänomene werden „Homogenisierungspraktiken innerhalb der Communities“ [403] und „Fremdkulturalisierungen“ durch „[p]olitische und staatliche, mediale und wissenschaftliche Instanzen, Institutionen und Diskurse“ (in den Versionen eines „Mulitikulturalismus“ einerseits, „Neorassismus“ andererseits) geltend gemacht [404].

o  Kulturnationalismus“: Den Unterschied zu „Ethnizitäten“ mache die Bindung a) an „umgrenztes räumliches Territorium“ und b) „an einen Nationalstaat [oder der] Anspruch auf Selbstverwaltung innerhalb eines Staates“ [406]. Der „sozialkulturellen Form“ der „Nation“ sei von ihrer Erfindung um 1800 weg „eine Doppelstruktur von Universalisierung und Singularisierung“ eigen; das wirke fort in der „spätmoderne[n] Renaissance [in] Form eines Kulturnationalismus“ [406]. Dementsprechend unterschiedlich eingeschätzt werden theoretisch die Valenzen eines „regionalen Kulturnationalismus“ (defacto durchweg im globalen ‚Westen‘, vgl. 407 Anm 74), der u.U. als ‚kulturelle Ressource‘ sich in singularistische Hyperkultur einbetten lassee, bzw. der „nationalstaatlich verankerten“ Variante (defacto im globalen ‚Süden‘), die zumeist im ‚apertistisch-differenziellen Liberalismus‘ ihren Gegner sehe.

o  Religiöser Fundamentalismus“: Zunächst wird die Interpretation des „Religiöse[n]“ (sofern nicht ‚amtskirchlich‘ fixiert) und seiner „Anziehungskraft“ als „Bestandteil der generellen Kulturalisierung des Sozialen in der Spätmoderne“ und „Komponente eines singularisierten Lebensstils“ [410f] rekapituliert. Gleichzeitig werden aber „fundamentalistische Communities“ als „wirkmächtige Knotenpunkte eines Kulturessenzialismus“ dort eingeordnet: entsprechend leistungsfähig mit ihrem „Anspruch auf religiöse Authentizität“ und zugleich schärfster Innen/Außen-Abgrenzung (Webers Typus „weltverneinende Erlösungsreligionen“ wird zustimmend zitiert; 411) – „als Gegenbewegungen nicht nur zur durchrationalisierten Kultur der (organisierten) Moderne, sondern mehr noch als Gegenbewegung zur Hyperkultur der Spätmoderne selbst“. Oder, soziologisch weiter spezifizierend: „als Mittel“ der „in die kulturelle oder soziale Defensive [Geratenen]“ oder „als kritische Antwort auf die Entäuschungserfahrungen, die der singularistische Lebensstil[…]produziert“ [412]. Betont wird abschließend die singularisierende Valenz des „religiösen Exzeptionalismus“ [413] – und die Indirektheit von deren Wirkung.

o  Rechtspopulismus“: Zurückgegriffen wird auf die »Cleavage«-Theorie von Lipset/Rokkan aus 1967: sie lasse formale Kontinuität über den „Paradigmenwechsel“ zur Spätmoderne (Enden des „korporatistisch-sozialdemokratischen Konsens[es]“) in die konstitutive innere Spannung des „apertistisch-differenziellen Liberalismus“ bis hin zur rechtspopulistischen „Reaktion auf die entfaltete Hegemonie des neuen Liberalismus“ erkennen. Die vom „Populismus“ – anmerkungsweise wird auch „Linkspopulismus“ gestreift [415 Anm 96] – bestimmte „Form des Politischen“ [414] „beanspruche, den Volkswillen unmittelbar in politische Praxis umzusetzen“ (entgegen dem „demokratietheoretischen Modell, das[…]von Pluralität und Repräsentation ausgeht“; 415) und unterstelle „[H]omogen[ität]“ des „Volk[s]“ – und zwar im Falle des Rechtspopulismus eine „kulturelle“: „natürlichen Common Sense, allgemein anerkannte Moralvorstellungen der ‚anständigen Leute‘ und dergleichen“ [415]. Insofern ein Ausdruck von „Kulturessenzialismus“, der mit scharf „polarisierenden Valorisierungen und Entwertungen“ arbeite; „bevorzugte Zielscheiben der Abgrenzung sind hier Kosmopoliten und Migranten“ [416] bzw., abstrakter gesprochen, „die Hybridisierung der Kultur sowie[…]die universalistischen Mechanismen, die quer zu den Nationalstaaten stehen“ [417].

·         Eine auf Resumé angelegtes Kapitel beginnt mit der These: „Die Kulturkommunitaristen bewegen sich im Innern der globalen Struktur der Gesellschaft der Singularitäten – und opponieren häufig (aber nicht zwangsläufig) gegen deren dominante Hyperkultur. Es ergeben sich hier Kulturkonflikte, welche die Form von Konflikten um die Kultur annehmen“ [418]. Es folgt eine idealtypisierte Kontrastierung des „Modell[s] der Kombinierbarkeit und Hybridisierbarkeit der Kultur durch das sich selbst verwirklichende Individuum“ mit dem, „was die Essenzialisten als Kulturprogramm beanspruchen, nämlich die homogene Gemeinschaft, in die sich das Individuum als Glied einfügt“ [418 – Kursivierung FS]]. Einspruch, Euer Ehren! Und auch die hier zugute gehaltene hermeneutische Form des ‚Idealtypus‘ (empirische Daten verallgemeinernd wie sie ist) in Ehren. Aber derart Grobschlächtigkeit unterbietet skandalös das Reflexionsniveau der schon vor über 30 Jahren geführten „Kommunitarismus“-Debatte (vgl. nur Axel Honneths Sammelband, wie 393 Anm 52 zitiert – die dortige fachdisziplinäre reservatio mentalis hilft nicht aus…) und auch das des hier vorgelegten soziologischen Entwurfs. Darüber hinaus werden zwei globale Interpretationsvorschläge für diesen – stillschweigend reïfizierten – Kontrast vorgelegt: 1) Die „kulturessenzialistischen Bewegungen“ seien zu verstehen als „praktische Kulturkritik an deren [sc. der Hyperkultur; FS] Lebensstil[…] Die Kulturkommunitaristen versprechen ‚unverbrüchliche‘ kollektive Identitäten, welche die mobile Hyperkultur so nicht anzubieten vermag“; 2) sie seien zu „[deuten] als eine Mobilisierung der Peripherien gegen das Zentrum“ [419]

Indes sei auch von „[M]ehrdeutig[keit]“ dieses Verhältnisses zu reden: Zwar habe es „[z]unächst] die Möglichkeit einer Symbiose gegeben“, im „Modell des liberalen Multikulturalismus“, und unter der Voraussetzung, „dass sich die kulturellen Communities in den allgemeinen rechtlich-kulturellen Rahmen liberaler Politik einfügen“. Aber „seit der Jahrtausendwende“ habe sich diese „Koexistenz[…]international größtenteils in einen Antagonismus verwandelt“ [420].

Aber damit nicht genug. „Tatsächlich ist jedes politische Paradigma zeitlich begrenzt, es antwortet auf eine bestimmte Problemlage, mit der veränderten gesellschaftlichen Situation ist seine Fähigkeit zur Problemlösung nach einer gewissen Zeit jedoch erschöpft. Es ist daher nicht verwunderlich, dass innerhalb des apertistischen Liberalismus […] Tendenzen [auch] der Selbstkritik zu beobachten sind, und zwar sowohl in seinem linksliberalen wie seinem wirtschaftsliberalen Strang“ [421]. Der Leser könnte hierin eine behutsam eingeführte Selbstrelativierung erkennen (wie sie wissenschaftlichen Abhandlungen allemal wohl ansteht) – angesichts des weithin prophetischen Gestus, mit dem die General-Hypothese des Buches vorgetragen wurde, und der Platzierung am Ende des politik-soziologischen (und letzten!) Kapitels scheint eine drastischere Metapher angebracht: diese unscheinbar eingeschlichenen Sätze bedeuten den Versuch einer theoretisch-argumentativen ‚Vollbremsung auf den letzten Metern‘! Es gehe einerseits „um die Aufgabe, wie das Gemeinsame und Kollektive als Bezugspunkt der Kultur, das so zentral für den Kulturkommunitarismus ist, nicht diesem allein überlassen wird“ [422]. Und anderseits darum, „wie dieser [sc. der Liberalismus] nicht nur dem Kulturessenzialismus in seinen verschiedenen Spielarten unmittelbar in der politischen Auseinandersetzung begegnet, sondern auch und gerade wie er auf die sozialen und kulturellen Entwertungsprozesse antwortet, die dessen Entstehung begünstigt haben und weiter begünstigen“ [422f]. Was man (auch ohne die positionellen Konnotationen dieses Vorsatzes teilen zu müssen), auch schon länger hätte wissen und sagen können.

·         Eher anhangsweise vorgetragen werden Überlegungen zu den besonders in den letzten Jahrzehnten auffällig gewordenen (bzw. massenmedial: gemachten) Phänomenen „Terror und Amok“; sie sollen sichtlich die Erschließungskraft der singularistischen Kategorien – auch am Extremfall! – nachweisen – die Formulierung der Überschrift enthält die Deutung: „Zelebrierung des singulären Aktes“.

Beide Phänomenen-Typen werden unter Hintanstellung der Differenz in den fallweisen Motivationen als Akte „demonstrativer Gewalt“ zusammengefasst, „die zum Schrecken des Publikums den sozialen Ausnahmezustand inszenieren“. Als benchmark für den ‚Normalzustand‘ gilt – unter Bezugnahme auf Elias‘ monumentale Moderne-Analyse – das staatliche Monopol legitimer Gewaltausübung. Dies wird verbunden mit der [bei Elias erst angelegten! FS] normativen Unterstellung, die „spätmoderne Kultur“ mit ihrer „Deregulierung des Verhaltens“ setze „eine umso stärkere Internalisierung von Gewalt- und Aggressionslosigkeit seitens der Subjekte voraus“ [424]. Bemerkenswert die schöne Formel „Betriebsgeheimnis der Spätmoderne“ [425].

„Diese Gewaltdemonstrationen[…]machen sich die Mechanismen des medial gestützten kulturell-affektiven Sichtbarkeitsmarktes für Singularitäten zunutze und wären ohne sie in dieser Form gar nicht denkbar. Dabei spielen drei Instanzen eine Rolle: die Täter, die Opfer und das Publikum[…]. Die Gewalttaten von Terror und Amok lassen sich insofern als singuläre Akte verstehen, als sie einzigartig sind und die pazifizierte Ordnung des Allgemeinen durchbrechen“ [425]. Das „Publikum“ ist es, das „singularisiert“, und zwar nach „Intensität des Affektes“; die Täter inszenieren sich als „selbstbewusste negative Singularitäten[…], zelebrieren ihre Abweichung“ (nämlich von der „Positivkultur der Affekte“) [426]. „Die Gewaltdemonstrationen zirkulieren[…]in der Sphäre[…]der Wertzuschreibung“, wobei die Täter darauf setzen können, dass nichts so sehr wie der Gewalt „in der Kultur der Spätmoderne ein dezidiert negativer Wert zugeschrieben wird“ [427]. Damit erlangen die „Täter selbst [Singularitätsstatus…]. Die bisher Übersehenen zwingen dazu, dass man den Blick auf sie richtet[…], die Täter rekrutieren sich aus dem Kreis der soziokulturellen ‚Verlierer‘ dieser Gesellschaft“ [427f].“ [Erwähnenswert, dass von den 425 aufgezählten „drei Instanzen“ der des „Opfers“ – nicht ‚theoriefähig‘? – keine noch so kurze Erörterung gewidmet wird. Allenfalls – und eben ‚täter’bezüglich – in der beiläufigen Bemerkung, „Gewalt [verspreche], sie [sc. die Täter] vom Opfer in den negativen Helden zu verwandeln“ [428]….]

 

 

Reckwitz ist sichtlich interessiert, die journalistisch und wissenschaftlich ‚greifbar‘ gemachte Vielfalt der Phänomene des „Politischen“ – und sei’s in soziologischer Typisierung – zu berücksichtigen; der (nur schwach reflektierte, aber insoweit auch unschädliche) unterschwellige Rückgriff auf alltagsweltliche labels wie „linksliberal“ belegt das, bremst aber auch die soziologische Reflexion. Die argumentative Umsetzung des Hauptinteresses, auch die Phänomene des „Kulturessenzialismus“ als von der dominanten Hyperkultur veranlasst und als deren internes Begleitmoment zu deuten, überzeugt mal mehr (religiöser Fundamentalismus, Terror und Amok), mal weniger (Ethnizismen, Kulturnationalismen).

Die singularisierungstheoretischen, unter dem „sozialkonstruktivistischen“ [63] Paradigma entwickelten Kategorienbildungen geraten immer wieder an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit: immer wo mit Rücksicht auf empirisch nicht-Ignorierbares zusätzliche Bestimmungen unelegant eingeflickt werden müssen (z.B. bei den „Neogemeinschaften“ [394-400, namentlich 400]; den „ethnischen Migrationskollektiven“ [403-405]; der Ambivalenz in der konzeptionellen Zuordnung des „regionalen Kulturnationalismus“ zum „Kulturkosmopolitismus“ [407]; darüber hinaus fällt auf, wie viele Fußnoten, im Vorherigen buch-untypisch, in Kapitel VI Schlupflöcher Optionen für ‚text-mainstream‘-alternative Hypothesen offenhalten sollen…) Das mag der Volatilität und Plastizität „politischer“ Emergenzen zuzuschreiben sein – die gesellschaftlichen Subsysteme „Politik“ und „Wissenschaft“ operieren unter verschiedenen Bedingungen, namentlich Zeithorizonten.

Den Verdacht ‚Grenze ihrer Leistungsfähigkeit‘ zieht sogar die ‚Dachmarke‘ „Kulturessenzialismus“ auf sich; dieser, neologistisch genug gelabelt, wird ja (erst!) in diesem politik-soziologischen Kapitel zum Gegenbild der als empirie-tüchtiger hantierten singularitätstheoretischen Konstruktionen projiziert. Dessen vielfache Auffächerung – Soziologen sprechen dann gerne von Binnendifferenzierung J – steht jedenfalls in Spannung zu der zielstrebig inszenierten, mitschwebenden ‚Einfach’heits-Anmutung des mit „…essenz…“ gebildeten Terminus. – Sachlich erheblicher noch ist die Auffälligkeit eines Satzes wie „Die Kulturkommunitaristen bewegen sich im Innern der globalen Struktur der Gesellschaft der Singularitäten“ [418]. Er belegt, wie autopersuasiv 400 Seiten auch einen als Sozialkonstruktivisten firmierenden Autor ins Abseits der Reïfizierung seiner Konstrukte drängen können – als wenn es die „Kulturkommunitaristen“ oder die „Struktur der Gesellschaft der Singularitäten“ ‚gäbe‘…. Mit einer „zauberlehrling“-artigen Ahnung des Autors eben davon mag zusammenhängen, was oben betr. 421 den Leser zum Zwischenruf ‚Vollbremsung auf den letzten Metern!‘ provoziert hat: dass der Autor die Wirkungen der „Geister, die er rief“ – „Wehe, wehe! Hab ich doch das Wort vergessen!“ – ‚im echten Leben‘ auf der eingeschlagenen Linie nicht mehr („Soll das ganze Haus ersaufen?“) theoretisch einhüten kann…

 

·         Es kommt zum „Schluß: Die Krise des Allgemeinen?“ [429 und ff], dem literarischen Ort, Große Linien (die sich im faltenreichen Gewebe des Bisherigen verborgen haben) markant nachzuzeichnen und u.U. Weiterführendes anzudeuten. Hervorgehoben wird als „das zentrale Problem der modernen Gesellschaft“ die „Relation zwischen einer sozialen Logik des Allgemeinen und einer des Besonderen“ mit besonderem Blick aus die „Spätmoderne“, die „begonnen [habe], die zuvor sekundäre Logik der Singularisierung[…]zu einer breitflächig strukturbildenden Kraft zu erheben“ [430]. Der „Bruch von der industriellen Moderne zur Gesellschaft der Singularitäten [habe] einen grundsätzlichen Effekt: er bringt[…]das normative Ideal eines gesellschaftlichen Fortschritts – das ‚Projekt der Moderne‘ [– ins Wanken]“ [431]. [Mit einer gewissen Mühe lassen sich die Formulierung „begonnen“ und die Rede vom „Bruch“ auf den Reim des Ausdrucks einer einheitlichen ‚Idee‘ vom gesellschaftsgeschichtlichen Moment bringen – das Schillernde der Sprechweise deutet mindestens ebenso auf eine ‚letzte‘ Unschlüssigkeit des Autors hin. Wir werden sehen.]

1) „[D]ie ‚große Erzählung‘ [sei] in mancher Hinsicht von den ‚kleinen Erzählungen‘ des (privaten) Erfolgs und des (privaten) guten Lebens abgelöst worden.“ 2) „[D]ie Zeitstruktur der spätmodernen Gesellschaft [werde von] der systematischen Zukunftsbearbeitung [‚zurückgebaut‘ auf] ein radikales Regime des Neuen, das zugleich momentanistisch[…]sich[…]an der Affektivität des Jetzt [orientiert].“ 3) „[Offenbar könne] die Frage, ob die Spätmoderne[…]einen gesellschaftlichen Fortschritt bedeutet, […]gar nicht mehr allgemeingültig beantwortet werden“ [431]. – Dies lasse „die grundsätzlichen Krisenmomente der Spätmoderne sichtbar [werden] – dreie werden kategorial „identifizier[t]“ [432; Hervorhebung FS] [Sie werden dreimal nacheinander durchgegangen: im folgenden Exzerpt a) als Rekapitulation der obigen Deskriptionen, b) unter Konzentration aus die problematischen Spannungsmomente, c) im Blick auf Möglichkeiten der „Krisen“-Bewaltigung]:

1a)Krise der Anerkennung“: Hier wird auf die „systematisch begründete soziale Schere zwischen den Hochqualifizierten[…]und den Geringqualifizierten“ [432] hingewiesen. Dass die „soziale Anerkennung sehr ungleich [verteilt]“ sei bzw. werde, ergebe sich aus der „paradoxen Kombination von radikaler Meritokratie und deren Destabilisierung“ [432f]. Erinnert wird an den kulturell polarisierenden „Paternostereffekt“ [433]. 2a)Krise der Selbstverwirklichung“: Der singularistische Lebensstil „erweis[e] sich[…]auch als systematischer Generator von Enttäuschungen[…], Quelle von Defiziterfahrungen“; der „Mangel an kulturellen Ressourcen, um mit Unverfügbarkeiten, Enttäuschungen und negativen Affekten umzugehen“ trage dazu bei [434]. 3a)Krise des Politischen“: Ernüchternd festgestellt wird,  „[d]as politische Feld ha[be] seit dem Ende der industriell-organisierten Moderne an gesamtgesellschaftlichen Steuerungsmöglichkeiten verloren“, es habe „ein Rückbau staatlicher Grundfunktionen stattgefunden“ [434f].

Jetzt wird weiter generalisiert. Alle drei Krisen ließen sich als „Ausformungen einer Krise des Allgemeinen interpretieren“; in derart erneuerter „Perspektive auf die klassische Moderne [könne] man nun in dieser Ausrichtung am Allgemeinen der Vergangenheit auch das sehen, was ein Gewinn war“ [also erst einmal die Verluste…!]. 1b)Anerkennungskrise“: an die Stelle „umfassender sozialer Inklusion [in einer ‚Gesellschaft der Gleichen‘“ [435] trete „[die Wertschätzung der] über den Markterfolg belohnten (und möglicherweise sogar kulturell bewunderte[n]) Performanz“ [436]. 2b)Krise der Selbstverwirklichung“: „Die beruhigende (aber auch einschränkende) Verbindlichkeit der allgemeingültigen Singularitäten [?? ein terminologischer lapsus? richtiger wohl ‚Strukturen‘; FS] der Kultur wird durch die mobile und daher unberechenbare Kuratierung der Hyperkultur durch das Individuum ersetzt“. 3b)Krise der Öffentlichkeit und des Staates“: Die Annahmen einer „Steuerungskraft für die gesamte Gesellschaftsentwicklung“ und der „sozialintegrativen Funktion [von Massenmeiden und Volksparteien]“ verlieren an „Parzellierung“ („Communities“) und Aufkommen der „Partikularismen des Kulturessenzialismus“ an empirischer Triftigkeit [436] [die Begründungen zu 3b) bleiben vergleichsweise vage].

Eingeschoben – das machen Soziologen in Reverenz vor M.Webers (diminutiv so genannter) „Zwischenbetrachtung“ in dessen „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ gerne so – folgt eine konzeptionell ganz grundsätzliche Passage: „Die Krise des Allgemeinen[…]betrifft[…]nicht die formale Rationalisierung in ihren genannten Dimensionen der Standardisierung, Formalisierung und Generalisierung“, wie sie „als unersetzbare Infrastruktur [weiterwirken]“ – „sondern[…] um das sozial, kulturell und politisch gemeinsam Geteilte: um gemeinsame, reziproke Anerkennungsformen, gemeinsame Systeme des kulturell Wertvollen sowie gesamtgesellschaftliche Kommunikationsformen und normative Rahmungen“ [436f] [letztere Neu-Bestimmungen atmen – in ihrer so im Buch bisher nicht bemerklichen Diktion erblüffend genug! – den Geist des mittleren Habermas ebenso wie die unmittelbar anschließende These „Krisen in der Geschichte der Moderne [sind] nichts Außergewöhnliches“ [437], mit der J.Habermas‘ „Legitimationskrisen im Spätkapitalismus“, Frankfurt 1973, einsetzt]. Im Blick auf die Wahrnehmung der „Krise des Allgemeinen in der Spätmoderne“ erwägt Reckwitz die – dito geschichtsphilosophisch angehauchte – Diagnose „eine Art kulturellen Phantomschmerz[es]“; denn „[d]ie normativen Kriterien der klassischen Moderne wirken rudimentär weiter, obwohl die gesellschaftliche Realität längst über sie hinweggegangen [sei]“, und es stelle sich die „Frage, ob die Gesellschaft der Singularitäten nach ganz anderen und neuen normativen Maßstäben verlangt, so dass aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert stammende Kriterien von Fortschritt, Gerechtigkeit und Glück gar nicht mehr anwendbar scheinen“ [437] [mit dieser „Frage“ und der „so dass…“-Folgerung beginnt – das im folgenden Zitat fallende „definitiv“ klingt noch ‚verdächtig‘ J Reckwitz den Anflug einer ‚Infektion‘ durchs „kritisch-theoretische“ Motiv „unabgegoltene Verheißungen der Aufklärung“ wieder abzuschütteln]. Ein „Zurück in die industrielle Moderne [etc. sei] definitiv versperrt“ [437], es könne nur darum gehen, „welche Gestalt die Problematisierung der Arbeit am Allgemeinen innerhalb der Gesellschaft der Singularitäten gegenwärtig annimmt und künftig annehmen könnte“ [438] [erinnert sei, auch für’s Folgende, an den schon weiter oben geäußerten Reïfizierungsverdacht].

1c)Krise der Anerkennung“: Angesichts der „sozial-kulturellen Polarisierungen“ stelle sich zum einen „[p]olitisch[…]die Frage einer staatlichen Regulierung der übermäßigen Ausschläge der Winner-take-all-Märkte ebenso wie die eines angemessenen sozialen Status für nichtakademische Tätigkeiten…“ sowie zum anderen die „kulturelle Frage der Wertzuschreibung“, die dem „Verständnis von Arbeit und Arbeitswert, von Würde, Anerkennung und der gesellschaftlichen Notwendigkeit jeder Arbeit“ gelte. Indes „entzieh[e] sich der Regulierung[, welche Arbeit, welcher Arbeitssubjekt und auch welcher Lebensstil attraktiv erscheinen]. Die Polarisierung[…]erg[ebe] sich aber in erheblichem Maße aus dieser so wahrgenommenen kulturellen Differenz“[…]eine Ökonomie der Singularitäten und eine Kultur der Attraktivität unterlaufen hier offenbar beständig die Gerechtigkeitsmaßstäbe der industriellen und bürgerlichen Moderne“ [438f].

2c)Krise der Selbstverwirklichung“: Gemeint ist die „Desillusionierung der Utopie des persönlichen Glücks im Rahmen des Ideals der Selbstverwirklichung“, die sich „immer an einem System des verpflichtenden kulturellen Allgemeinen[…]abgearbeitet [habe]“. Nach dem „[V]erschwunden[sein dieses Systems selbst…] ließen sich [gegenwärtig] zwei gegenläufige Strategien“ der Antwort „finden“: die „der radikalisierten Singularisierung“ und die „der Selbstbegrenzung“ [439]. Erstere [dem Leser fällt Watzlawicks paradoxe Empfehlung „Mehr von demselben!“ aus dessen „Anleitung zum Unglücklichsein“ – ein sub specie Reckwitz‘ unglücklich J anachronistisch á la ‚Allgemeines‘ formulierter Buchtitel! – ein] ziele auf Demontage der in der Spätmoderne noch verbliebenen ‚mehr oder weniger subtilen Diskriminierungsstrukturen“; die zweite, die (in therapeutischem Kontext etabliert) die „psychischen ‚Grenzen des Wachstums“ geltend machen wolle, „[trete indes] gegen eine „mächtige, medial präsente Kultur des Attraktiven, des Gelingens und der Befriedigung an“.

3c)Krise des Politischen im engeren Sinne“: Sie „provozier[e] neue Debatten und Strategien“, die sich der „Frage“ zuordnen lassen, „wie eine zumindest provisorische ‚Rekonstitution des Allgemeinen‘ innerhalb einer Gesellschaft der Singularitäten möglich ist“. „Virulent [sei] zunächst[…]die Frage nach einer Rekonstitution allgemeiner Öffentlichkeit[…], in denen Subjekte aus den unterschiedlichen Klassen und Milieus aufeinandertreffen“ [440; Kursivierung FS] [eine vage Schreibe, angesichts derer der Leser sein inneres Beispiel-Repertoire durchmustert: sog. Bürgerbeteiligungsverfahren gelegentlich öffentlicher oder öffentlichkeitsrelevanter privater Infrastruktur-Projekte? Sog. Runde – oder nach Wirkungslosigkeitserfahrungen dieses subpolitischen Typus auch ‚Eckige…‘ genannte – Tische angesichts skandalisierten institutionellen [Nicht-]Agierens? Die irische Convention on the Constitution 2013-2015?] „Ein zweiter Aspekt [seien] die Versuche neuer sozialer Bewegungen, an Formen einer Rekonstitution des gemeinsam Geteilten jenseits von Markt, Staat und Neogemeinschaften zu arbeiten“ [440; Kursivierung FS]. Schließlich gehe es auch um „jenen Problemkomplex, der unter der Überschrift „kulturelle Integration“ verhandelt wird und der über die Konsequenzen von Migrationsprozessen weit hinausreicht“ [441] [der mit cross-cultural communication vertraute Missionswissenschaftler Theo Sundermeier setzte schon 1986 auf „Konvivenz als Grundstruktur ökumenischer Existenz“ / Filme wie „Monsieur Claude und seine Töchter“ mögen motiv-auflockernd wirken, aber sie verharmlosen den Nachhaltigkeitsfaktor individualbiografischer Zeit / die frühneuzeitliche Einwanderung der Hugenotten nach Nordhessen mag zwar einem anderen „Beschleunigungs“-Faktor unterlegen haben (nachlesbar bei Rosa) als die von Reckwitz diagnostizierte Spätmoderne – aber dass es laut kulturellem Gedächtnis  fünf Generationen bedurfte, bis allfällige inter-individuelle Konflikte gesellschaftsgeschichtlich auf ‚normal-nachbarschaftliches Format‘ heruntergedimmt waren, mag gleichwohl ceteris paribus ein Anhaltspunkt für die Einschätzung von spätmodernem „doing universality“ [441] sein].

 

Offenkundig neigt der ‚politische‘ Reckwitz im Blick auf die „Arbeit am Allgemeinen innerhalb der Gesellschaft der Singularitäten“ mehr deren „Problematisierung“ [438] zu denn der Ermunterung, Chancen dazu zu verfolgen. Eine letzte zeichnet er als „regulativen Liberalismus“ aus, derbeides[…]regulieren“ können müsse: „das Soziale mit Blick auf die Fragen sozialer Ungleichheit sowie des Arbeitsmarktes und das Kulturelle mit Blick auf die Sicherung allgemeiner kultureller Güter und Normen“ [441]. Aber der singularistische Scheinwerfer bleibt angeschaltet. Was unter den Umständen der Spätmoderne überhaupt noch zu „regulieren“ ist, müssen die unversehens am Horizont wieder auftauchenden „Institutionen des Staates [442] sich im Lichte von Reckwitz‘ Schlussbemerkung selber ausrechnen: die Umstände der Spätmoderne „lassen Vorstellungen einer rationalen Ordnung, einer egalitäre Gesellschaft, einer homogenen Kultur und eine balancierten Persönlichkeitsstruktur[…]als das erscheinen, was sie sind: pure Nostalgie“ [442, vgl. schon 435].

 

Die bisherigen Zwischen-Bemerkungen des Lesers, differenzierungsbemüht wie sie gemeint waren und sind, brauchen abschließend weder zurückgezogen noch rekapituliert zu werden. Der ‚spine‘ von Reckwitz‘ Buch ist im besten Sinne einfach und verdient eine dito einfache Entgegnung.

Max Weber wird die Formel „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“ zugeschrieben. Sie ist – und gilt vielen auch noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts so – treffende Metapher für das Lebensgefühl schlechthinniger Machtlosigkeit des sich autonom dünkenden Menschen gegenüber dem Mechanismus der (kapitalistischen) Wirtschaftsordnung; dieser Mechanismus hat sich zwar historisch auf die Produktivität eines (konsum-)asketischen menschlichen Weltverhältnisses zurückschreiben lassen, operiert aber nach dem Verblassen der religiösen Motive jener Askese seinerseits als Zwangs-Herrschaft gegenüber seiner kollektiven Urheberschaft.

(Wer Webers „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904/05) gelesen hat, wird wissen, dass sich die Rede vom „stahlharte[n] Gehäuse“ dort auf den letzten Seiten findet; irgendjemand [ließ sich bislang nicht ausmachen; FS] hat die um den Terminus „Hörigkeit“ ergänzt: ‚formel‘-fähige faire Verdichtung des unmittelbaren Kontextes, professionsübergreifend wirkungsgeschichtlich effektiv.)

Für die von Reckwitz dem Leser vor Augen geführte soziale ‚Wirklichkeit‘ (die ‚…‘ sind angebracht als Reverenz gegenüber dem „sozialkonstruktivistischen“ Selbstanspruch des Autors – und Webers unbefangener Rede aaO vom „Kosmos“ [= Ordnung]…) gilt: sie ist ein stahlhartes Gehäuse der Unbarmherzigkeit. Cool zusammengeschraubt (alternativ: 3D-Drucker J) um das Daseinsgefühl der „performativen Authentizität“.

Es mag Rechtfertigungsbedarf geben für die Variation der Weberschen Formel. „Hörigkeit“ passt nicht nur zu Max Webers geschriebenem Text, sondern generell  in die „Über-Ich“-Welt (vgl. Reckwitz 267!) des frühen 20. Jahrhunderts (die zeitgleich Freud ent-deckt hat). (Inwieweit Webers wirkungsgeschichtlich hoch relevante ‚Formel‘ auf dessen jahrzehntelange psychosomatische Erkrankung zurückzuführen ist, mag hier auf sich beruhen; Vermutungen des Lesers bleiben. Die Centennar-Werkbiografien weder des medizinhistorisch ausgewiesenen Radkau noch des Soziologen Baecker helfen diesbezüglich weiter.)

Zu Reckwitz‘ konzeptionellem Vorschlag mag dann – im Modus der psychologischen relecture Webers – angemerkt werden: An die Stelle von möglicher ‚Schuld‘ ist in der sog. Spätmoderne ‚Scham‘ getreten – und die leserseitige Konklusion ist: das „performativ authentische“ ICH schraubt sich zur Vermeidung von Beschämungsrisiko selber ein in ein gegen Andere offensiv indifferentes „stahlhartes Gehäuse“.

Die Einfügung von just „Unbarmherzigkeit“ anstelle von „Hörigkeit“ an der entsprechenden Funktionsstelle der Weberschen ‚Formel‘ verweist unterschwellig auf heterogene Grundannahmen. Die sich biblischer Inspiration verdanken und die hier ansatzweise ausgesprochen seien: Barmherzigkeit entfaltet sich – um’s praxeologisch auszudrücken – in „Praktiken“ des Fehlerfreundlichen (denen step-by-step entsprechende institutionelle Vorkehrungen Sukkurs leisten werden). Sie befreit aus dem „stahlharten Gehäuse“ auch der Wahrnehmung den Blick auf die (versteckt das „Allgemeine“ prolongierende!) Rationalität der „Winner-takes[…-]the-most-Logiken“ [347 u.ö.], für den maßgeblich nicht nur deren Opfer sind, sondern auch deren ‚Täter‘ im volatilen Status potentieller Profiteure. Und zur Anschlussfähigkeit gehört auch: „Barmherzigkeit“ ist der Gestus der ‚Logik des Besonderen‘, der das Lebendürfen des Einzelnen der Subsumtions-‚Logik des Allgemeinen‘ überordnet.

(Für theologisch Fachkundige eher überflüssig der Hinweis auf Michael Welker, der in verschiedenen Publikationen auf den Zusammenhang von Gotteserkenntnis, Barmherzigkeit und Recht hingewiesen hat – der, ohne hier detailliert zu begründen, nach ‚Übersetzung‘ theologischer ‚Spreche‘ ins Weberisch „religiös Unmusikalische“ als regulative Idee für umfassende Theorien auch des Sozialen zu erwägen wäre.)

Geht aber alles nicht, demonstriert der Soziologe. Okay, okay – der Leser ist noch imprägniert von der Parole des ‚Pariser Mai 1968‘ „Seid realistisch, verlangt das Unmögliche“, und man kann ja wissen, wie’s ausgegangen ist, jedenfalls bisher  … . Aber den singularisierungstheoretischen Vorwurf des „Kulturkommunitarismus“ wird er stolz auf sich sitzen lassen…

 

© Frithard Scholz

09.01.2019