Der unauffällige Hintergrund

 

Das „Institutionelle“ – ein gelegentlicher Werbeprospekt

Christian Grethlein zugedacht

von Frithard Scholz

 

In seinem Lehrbuch „Praktische Theologie“ (Berlin/Boston 2012, 22016) [im folgenden: PT] hat Christian Grethlein [im Folgenden: CG] den Begriff „Kommunikation des Evangeliums“ [im Folgenden: KdE] als Formulierung der Leitidee der Praktischen Theologie vorgeschlagen. Dies durchaus im Bewusstsein dessen, dass vor 200 Jahren Friedrich Schleiermacher die (von ihm sog.) Praktische Theologie mit der resonanzreichen Metapher ‚Krone des theologischen Studiums‘ belegt hat, wobei ihm dieses Studium als „Kunstlehre“ zur „Kirchenleitung“ galt. Insofern ist nicht in der Sache, allenfalls hinsichtlich der Zügigkeit der Rezeption erstaunlich, dass der Begriff KdE auf dem Wege ist, sich als Paradigma auch in förmlichen „Kirchenordnungen“ zu etablieren – es scheint ein ‚Momentum‘ zu geben.

„KdE“ bezeichnet bei CG, salopp reformuliert, das Kontinuum des „christlichen“ Da-Seins, wie es konstitutiv geprägt ist durch seine Abkünftigkeit aus „Impulse[n] durch das Auftreten, Wirken und Geschick Jesu“ und seine Zukünftigkeit in historisch unabgeschlossenen „Kontextualisierungen“. Schon in PT hat CG zur Näherbestimmung der Kontextualisierungen Bezug genommen auf das Spektrum von vier kriteriellen Merkmalen, nach denen eine Studie der LWB-VV Nairobi 1996 mögliche Interdependenzen zwischen „Gottesdienst und Kultur“ zu beurteilen vorgeschlagen hat (transcultural, contextual, counter-cultural, cross-cultural – im Folgenden: Nairobi-Kriterien).

Seit der Erstauflage seines Lehrbuchs hat CG in zahlreichen Publikationen die Leistungsfähigkeit von „KdE“ entfaltet und an wechselnden theoretischen Herausforderungen erprobt. Bemerkenswerte Zwischenstadien markieren die Bücher „Evangelisches Kirchenrecht. Eine Einführung“ (Leipzig 2015) [im Folgenden: EKR] und „Kirchentheorie. Kommunikation des Evangeliums im Kontext“ (Berlin/Boston 2018) [im Folgenden: KT], „Christsein als Lebensform. Eine Studie zur Grundlegung der Praktischen Theologie“ (Leipzig 2018 [im Folgenden: CaL], jüngst „Christliche Lebensform. Eine Geschichte christlicher Liturgie, Bildung und Spiritualität“ (Berlin/Boston 2022) [im Folgenden: CL]. Als Weiterentwicklungen, zumindest Neuakzentuierungen im Theorie-design lassen sich Charakteristika hervorheben: EKR drängt auf die Beachtung von „Relevanz als Zentralbegriff kirchlicher Arbeit“. KT etabliert die analytische Perspektive auf „Nebenfolgen“ von Kontextualisierungen der KdE, legt einen kritischen Zeigefinger auf die Anfälligkeit der staatsanalog formatierten Sozialgestalt des Christseins als „Kirche“ für Dissidenz im herangewachsenen Kontext einer „Optionsgesellschaft“ und empfiehlt stattdessen die anspruchslosere Selbstbeschreibung als „Assistenzsystem für die Kommunikationen der ‚allgemeinen Priesterinnen und Priester‘“. CaL und CL verflüssigen die Auffassung historisch aufgetretenen Christseins durch den Ausbau der mit dem Da-sein koextensiven Kategorie „Lebensform“ – perspektivisch betrachtet, eine konzeptionelle Auffangposition der PT unter Bedingungen grundstürzender Veränderungen des umgreifenden Kontext „Welt“.

CL lässt sich auffassen als Quersumme aus CG’s Arbeiten der letzten 10 Jahre; die Verfahrensweisen der Dekomposition ihrer ‚Ausgangsgröße‘, der Elementarisierung und abschließenden Verdichtung zum ‚Ergebnis‘ ließen sich texthermeneutisch zeigen. Die Kontinuität zum Bisherigen wird bekräftigt durchs explizite Aufgreifen des theologischen Grundmotivs vom Allgemeinen Priestertum. Das auffällig Neue an „CL“ ist, wie entschlossen CG die KdE „Gegenwärtige[n] Herausforderungen“ aussetzt (deren Explikation indes gegenüber CaL scharf reduziert ist). Im Buch repräsentiert er die literarisch durch die selektive Zitation von Maja Göpel, die das öffentliche Welt-Krisen-Kommunikations-Motto „Ein Weiter-so geht nicht mehr“ artikuliert.

In CL ist, die maßgeblichen Nairobi-Kriterien zur Geltung zu bringen, auf die Polarität von contextual vs. counter-cultural zusammengeschnurrt; das mag angemessen sein. Diese Reduktion macht aufmerksam auf einen allzu leicht übersehenen Aspekt der Nairobi-Kriterien: dass ein-und-dieselbe Kontextualisierung der KdE sowohl als contextual wie als countercultural einzuordnen sein kann – schließt doch das „Weiter-so-nicht“ Einvernehmen mit weltweit vorgebrachten „…for future“-Protesten und Widerspruch gegen individuelle Bequemlichkeiten („Du musst dein Leben ändern“, Rilke/Sloterdijk) in Eins zusammen.

CL ist eingehüllt in die Aura der gefühlten Lebensnotwendigkeit einer ‚Wende‘, auch in den sozialen Verkörperungen des „Christseins“ (dessen „kontext“-gemäße „Attraktivität“ darzutun CG angelegen ist: siehe die ins Buch implantierten Best-practice-Exempel) – warum nicht diesen kontextuellen Umstand nutzen als Anlass zu einer kleinen ‚Wende‘ im Theorie-design?

CG’s grundbegriffliche Invention „KdE“ ist angetrieben von einem anti-autoritären spin, der sich mentalitätsgeschichtlich den „langen 1960er Jahren“ (Detlef Siegfried) verdankt.

In jener Transformationsphase der BRD hat seinerzeit Ernst Lange als erster mit dem Konzept „Kommunikation des Evangeliums“ kirchenreformerisch und homiletisch experimentieren können, mit der Annahme, dass das Gelingen von Sozialität auf der Resonanzbedürftigkeit von einander Gleichrangigen gründet (ums anachronistisch mit Hartmut Rosa auszudrücken). Das ‚geistige Klima‘ war modernisierungsgesonnen, förderte aktuell-politisch veranlasste Radikalisierungen des öffentlichen Meinungsstreits; „Veränderung“ galt als praktisches Gebot der Stunde, und für die Erstellung theoretischer Gebilde setzte sich das Paradigma „unbegrenzte Änderbarkeit“ flächendeckend durch.

Angebracht erscheint ein kurzer Seitenblick auf die seinerzeit, wissenschaftsgeschichtlich betrachtet, noch relativ junge Forschungsdisziplin „Philosophische Anthropologie“. Sie thematisierte, durchaus im Interesse an Orientierung im Zeitgenössischen, das evolutionäre und prähistorische Hervorgehen der Gattung Mensch aus naturalen Emergenzen (vgl. nur den programmatischen Titel von Hellmuth Plessners Habilitationsschrift von 1928 „Die Stufen des Organischen und der Mensch“). Sie sucht das Fortwirken dieser Abkünftigkeit auch in der Epoche der Sprach- und Reflexionsfähigkeit der Exemplare dieses ‚Gattungswesens‘ darzutun (auch der Anthropologie-Dissident und forcierte Theoretiker des „kommunikativen Handelns“ Jürgen Habermas kommt nicht umhin, diesen strukturellen Umstand mit respektablen Wendungen wie „hinter dem Rücken“ oder „äußere bzw. innere Natur“ zu würdigen)

Die Grundthese von etwa Arnold Gehlens „Anthropologie“-Version lautet: die evolutionäre Distanzierung des Menschseins von seinem naturalen Ursprungszusammenhang kostete den Preis der Instinktsicherheit in der (Um-)Weltbeziehung; dieser Verlust wurde, langfristhistorisch und sukzessive, zu kompensieren versucht durch die soziale Hilfskonstruktion von Komplexen routinisierter Handlungssequenzen (mentale ‚Einstellungen‘ inklusive), den „Institutionen“ (die drum auch „zweite Natur“ genannt werden); ihre Funktion wird umschrieben als „Entlastung“ des Einzelnen vom Erfordernis der stetigen Neuerfindung unmittelbar überlebenswichtiger „Handlungen“.

Aber in den „langen 1960ern“ wollte sich der ‚progressive‘ intellektuelle Mainstream sich nicht „entlasten“ lassen, schon gar nicht von seinem, dem ‚menschheitlichen‘ Fortschrittspotenzial des Sprechens und Reflektierens – also ‚ab in die Tonne‘ mit den „Institutionen“… Auch in den akademischen Denkerklausen hatte die (sozial-)philosophische „Anthropologie“ schlechte Karten, und Sympathie fürs „Institutionelle“ galt als politisch feiges und intellektuell hinterweltlerisches Insistieren auf angeblich überholten Positionen wie „ist ‚natürlich‘, war schon immer so und gehört sich auch“.

Seitdem darf (in leichter Abwandlung eines Diktums von Carl Schmitt) festgestellt werden: Es gibt einen anti-institutionellen Affekt. Der, dem erwähnten anti-autoritären spin affin, wie ein Maëlstrom für theoretische Argumente wirkt. Diesem Sog hat sich auch CG’s grundbegriffliche Invention „KdE“ nicht entziehen können – defacto, wenn auch nicht aus konzeptioneller Notwendigkeit.

Kommen wir zurück auf die für (CG’s gegenüber Ernst Langes Vorschlag aktualisierte Fassung von) KdE konstitutive Kontextualisierung durch „gegenwärtige Herausforderungen“, namentlich in der (gegenüber CaL aus nicht recht ersichtlichen Gründen extrem verdichteten) Fassung von „CL“. Just angesichts derer hätte die unzeitgemäße Wiederentdeckung der „Lebensform“ des „Institutionellen“ sich als argumentativ dienlich erweisen können – und zwar in Erfüllung der Nairobi-Kriterien von sowohl contextual als auch countercultural.

Denn das Sozialformat „Institutionelles“ wirkt nicht nur, in seiner „Entlastungs“-Funktion, als Förderung wirklicher Sozialität, sondern darüber hinaus als Ermöglichung künftiger unter Bedingungen der Überlebenswichtigkeit einer globalen ‚Wende‘ – als Langfrist-Sozialisations-Agentur.

Imprägniert durch den Sinn, das „Bleiben und Bewahren“ denk- und lebbar zu machen, ist das „Institutionelle“ theoretisch wie praktisch der Widerpart zum Zentralmechanismus der Moderne: der „Steigerung“. Die selbstdestruktiven Implikationen dieses Moderne-Paradigmas sind an sich bekannt, spätestens seit „Die Grenzen des Wachstums“ (1972), wenn auch unsachgemäß allenfalls ‚unter anderem‘ beachtet (und dies, um’s ideologiekritisch zu kommentieren, unter hintergründiger Förderung durch die Selbstverwertungsinteressen des Kapitals); CG lässt sie in CL durch die Zitation von Maja Göpel in deren „leise erhöhtem Ton“ (1933 Karl Barth) stellvertretend anprangern.

  • Karl Marx (Das Kapital. Erster Band [MEW 23], 165.267) kann das „Steigerungs“-Paradigma sowohl in die berühmte Elementarformel „G-W-G‘“ verpacken als auch (da es um „Lebensformen“ geht, sei’s zitiert!) in transsylvanisch angehauchte Poesie:

„Das Kapital hat aber einen einzigen Lebenstrieb, den Trieb sich zu verwerten, Mehrwert zu schaffen, mit seinem konstanten Teil, den Produktionsmitteln, die größtmögliche Menge Mehrarbeit einzusaugen. Das Kapital ist verstorbne Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit, und umso mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt“ [Kursivierung FS].

In jüngster Zeit vielgelesen, exemplifiziert diesen inhärenten Steigerungs-Imperativ als (gefühlte sowie ‚objektiv‘ messbare) „Beschleunigung“ (vgl. andeutungsweise auch CaL 96-107). Gegenüber der das Institutionelle als verlangsamend wirksam werden kann…

  • Und es lassen sich noch weitere Ableitungen vom mainstream des „Steigerungs“-Paradigmas theoriekonstruktiv geltend machen – hier nur schlagwortartig:
    • Dekomposition alles Gegebenen ins Machbare/Gemachte
    • Entfaltung von Ansprüchen individueller Selbstverwirklichung
    • Privilegierung des Einzelnen vor dem Gemeinsamen

Auf die Beachtung dieser kritischen Einsprüche gegen im mainstream eingelebte Selbstbeschreibungen und Praktiken im Ernst drängen, vollzieht einen stracks anti-modernen Grundgestus, ja – verlangt das von der moderne-affinen Theorie der KdE nicht bloß eine nuancierte ‚Wende‘, sondern eine krass countercultural motivierte „Kehre“? Das „Maß“ wird entscheidend sein – in der Praxis der „CL“ wie in der „Praxis der Theorie“ (ums luhmann’sch auszudrücken).

So verdient das „Institutionelle“ als Sozialformat nicht nur theologischen Respekt: historisch gewachsen, drückt diese Lebensweise, auch und gerade außersprachlich, Anerkennung aus für die fundamentale Passivität des Menschseins (wie sie in der Reflexionssprache der „Christlichen Lebensform“ ‚schöpfungstheologisch‘ artikuliert werden kann). Und es verdient in seinem DA-Sein auch aktive Solidarität, die „alles zum Besten wendet“ (Luther): wird doch das „Institutionelle“ nicht durch pures DA-Sein prellbockartig den ‚Zug des Fortschritts‘ zum Stehen bringen, sondern allenfalls in der Funktion der Notbremse dafür sorgen können, dass die unweigerlich mitreisenden „Menschen“ relativ unbeschadet ‚aussteigen‘ können (um eine Metapher Walter Benjamins fortzuführen, der die Notbremse „revolutionär“ nannte).

Der gespreizt wirkende bisherige Sprachgebrauch eines substantivierten Adjektivs soll auf eine empfehlenswerte Unterscheidung hinweisen: zwischen einem dem „Institutionellen“ sympathetischen Habitus – und dessen historisch-kontingenten Verkörperungen, emergenten „Institutionen“, mögen die nun „öffentlich-rechtlich“ statuiert oder ‚bloß‘ im Fluidum gelebter „Kultur“ gewachsen sein. (Die bewertende Bezeichnung gewisser historischer Emergenzen als „Nebenfolge“ von anderen ist wissenschaftssprachlich lange verbreitet (wenn auch soziologisch voraussetzungsreich); diese – von CG im Anschluss an Benjamin Steiner zum Theorem erhobene – Weise der Verknüpfung von Verschiedenem könnte hier Gelegenheit zur Bewährung finden.)

Die Kritik des Praktischen Theologen CG an der – s.E. für „Kommunikation des Evangeliums“ überwiegend hinderlichen! – „staatsanalogen“ Verfasstheit evangelischer Kirchen in Deutschland liegt seit Jahren offen zutage. Unzureichend geklärt erscheint indes, inwieweit und inwiefern sich die Kritik aufs „Institutionelle“ bezieht, ja überhaupt beziehen kann. Denn nicht nur in seiner traditionellen Verschwisterung mit „Kirche“ ist „Christsein als Lebensform“ mit „Institutionellem“ verwickelt (je nach Bewertung auch: dadurch kontaminiert). „Christliche Lebensform“ koexistiert mit auch allerlei anderen Verkörperungen des „Institutionellen“,

  • der „Familie“ (‚kulturell‘ genannte, kollektive Sicherung der biologischen, sozialen, rechtlichen Kontinuierung der Gattung gegen die Volatilität der ‚bloß-natürlichen‘ Instinkt-Impulse der Sexualität);
  • der „Schule“ (bereits in der sog. Reformationszeit empfohlen, wurde diese Organisation von Prozessen individueller Bildung erst mit der WRV 1919 staatlich für obligatorisch erklärt und individuelle, womöglich ‚familien‘-bezogene Dissidenz öffentlich sanktioniert);
  • den „Märkten“ (unter Bedingungen gesellschaftlicher Arbeitsteilung die Instanzen der Zirkulation und Distribution von ‚Lebensmitteln‘ aller Art)

– um nur Exempel zu nennen.

Selbstverständlich wäre kaum zu plausibilisieren die Annahme, eine binnentheoretische Operation wie die begriffliche Differenzierung zwischen „Institutionellem“ und „Institutionen“ könnte das Phänomen der Akzeptanz von Institutionellem ‚erklären‘ bzw. „lebensform“-praktisch beeinflussen. Um beim Reflexions-Fokus „Kirche“ zu bleiben: statistische Zahlen und unschwer beizubringende Selbstbeschreibungen von ‚aus der Kirche Ausgetretenen‘ verweisen auf den Distinktionswert einer anderen Differenz: Gewiss können sich Einzelne vom dem „Institutionellen“ sympathetischen Habitus lösen wollen.

Aber aus „Institutionen“ wie dem „Staat“ ‚austreten‘ zu wollen, geht nicht so einfach – und es führt, im Falle der BRD, zZt in die verfassungsschutzrechtliche Subsumtion als „Reichsbürger“ o.ä. Und, welche selbstdarstellerischen Kapriolen es erfordert, aus der „Familie“ austreten zu wollen, zeigt die greatbritain-royale causa von Prinz Harry und Gattin Meghan – der Volksmund, der von der royalen Familie als „der Firma“ spricht, tut Wahrheit kund… – Oder, bitteschön, beim sog. ‚Kirchenaustritt‘: viele Selbstbeschreibungen ‚Ausgetretener‘ lassen eine Neigung zur Fortsetzung der „Kommunikation“ mit einem/r (empirie-)transzendenten Partner*in – vulgo: Beten – erkennen (was die scheints nur theoretische Differenzierung von „Institutionellem“ und „Institutionen“ bekräftigt).

„Kirchentheorie“-konstruktiv entscheidend ist die Schnittmenge von „Institution“ und „Organisation“ (die je nach Institution unterschiedlich groß ausfällt); die oben eingestreute Wendung ‚Akzeptanz‘ konnte darauf aufmerksam machen: In „Institutionen“ sind Einzelne ‚einfach so, per Da-Sein‘, involviert – in „Organisationen“ muss eine/r entscheidungsförmig „Mitglied“ werden, und muss (wenn denn, dann) den Erfordernissen der „Mitgliedschaftsrolle“ genügen. Die schwierige Distinktion von „Institution“ und „Organisation“ am Phänomen „Kirche“ hat Eberhard Hauschildt vor Jahren mit seinem „Hybrid“-Modell theoretisch einzufangen gesucht und diesen Versuch, im gemeinsam mit Ute Pohl-Patalong verantworteten Lehrbuch „Kirche“ (Gütersloh 22013), ausgebaut. Es gibt aber reichlich Präzisierungsbedarf.

 

Bescheidenes Nachwort zur „Weltanschauung“, subjektiv und garantiert nicht wertfrei:

Auch wenn alles hier schon zu lesen Gegebene ‚besten Wissens und Gewissens‘ gedacht und formuliert ist: Stimmt alles bald nicht mehr. Die Halbwertzeit ist kurz (um den Apostel von 1. Kor 7,29 noch zu überbieten); denken wir, als dächten wir nicht…

CG beginnt in „CaL“ – noch bevor er auf die „Formen reiner Anschauung“ zu sprechen kommt, zu Kants transzendentalphilosophischen, die „Bedingungen der Möglichkeit“ geordneten Erkennens markierenden Eckdaten gehörig – das Kapitel „Heutige Herausforderungen“ mit einem Abschnitt über „Digitalisierung“. Recht tut er daran. Die steckt ja nicht in erster Linie in der penetranten Ubiquität von Smartphones und sog. Social Media (allerlei kulturelle „Nebenfolgen“ inklusive), sondern viel wirksamer tief in der Infrastruktur der Versorgung mit allem erdenklich Lebensnotwendigen auch für die, die möglichst „nix mit all dem zu tun haben“ wollen – von Thoreau-Existenzen oder, an-digitalisierte Schrumpfform, Powers‘ „InternetSabbath“-Adepten (vgl. CaL 106f) zu schweigen. Diese Bewegung wird vermutlich noch nicht einmal durch ausdenkliche Großkatastrophen militärischer, ökologischer oder technischer Art zum Stehen kommen (es sei denn, auch das DA-sein von evolutionär ‚höheren Lebensformen‘ als solches würde damit planetar abgebrochen) – auch die nach-katastrophischen Kollektiv-Versuche einer Reparatur von Schadfolgen dürfte sich digitaler Mittel bedienen, weil bedienen müssen… (Am Rande: Niklas Luhmann, der Soziologe der funktionalen Ersetzbarkeit, nennt derlei hartnäckige items „selbstsubstitutive Ordnungen“ – ein in seiner Groß-Theorie der Änderbarkeit fremdkörperartig, da quasi-ontologisch, querständiger Terminus! Den Prozess der Digitalisierung, wäre der bei Invention dieses Terminus 1979 schon so unübersehbar gewesen wie 2022, hätte er zur Illustration benutzt…)

Es erscheint ausgeschlossen, sich über ein Was-stattdessen oder Wie-danach für konsistent auskunftsfähig zu halten – wenn denn virtual reality und „Kohlenstoffwelt“ ihre bisherigen Plätze getauscht haben werden und die eingespielten Begriffe von Leben, Menschsein, Wahr+Falsch, Gut+Böse in ihrem Realitätsbezug (denn: welche „Realität“?) obsolet geworden sind. Wo die stillschweigenden Voraussetzungen aller korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffe hinfällig sind, wird sich theoretische „Erkenntnis“-Bemühung als Erstem Gebot der Begrenzung der Reichweite ihres Geltungsanspruches unterziehen müssen, ‚eher heute als morgen‘ – und das in radikalerer Weise, als Robert K. Merton sich 1962 beim Einspielen des Modells „middle range theory“ in den Wissenschaftsdiskurs vorstellen konnte.

„…denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht; drum besser wär's, dass nichts entstünde“, mochte noch Goethe seinen Mephisto sprechen lassen, den Desillusionisten bürgerlichen Selbstbewusstseins. Gerade noch bevor das Paradigma „Steigerung“ seinen kapital-gesteuerten globalen Siegeszug antrat. Aber die Zeiten sind vorbei. Mit „Es wackelt alles!“ plakatierte vor über hundert Jahren Ernst Troeltsch die kognitive Irrelevanz des unreflektiert Tradierten. Mit dem ironischen Zitat „Historia magistra vitae“ übertitelte 1967 Reinhart Koselleck einen Essay „[ü]ber die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte“, den take-off seines Aufstiegs zum Doyen seiner Spezial-Profession der ‚Bescheidwisser‘ (vgl. die Etymologie von ιστορειν). Die Zeiten sind vorbei.

2022 rahmt CG seine Monografie zur „Christlichen Lebensform“, die, „institutions“-indolent und „dogmatik“-avers, die Fortsetzbarkeit von „Kommunikation des Evangeliums“ auf einen Schweitzer-affinen Habitus der Ehrfurcht vor dem Leben verdichtet (vgl. CL 264f), in „Du musst dein Leben ändern“-Alarmrufe von Maja Göpel. Nicht dass die unangebracht wären, für die je individuelle Lebenspraxis oder deren politisch-kollektive Steuerung! Wer wagt es schon 2022, nicht GRÜN sein zu wollen. Nur dass so intonierte Appelle über Wertkonservativismus (um Erhard Epplers Spezifikation in Erinnerung zu halten) der reflektierteren Art nicht hinaus gehen, praktisch wehrlos gegen die ‚nächsten pandemischen Wellen‘ der Digitalisierung. – N.Y.Harari vergöttlicht den „Algorithmus“, gerne als (weil vom ‚Universalhistoriker‘ autorisiert) herbeizitiert als dem Rechthaberei-Streit der Zeitdeutungen überhobener Obergutachter. Aber doch verdient sein literarischer Impuls Beachtung, selbst wenn er nur als ‚netter Versuch‘ einzuschätzen ist, gestrickt nach dem klassischen SF-typischen Muster der Verlängerung eines im Gewesenen erkennbaren Entwicklungsstrangs in unbekannt Künftige. – Den am breitesten angelegten Versuch zur Perspektivierung des im Gange Befindlichen unternimmt Ulrich Beck in seiner posthum und unabgeschlossen publizierten Skizze „Die Metamorphose der Welt“ (Berlin 2017), die sein (ein halbes Menschenalter zuvor präsentiertes) Konzept der „Risikogesellschaft“ radikalisiert. Diese Skizze leistet viel zur Erhellung – obwohl darin von „Digitalisierung“ nur unter anderem die Rede ist und weil  sie es wagt, mit einer „Metapher“ wie „Metamorphose“ in die Arena des „Begriffs“-Kampfes mit Konkurrenten um die ‚theoretische‘ Kontrollierbarkeit der „Welt“ zu treten, um die „Sprachlosigkeit als Merkmal der geistigen Situation der Zeit“ (die Anspielung auf Karl Jaspers‘ Titel ist kaum versehentlich!) wenigstens zur Erscheinung zu bringen (vgl. ebd. 96f).

„Was sollen wir nun hierzu sagen?“ (Röm 8, 31a) Paulus wagte sich in seinem Lehrschreiben nach Rom noch acht Verse weiter aus der „Sprachlosigkeit“ heraus, im erklärten Zutrauen, dass es „mehr als Alles“ gibt. Habermas, seinerzeit unbezweifelt maxweberisch „religiös unmusikalisch“, hat derlei Ratlosigkeit schon 1985 im „Merkur“ auf die feuilleton-gängige Formel „Neue Unübersichtlichkeit“ gebracht – nun ist er ziemlich alt (und die religiöse Unmusikalität seit seiner Friedenspreisrede von 2001, erst recht nach Erscheinen seines monumentalen Alterswerks „Auch eine Geschichte der Philosophie“ [Berlin 2019] nicht mehr unbezweifelt). Dennis Meadows, Mitherausgeber der „Grenzen des Wachstums“ von 1972 und inzwischen auch 80 Jahre alt, kommentiert jüngst in einem Interview („Der westliche Lebensstil wird nicht mehr lange fortbestehen“ [Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 7, 18.02.2022, 20-25]) zum Fünfzigjährigen dieses ersten ‚Berichts des Club of Rome‘: die allenthalben, inzwischen auch kommerziell werbeträchtig, propagierte „Nachhaltigkeit“ der Lebensführung sei ein, leicht durchschaubar, selbstbetrügerisches Programm, überlebenswichtig stattdessen „Resilienz“-Trainings und -Strukturen. – Was sollen wir nun hierzu sagen, überhaupt, wir Alten, die so vieles zu tun und zu lassen verpasst haben? Vielleicht überhaupt nichts mehr „sagen“, sondern hinhören auf die Schwarmintelligenz der „Generation Y“, die – von CG in CaL 122 nicht unbeeindruckt zitiert – von der Shell-Studie 2015 auf die Formel gebracht wird „Nichts ist mehr sicher, aber es geht immer irgendwie weiter“.

 

© Frithard Scholz

19.02.2022