"Moh was anneres"

 

Wer mehr wissen will, findet

 

Eine Begleit-Miszelle zur „documenta fifteen“

Günter in memoriam

 
  • In der „documenta-Stadt Kassel“ (wie’s stolz auf den offiziellen Schildern an der Stadtgrenze heißen darf) erinnern sich manche an verflossene „Ausgaben“ des – wie das in der Medienspreche des 21. Jh. heißt – Mega-events. Manches ist ja auch anseh- und berührbar in der Stadt „da“ geblieben, zumeist aufgrund von seinerzeit mehr oder minder umstrittenen Privatinitiativen: der „Himmelsstürmer“ (Jonathan Borofsky) der documenta IX (1992, Jan Hoet), der „Obelisk“ (Olu Oguibe) der d 14 (2017, Adam Szymczyk), und natürlich die Eichen, zu denen Joseph Beuys zur documenta 7 (1982, Rudi Fuchs) mit seinen 7000 Basaltstelen, schräg und unwidersprechlich hingeflammt über den Friedrichsplatz von der Eingangstreppe des Fridericianum bis da, wo inzwischen der Konsumtempel „Königsgalerie“ steht, die Stadtöffentlichkeit erpresst hat: „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“.
  • Die Kasseler, Kasselaner, Kasseläner[1] sind manches gewöhnt, auch die sog. Erweiterung des „Kunst“-Begriffs (für die ikonisch Beuys stehen mag, der, anthroposophisch angehaucht, kreative Gesellschafts(um)gestaltung gerne mal „soziale Plastik“ nannte). Daran erinnert Bettina Fraschke am Tag vor der Ausstellungseröffnung sich und ihre HNA-Leser*innen, zu Offenheit gerade dafür animierend: „Auch Kochen, Zusammensitzen, Reden zählen nun dazu“[2].
  • Aber die „documenta fifteen“ ist nochmal ‘ne besondere Nummer – naja, wie allemal: das Vorgenannte sind ja nur Exempel. Der in Kassel übliche Grundsatzstreit begann schon, als Monate vor dem Eröffnungstermin Vorwürfe eines sublimen „Antisemitismus“ gegen die ‚Macherinnen‘ erhoben wurden. Dabei machten sich die Berührungsverbote der aktuell sog. „cancel culture“ breit: wer Menschenrechtsverletzungen an „Palästinenser*innen“ sympathetisch wahrnimmt, ist wohl auch „gegen die Juden“ und deren Selbsterhaltungs-Strategie qua „Staat Israel“… Darin erkennbar: problematische Personalisierungen, wie sie die „documenta fifteen“ ‚auszuzeichnen‘ scheinen (und von denen noch die Rede sein muss). Der Streit kristallisiert sich gleich zu Beginn, angefangen mit der ‚feierlichen Eröffnung‘:
  • Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier äußert sich ganz undiplomatisch (‚am liebsten wäre ich gar nicht gekommen…‘). Indem er in einiger Breite seine ‚interne‘ Erwägung offenlegt, in diesem Falle abzuweichen von der Ehrenpflicht aller Bundespräsidenten seit Heuss 1955, die „documenta“ zu „eröffnen“, legt er die normative Anti-„Antisemitismus“-Latte nicht nur sehr hoch, sondern schraubt sie gleichsam fest. Zwar müht er sich respektabel ab an der Balance zwischen der GG-verbürgten Kunstfreiheit und der von Adenauer bis Merkel gepflegten bundesdeutschen pro-israelischen „Staatsräson“, räumt „mancher Kritik an der israelischen Politik, etwa dem Siedlungsbau“ gewisses Recht ein und erst recht dem Gestus des Protestes gegen skandalöse Lebenslagen im „globalen Süden“, beklagt die Mangelhaftigkeit des „Diskurses“ im Vorfeld, weiß gar einen jüdisch-israelischen „Video- und Installationskünstler“ zu zitieren, der von der Unauflöslichkeit von „Widersprüchen“ schreibt, die man „nur aushalten, besprechen und anerkennen“ könne. Aber er friert dann doch die materiale Plastizität des „Diskursiven“ ein, indem er eine positionelle „Grundlage und Voraussetzung der Debatte“ konfessorisch reklamiert[3]. Kann er „als deutscher Bundespräsident“ – sei’s aus Überzeugung, sei’s von Amts wegen – auch nicht gut anders nach der Anti-BDS-Resolution des Deutschen Bundestages von 2019[4].

Jene unglückselige Resolution, mit verfassungsändernder Mehrheit verabschiedet, gilt zwar als „schlichter“ Parlamentsbeschluss ohne unmittelbare (Verwaltungs-)Rechtsfolgen. Aber eben drum muss der „Bundespräsident“ – wenn denn, dann schon! – die speziell seinem Amt eignende Kompetenz nutzen, durchs bloße „Wort“ Überzeugungen zu prägen.

Nur dass schon jene Bundestags-Resolution (wie etliche aus der 2019 dissentierenden Parlamentarier-Minderheit fanden), den unhistorischen Geist atmet, den – auch deutsche – Beobachter*innen im Raumgewinn der „originalism“-AntiHermeneutik der US-amerikanischen Verfassung am Supreme Court mit besorgtem Kopfschütteln wahrnehmen.

 

  • Die Findungskommission hat 2019 das indonesische Kollektiv ruangrupa zur – Formsache! – Berufung als „Kurator(en)“ vorgeschlagen. „ruangWER“?! erstmals (nach dem 24-köpfigen documenta-Rat, der den Übergang von der Begründer-Figur Arnold Bode zum Folgenden moderieren sollte) keine im internationalen Kunst-Gewese prominente Solitär-Figur! Aber ob die hochmögende Kommission gewusst hat, wen sie da für die ‚Kapitänsbrücke‘ der selbsternannten „Weltkunstausstellung“ angeheuert hat?

Klar können Beobachter*innen strategisch begünstigende Faktoren für diese Präferenzbildung ausmachen: Der globale Klimawandel lässt den Meeresspiegel auch um den ‚Inselstaat‘ Indonesien steigen – das mentale Klima ist durch postkolonialistische Kritik an den dito globalen Folgen neoliberal entfesselten Wirtschaftens imprägniert, die die Meeresoberflächen steigen lassen und, nur zum Beispiel, Korallenuntergründe mit Giga-Mengen an Plastikmüllexporten aus dem reicheren „Norden“ verseuchen – höchste Zeit, sich auch im, alle 5 Jahre in „Kassel“ verdichteten, Medium der „Kunst“ der Perspektive des sog. Globalen Südens auszusetzen und zu stellen.

  • Ruangrupa punktete im Findungsprozess mit koperasi, ließ die interessierte Teilöffentlichkeit in 3 Jahren „documenta-fifteen“ Vorbereitung Geschmack finden an weiteren Zutaten ihrer indonesischen Begriffeküche wie „lumbung“, solidarischem „harvesting“, entgrenzendem „nongkrong“ etcetc. Durchweg ist das „documenta-fifteen“-Design auf ‚Prozessorientierung‘ gepolt (wie das sortierversessene Analytiker*innen aus dem globalen Norden schubladisieren würden); „Ergebnisse“ der Kunst-Produktion, wie zu sehen hören fühlen vorzeigbar, sind eher nachrangig, allenfalls als Zwischen-„Ergebnisse“ beachtenswert, motivierend im und zum Vorübergehen: das Morgen wird irgendwie „besser“ sein. – Dass es, seit „documenta“-Generationen erstmals, zur „documenta fifteen“ keinen „Werke“-Katalog gibt, sondern stattdessen ein „Handbuch“, das v.a. die ‚Aktions-Biografien‘ der oft kollektiven Beiträger*innen nachlesbar hält, ist ein sprechendes Indiz.

Dass in derlei Gemengelage auch moralische NoGo’s wie Ausdrücke von „Antisemitismus“ mitschwimmen würden, musste man zwar nicht gerade erwarten, aber doch für ohne Weiteres möglich halten.

  • „Moh was anneres“ sagen Kasselaner und -äner, um ihre Verblüffung ob unerwarteter Abweichung der Dinge vom Gewohnten zu kaschieren. Dass die international zusammengesetzte Findungskommission bei ihrem Berufungsvorschlag dieses lokale „Idiotikon“ schon im Sinne hatte, darf bezweifelt werden. Aber mit ihrem Votum für „ruangrupa“ hat sie der Institution „documenta“ etwas ‚verpasst‘, das Spätere einen „Paradigmenwechsel“ nennen könnten – falls es denn eine Fortsetzung der Tradition durch eine Documenta 16 usw (und ein mehr denn archivalisches Interesse an deren Vorgeschichte) geben sollte; für sicher darf man das 2022 nicht halten.

 

  • Am Tag nach Steinmeiers Eröffnungsrede platzte die monatelang an die Wand gemalte Bombe. Aus irgendwelchen Gründen um 1 Tag verspätet aufgestellt, unleugbar vorsätzlich auf den Friedrichsplatz platziert, das viele Quadratmeter zählende sog. „Banner“ „People’s Justice“ des indonesischen Kollektivs „Taring Padi“ aus dem Jahre 2002: Wimmelbild mit Motivationsabsichten für den Protest ‚derer unten gegen die da oben‘, ins horizontale Vorfeld erweitert um ungezählte straßendemonstrationstaugliche Pappfiguren, im Stil sog. naiver Malerei wie das „Banner“ selbst. Aber darauf, jedenfalls für Betrachter*innen mit Fernglas auszumachen, zwei Karikaturen mit zweifelsfrei „juden“- bzw. „staat-israel“-feindlicher Emblematik, wie sie 1:1 auch im Nazi-Hetzblatt „Der Stürmer“ hätten stehen können (hätte’s schon in den 1930ern den „Mossad“ – Aufschrift auf einer der Karikaturen – gegeben, den Auslandsgeheimdienst des jetzigen Israel, der mit seiner imperialistischen ‚Fachkompetenz‘ für den Globalen Süden noch höher im Ranking stehen dürfte als die CIA…). BOFFF! „Antisemitismus“ ausgestellt im Entrée der „Weltkunstausstellung“ in Deutschland!?!? Und das nicht mehr nur im Modus des Verschwörungsverdachtsfalls, der im Frühjahr 2022 eher spezial-sensibilisierte Feuilletonist*innen erregen konnte, sondern in „Graffitti“-Evidenz, fotografierbar, in Social-Media-Blitzesschnelle weltweit vor Augen…
  • 1. Schockstarre. Im Raum wie der sprichwörtliche Elefant die ‚was tun?‘-Frage und die Frage ‚wer ist verantwortlich?‘ Keine Chance für „Hinterbühnen“-Hantierungen, alles, ganz wörtlich, im Tageslicht der Öffentlichkeit, und die levitenlesenden Worte des Bundespräsidenten schweben noch über dem Friedrichsplatz.
  • 2. Hektik. ‚Maßnahmen‘. Sie sollen das Passierte ungeschehen, zumindest ungesehen machen. Die Peinlichkeit wird mit schwarzen Trauertüchern erst teilweise, dann, unter dem „Mehr!“-Geschrei der, auch virtuellen, Gaffer, ganz verhängt – bis sich am Ausstellungsort von CHRISTOs verpackten 5600 Kubikmetern Luft (4. documenta 1968) die Erinnerung breit macht, dass Verhüllung paradox Sichtbarkeit antreibt. Warten auf Nacht-und-Nebel, das Riesen-„Banner“ wird komplett eingerollt, ab in irgendein Depot; zurück bleibt das nackte Gerüst.
  • 3. ‚Presseerklärungen‘, die Stoff für künftige Magisterarbeiten an der Kunsthochschule bieten: die Generaldirektorin, sich vorgeschickt fühlend, erklärt sich zuständig für die Abläufe, nicht aber als politische Ober-Zensur-Beauftragte; ruangrupa brauchen mehr Zeit sich zu verständigen, geben sich über die Maßen ahnungslos, adaptieren aber dann nachgerade unterwürfig die „deutschen“ Sprachregelungen und werben zugleich um Verständnis für die Fixierung der „Banner“-Urheber auf den Protest gegen den Militarismus in Indonesien seit 1965[5]. –
  • Es folgt eine Phase 4 der öffentlichen Skandal-Abwicklung, die bei Abfassung dieser Zeilen noch anhält: sich zerfasernd zwischen Deuter*innen mit Anspruch auf Unbefangenheitsunterstellung aufgrund Abstands und Großem Überblick, Invektiven wg. unterbliebenen Rücktritten und komplementären Angriffen, mittelfristig angelegten politischen Positionskämpfen unter ‚verantwortlich‘ Gemachten und Möchtegern-Zuständigen.
  • Jetzt schon lässt sich sagen: Ein GAU für das eh schon angemürbte Renommée der Institution „Documenta“, schlimmer ging’s nimmer. Wie nur konnte das passieren?? Und, tja, was eigentlich ist passiert? Zwei Fragen, die sehr wohl voneinander unterschieden gehören, die aber gleichwohl miteinander zusammenhängen – kein Versuch einer Antwort kommt ohne hermeneutischen Wechselschritt zwischen beiden aus. Und, dies vorweg: jede Antwort wird, wie die Dinge inzwischen politisch verkeilt sind, mehr oder weniger strittig bleiben, jedenfalls 2022 und bis auf Weiteres. Auch der hier vorgelegte Vorschlag.
  • Denn – um mit der Was-Frage in den Wechselschritt einzusteigen – die einen wie die anderen sitzen dem Fragemuster auf „Gibt’s eigentlich ‚ein bisschen Antisemitismus‘ wie ‚ein bisschen schwanger‘?“ Wer sich auf Momentaufnahmen stützt, gleichsam laut Ultraschall, wird schnell ‚Nein‘ sagen, wer Werde- und Folgeprozesse ins Auge fasst, kann auch „Na ja, mal sehen‘ denken. Nele Pollatschek steilt sich in der Wehret-den-Anfängen-Fraktion auf: „Die Gefahr an Antisemitismus ist nicht, dass er Gefühle verletzt, sondern dass er Leben kostet. Gefühle sind mir egal, ich möchte nur nicht ermordet werden“[6] – Motto „ganz oder gar nicht“. Eva Menasse, einen Tag später im „Spiegel“[7], betrachtet die über 20 Jahre andernorts nicht weiter aufgefallenen Graffiti auf dem „Tarang Padi“-Banner lockerer, prangert stattdessen die Folgen der demonstrativ anti-antisemitisch deklarierten BDS-Resolution des Dt. Bundestages an: inszeniert zur Stützung der bundesdeutschen „Staaträson“ als Leitlinie der GG-Interpretation, lasse jene Resolution „ein{en] Hauch von McCarthy durchs Land“ wehen. Geboten sei eine konsequent systemische Prävention gegen rechtsradikale Anschläge auf jüdische Menschen, statt deren Mangelhaftigkeit durch „Symbolpolitik“ zu kaschieren.
  • Dabei ist der „Antisemitismus“, der der „documenta fifteen“ seit Monaten nebulös vorgeworfen wird und dessen sinnliche Wahrnehmbarkeit sich mit der „Banner“-Präsentation zu einer BOFF-Explosionswolke verdichtet hat, ein typisches Oberflächenphänomen. Die pflichtgemäß massenhafte ‚Entrüstung‘ öffentlicher Sprecher*innen bestätigt das eher als es zu bestreiten – manche erinnern sich noch an das BOFF, das 1998 Martin Walser mit seiner Friedenspreis-Rede ausgelöst hat, in der er „Auschwitz“ als „Moralkeule“ vorkommen ließ… Treten wir hinüber zur Wie-Frage. Und denken zunächst an Indonesien.
  • Das Land, aus dem das „Kuratoren“-Kollektiv stammt. Das Land mit den meisten muslimischen Einwohnern weltweit[8], unter denen einseitige Sympathie für die Palästinenser quasi endemisch ist – kein Wunder, dass es bis heute keine diplomatischen Beziehungen zu Israel unterhält. Die Zahl der Einwohner jüdischer Religion ist verschwindend klein, der Bevölkerungsanteil liegt im niedrigsten Promille-Bereich. Auch in Indonesien gibt’s „Antisemitismus“, aber kaum jemand dort findet das erwähnenswert[9] – schließlich werden auch immer mal chinastämmige Bürger*innen (wie das heute heißt: „gruppenbezogen“, oder drastischer; „rassistisch“) „diskriminiert“. – In deutscher Sicht eine andersartige Modulation der Einen Welt, der „Globale Süden“ halt. Die Vermutung von Timo Duile hat viel für sich: „Wer nichts über die Shoa weiß oder sie als irrelevant für den eigenen kulturellen Kontext betrachtet, kann leichter behaupten, Israel sei lediglich ein imperialistisches Projekt, das Palästinenser unterdrücke. Über deutsche und europäische Geschichte wissen die meisten Menschen in Indonesien nicht viel – so wie die meisten Deutschen kaum Ahnung haben von indonesischer Geschichte“[10].

Dass allein schon der Appell an den Terminus „kultureller Kontext“ in defensiven Stellungnahmen von ruangrupa und „Tarang Padi“ die ‚Entrüstung‘ in den „deutschen“ Resonanzen getriggert hat, unterstreicht Duiles Vemutung. Die Rote Linie scheidet zwischen den Einen und den Anderen nach Maßgabe dessen, ob „Antisemitismus“ ‚idealistisch‘ oder ‚historisch‘ aufgefasst wird, ob er, seiner Zuspitzung zum NS-„Holocaust“ wegen, als menschheitlich-universaler Inbegriff von Verwerflichkeit gelten muss oder als Begriff bloß einer Spielart des Protestes gegen Imperialismus, Rassismus etcetc gehandhabt werden darf.

  • Die Wie- und die Was-Frage beginnen zu verschwimmen. Denn es muss die Rede sein von „Lumbung“, dem (chronologisch) ersten indonesischen Terminus, mit dem ruangrupa die Kasseler (und die sich darüber hinaus fürs Werden der späteren „documenta fifteen“ interessierten) bekannt machen mussten, um das „Betriebssystem“ für die Herstellung der bei ihnen „bestellten“ Weltkunstausstellung öffentlich und authentisch beschreiben zu können. (17 von diesen Termini sind im sog. „Glossar“ lexikalisch-kurz definiert, auf den Innenklappen des sog. „documenta fifteen Handbuchs“[11]. Überhaupt dies „Handbuch“: ein reiches Repertorium aufschlussreicher Selbstausdrücke! – Im Folgenden eingeklammerte Seitenzahlen verweisen eben darauf.)

Zu „Lumbung“ wird im Glossar erklärt: „Wort für eine kommunale Reisscheune im ländlichen Indonesien. Ein Ort, an dem Bäuer*innen den Ernteüberschuss miteinander teilen. Nur den Überschuss! Wenn sie nichts haben, müssen sie auch nichts abliefern. Eine Art, miteinander in Beziehung zu treten. Gemeinsam teilen und bauen. Wir haben keine Standards dafür. Wir vertrauen darauf, dass Menschen wissen, was sie für sich selbst benötigen und was sie abgeben können“. Ein Kürzestnarrativ (man achte auf das „wir“!) einfacher Menschenfreundlichkeit, oder auch menschenfreundlicher Einfachheit. Appell an kulturelles Gedächtnis, Anfang des 21. Jh.: wie eigentlich anders besser, zuzeiten des „genug ist genug“ wider die weltzerstörerische „Steigerungs“-Ökonomie? Für abstraktionsversessene Europäer wird das auch noch auf „Lumbung-Werte“ gebracht: „Die Grundprinzipien des lumbung und der lumbung member. Dazu zählen Großzügigkeit, Humor, lokale Verankerung, Unabhängigkeit, Regeneration, Transparenz und Genügsamkeit“.

Die programmatische Bedeutung von „Lumbung“ offenbart ein bei einer der Vorfeld-„Marjelis“ ge„harvest“etes (zu den Termini vgl. das Glossar; „harvesten“ zeitigt keine ‚Protokolle‘, sondern das Einschmelzen von ‚er-sprochen Vernommenem‘ in die je eigene „Praxis“) Votum „Wir sind nicht in der documenta fifteen, wir sind in Lumbung Eins“ [24].

  • Diese romantisch-rückhaltlose Selbstidentifikation von „ruangrupa & Co“ provoziert freilich auch Skeptiker. Wie in der Zeitschrift „Merkur“ schon im Herbst 2021[12] Jan von Brevern. Der fragt bohrend nach: Ist das von ruangrupa ins Schaufenster gestellte „Lumbung“-Prinzip nicht einfach eine Ideologie, Blaue Blume für die Bewohner des konkurrenzindividualistisch imprägnierten globalen Nordens? Nicht die Findung einer verschütt gegangenen menschenfreundlich-einfachen Lebenspraxis, sondern deren Erfindung? Seine Referenz-Autorin Judith Schlehe zitiert er mit ernüchternden Feststellungen. „Lumbung“ sei in Indonesien nicht die Verkörperung subsistenzwirtschaftlichen Teilens unter Gleichen, sondern Instrument elitären Zu-Teilens an Willfährige gewesen (Anfang des 20. Jh. eine gewisse Zeit lang eben auch durch die Kolonialverwaltung)[13]. Durchaus anderes also als ruangrupa es zur fürs 21. Jh. attraktiven Metapher einer überlebensdienlichen Daseinsform zurechtlegt. Man muss diese decouvrierende Lesart nicht übernehmen, die in puncto ethnologischer Expertise laienhaften ‚Ohren anlegend‘. Sondern kann sie auch zurückweisen, als Ausdruck von alteuropäisch-akademischem Besserwissi-tum, das native speakers noch das Recht zur lebendigen Plastizität der Selbstdeutung durch Erinnerung an unabgegoltene Verheißungen im Vergangenen (ums habermas’isch zu benennen) verwehren will – gleich, ob es derlei ‚gab‘. „Erinnerungsfälscher“ (Abbas Khider) sind wir unwillkürlich alle. Nur: wer ist der richtigere Querdenker?

 

  • Was also ist passiert? „Ruangrupa“ ist passiert. Von der Findungskommission erwählt zur Lösung des Problems, eine weitere Ausgabe der Documenta erscheinen zu lassen, erweisen sie sich als dessen zentrales Teil. Dass die Documenta mit ihrer aktuellen Ausgabe „fifteen“ ‚ein Problem hat‘, ist offenkundig – dass sie womöglich eins ist, das auszudrücken verlangt noch ein paar Sätze.
  • Die Aussicht darauf, der Documenta durch die ‚Perspektive des Globalen Südens‘ ein zeitgemäß neues Gesicht zu verleihen, mag die Findungskommission und, im Geleitzug der Gremien, den Aufsichtsrat für Ruangrupa eingenommen haben. Da nunmehr geliefert ist, was bestellt wurde, sind nicht Beschwerden angebracht, sondern einfach die – im seinerzeitigen ‚Angebot‘ gar nicht mal so versteckten – Kosten fällig. Wer Perspektivisches sehen und zeigen will, wird sich über Einseitigkeit in der Darstellung des Ganzen nicht wundern dürfen. Zur ‚Perspektive des Globalen Südens‘, wie Ruangrupa sie verkörpert, gehörte eben auch: die Selbstdarstellung als Dauerprozess gemeinschaftlichen Aushandelns; die emotionale Symbiose mit „vielen kleinen Leuten an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun“, z.B. kollektive Proteste generieren gegen die Folgen neoliberaler Globalisierung und für alle möglichen moralischen Gerechtigkeiten, verdrängte, entdeckte, zurechtgelegte…
  • Vergleichsweise grenzwertig demgegenüber: die Entscheidung von Ruangrupa, sich um ein (5-köpfiges, internationales) „Künstlerisches Team“ zu erweitern – und, darüber hinaus, die von ihnen ausdrücklich zur Mitwirkung schon eingeladenen Künstler(-Kollektive) mit der Lizenz zur Kooptation weiterer auszustatten. Es zeigt sich darin die Neigung von Ruangrupa, ihre „…fifteen“ weniger im Modus des Gestaltens denn des Passieren-lassens anzulegen (eine Beurteilung, von der jedenfalls die konsequent durchgestyleten Begleitpublikationen ausgenommen seien): ein kuratorisches Team, das von Anfang an das Kuratieren nicht mochte. Eine Haltung, die nicht nur zu Kontrollverlust führte, in der vielmehr Kontrolle auch gar nicht beabsichtigt war.
  • Derlei kritische Beobachtung, zumal wenn zum strukturellen Monitum ausgemünzt wie hier, mag Sympathisanten der „documenta fifteen“, wie sie nunmehr gezeigt wird, als Ausdruck unzeitgemäßer Erwartungen eines zwanghaften Alteuropäers vorkommen; das muss halt ausgehalten sein. Aber dieses Monitum lässt sich zu zwei Momenten verdichten, die sachliche Erörterung verlangen.
  • Das eine ergibt sich aus den „Einblicke[n] in die ihr [sc. der Ausstellung; FS] vorausgegangenen kollektiven Prozesse“, die „die Ausstellung [durchziehen], ohne dass man sie immer mit bloßem Auge erkennen könnte“ (9) – um die „Einleitung“ zum „Handbuch“ zu zitieren: Die ‚gesellschaftliche‘ Haltung von Künstler*innen definiert die faktische Selektivität der Ausstellung und überlagert deren Artefakte (deren Wahrnehmung doch die Wirklichkeitswahrnehmung der Beobachter sollte prägen, ja umprägen wollen dürfen). Dieses handling verwischt eine elementare Unterscheidung, ja planiert sie geradezu ein – eine Unterscheidung, die Theologen der europäischen „Reformation“ die Differenz von „Person“ und „Werk“ genannt haben. Diese auf Anhieb abgehoben, geradezu altfränkisch klingende, Referenz zu begründen, würde den Umfang diese Miszelle überstrapazieren. Hier muss die Behauptung genügen: Diese Unterscheidung zu beachten ist von eminent lebenspraktischer Bedeutung. Ohne sie funktioniert auch die „Menschenwürde“-Idee von Art. 1 GG juristisch nicht. Menschen mit Beeinträchtigungen (und die, die sich speziell um sie kümmern) wissen das.
    • Ums, an einem anderen Medium, ganz subjektiv zu illustrieren: Ich höre gerne (auch indem ich dies niederschreibe) von CD die Wiener Philharmoniker Mozart spielen, die „Haffner“-Symphonie zum Beispiel. Auch wenn die von James Levine dirigiert werden und obwohl dem #metoo-Übergriffe nachgesagt werden dürfen, so dass den NewYorker Philharmonikern vor einiger Zeit ‚politisch‘ nix anderes übrigblieb als ihn nach 40 Jahren „Chef“-Zeit hochkant ‘rauszuschmeißen... Darf die „Haffner“-Symphonie gefühlt schön klingen, wenn der performance-Verantwortliche sich zuzeiten als machtmissbrauchendes Ekel benommen hat?
  • Das andere Moment hängt mit dem ersten zusammen, verlangt aber separate Erwähnung. Es betrifft das Verständnis von „Kunst“. Im „Handbuch“ breiten Ruangrupa das ihrige ein Stück weit aus, sprachbildend, narrativ. Nicht ohne Grund auf die prominente Stelle auf den Rückendeckel des „Handbuchs“ platziert, konzentrieren dort 5 Sätze die leitende ‚Vision‘ und den Modus, sie mit der ‚Bodenstation Kassel‘ zusammenzubringen: Kunst gehört unmittelbar ins, ja: dem Leben („Kunst ist im Leben verwurzelt“) – und das soll dem ausstellungsförmig zu Zeigenden abspürbar sein. Drum muss schon die Acquisition des zu Zeigenden die Kaperung von Artefakten durch den Kunstmarkt zum Missbrauch als Mittel der Kapitalverwertung umgehen.

Der „Handbuch“-Leser liest: Kunst ist koextensiv mit „Leben“, und umgekehrt! Und erinnert sich an Beuys‘ „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Das kann man wollen, sogar „machen“. Und Ruangrupa scheinen es zu wollen, und „machen“ zu können: die „documenta fifteen“ als „Gesamtkunstwerk“ inszenieren, als Gesamt-Erlebnis, das die Trennung in Besucher*innen und Aussteller*innen unterläuft. Schließlich läuft die sprachliche Klimax, in die Ruangrupa ihre Animation zum Kommen fasst, auf „Teilen“ hinaus[14]. So dass die lockere Empfehlung, mit der Ruangrupa Besucher*innen am Ende der Handbuch-„Einleitung“ auf die „Reise“ schicken „Und denken Sie daran: ‚Make friends, not art!‘“, überaus schlüssig klingt.

Ruangrupa treiben die von Beuys geforderte und geförderte Erweiterung des „Kunst“-Begriffs um eine Schraubendrehung weiter; etliche werden meinen: zu weit. Lange konnte „Kunst“ den Anspruch erheben, als distinktives Merkmal einen Modus zeitgenössischer gesellschaftlicher Kommunikation neben anderen zu spezifizieren, die sich um etwa „Macht“ oder „Recht“ oder auch „Liebe“ drehen. Aber die Inszenierung der „documenta fifteen“ lässt als Menetekel an der Wand die Frage erscheinen: ob eigentlich daraufhin dieser Anspruch aufrecht erhalten werden kann, der erhebliche auch monetäre Förderung aus Steuermitteln reklamieren darf?

  • Ein Monitum, das sich nicht von dem bestimmen lässt, was eine/r „mit bloßem Auge erkennen“ (9) könnte, und sei’s mit dem Fernglas auf dem inkriminierten „Banner“. Es sollte entkräftet werden, und nicht nur mit dem Rückenwind des „Zeitgeistes“. Damit die Institution „documenta“ erhalten bleibt.

 

  • Aber: Welche praktischen Schlüsse aus all dem ziehen??! Hingehen oder wegbleiben?

Engagiert auch für intergenerationelle Nachhaltigkeit, ein Unterton der „Lumbung-Werte“, haben Ruangrupa – eine der Innovationen ihrer „Documenta“-Präsentation; „moh was anneres“! – „ein illustriertes Begleitbuch" zur documenta fifteen erstellen lassen, das allem Anschein nach die auf visualisierte Kommunikation disponierte jüngere Generation animieren soll. Mit dem hintersinnigen Titel „Gehen Finden Teilen“[15] (das Sehen bleibt allenfalls implizit, ‚mitgemeint‘) – das passende Verhältnis von Nähe und Distanz wird sowieso jede/r für sich bestimmen müssen, in all dem Gewimmel. Soll unsereins nun mitwimmeln?

Vorschlag, etwas ‚kapitalistisch‘ begründet, zur Güte: es versuchen; vielleicht eröffnet hier und da doch der globale Süden unsereinem durch „Kunst“ – was immer das sei – Wahrnehmungsmöglichkeiten, die zum „Leben“ dienlich sind. Also, ein Ticket besorgen und „ab nach Kassel“, hin zur „documenta“! Deren Ausgabe „fifteen“ könnte künftig auch die letzte gewesen sein. Denn stakeholder, die nur auf ein bißchen „Antisemitismus“ gewartet haben, um der „documenta“ final am Zeug zu flicken zu können (ohne öffentlich provinzieller zu wirken als es „Kassel“ in metropolregionalen Medien notorisch nachgerufen wird), gucken auch auf Besucherzahlen und Bilanzen in Geld.

(abgeschlossen: 10.07.2022)

 

  • Zwei Monate später ein massenmedialer screenshot:
    • Die „Generaldirektorin“ ist vor Wochen zurückgetreten – ob ‚worden‘, entzieht sich dem öffentlichen wording. Drei Tage später ein „Interimsgeschäftsführer“ installiert, in persona mit ‚politischen‘ Schnäppchen-Merkmalen: nach 18 Jahren Verwaltungsdirektorat der Kulturstiftung des Bundes 2020 regulär pensioniert, 1989ff Geschäftsführer der documenta 9 (Jan Hoet) – einer mit nachweislich Blick fürs GroßeGanze also und mit Ahnung von documenta[16]. Ob wohl mit ihm die sog. „ruhigeren Fahrwasser“ der Weltkunstausstellung 2022 erreicht werden? – Soeben im Amt, hat der „Neue“ Anlass, in den Streit um die Deutungshoheit einzugreifen: Die documenta GmbH hat, in Sorge um ihre ‚politische‘ Front, eine 7-köpfige Begleitkommission berufen, zum Thema ‚Antisemitismus wo?‘, mit publikumswirksamen ‚Namen‘ besetzt[17]. Kaum ist jene Kommission öffentlich präsent, flackert zwischen den Üblichen Verdächtigen ein Streit um den Umfang des Mandats der Kommission: wer eigentlich darf entscheiden, was weiter ausgestellt werden darf – die sog. Künstlerische Leitung oder die vorgebliche Begleitkommission als stille Zensur-Behörde…?
    • Die Meinungsdispute in den Feuilletons sind weitergegangen. Maxim Biller rechnet mit Eva Menasse (s.o. Anm 9) ab, keine Personalisierungen scheuend[18]. Meron Mendel übt sich als Moderator, indem er den Anspruch von wem auch immer, bestimmen zu können, was und wer „richtig jüdisch“ sei, delegitimiert: als „nicht nur antipluralistisch“, sondern auch „der jüdischen Denktradition zutiefst fremd[…] die Machloket, die konstruktive Kontroverse, ist ein fester Bestandteil nicht nur der jüdischen Theologie, sondern auch der jüdischen Lebenspraxis“[19]. Aber wen interessiert das noch?

Und es sind ja nicht nur die meinungsstarken Feuilletonist*innen. Josef Schuster, sowohl befeuert durch weitere „antisemitische“ Fündlein in d-15-Exponaten als auch mit dem ‚politischen‘ Gewicht des Zentralrats der Juden in Deutschland im Rücken, verlangt unbeirrt den Abbruch der „documenta fifteen“[20]. Doch die Sprecher der zeitgenössischen Judenheit sind keineswegs einer Meinung. Natan Sznaider hätte Tarang Padi’s „People’s Justice“ gerne weiter öffentlich zu sehen gegeben, „weil es viel über die Verbreitung antisemitischer Klischees hätte zeigen können“. Zwar trägt er in seinem SPIEGEL-Interview[21] den bemerkenswerten Vorschlag vor: der im „Westen“, also auch in Deutschland, virulente Antisemitismus sei zu verstehen als Widerspruch zwischen ‚jüdischem‘ Anspruch auf Besonderheit (theologisch artikuliert: Erwählung) und dem zeitgenössisch gängigen, universellen „Gleichheits“-Ideal. Aber auch dieser Vorschlag blieb soweit erkennbar, ohne Resonanz.

  • Die Leute machen was sie wollen. Die seit langem übliche „Halbzeit“-Besucherbilanz der Medien besagt: bislang nur relativ wenige weniger als beim bisherigen ‚Spitzenreiter‘ „d-14“. no comment.
  • Am 13.08.2022 publiziert die „Süddeutsche“ ein großes Interview mit „ruangrupa“-Sprechern – und entleiht daraus, zitatim, die Überschrift „Natürlich ist es riskant, uns zu engagieren[22]. Da haben ruangrupa, nicht ohne ein Quantum Selbstironie, sich spät ‚geoutet‘ – nachlesenswert. Man (wer immer das sei) hätte’s freilich schon längst wissen können.

 

 

© Frithard Scholz

(abgeschlossen: 16. August 2022)

 

[2] Hessisch-Niedersächsische Allgemeine vom 17.06.2022, Titelseite.

[4] Vgl. https://www.bundestag.de/resource/blob/814894/cf6a69d010a1cc9b4a18e5f859a9bd42/WD-3-288-20-pdf-data.pdf

[6] Vgl. Nele Pollatschek, Eine Bitte, in: Süddeutsche Zeitung vom 01.07.2022, 11

[7] Vgl. Eva Menasse, Im Rausch des Bildersturms, in: Der Spiegel vom 02.07.2022, 40f

[8] Zum Folgenden vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Islam_in_Indonesien - Abruf 07.07.2022. Die angenommenen Zahlen schreiben sich her aus einer Quelle von 2010,

[9] s. Pollatschek [Anm. 8].

[10] Timo Duile, Von Antisemitismus und Antiimperialismus, in: Süddeutsche Zeitung vom 29.06.2022, 11.

[11] Ruangrupa und Künstlerisches Team (Hg.), Handbuch documenta fifteen, Berlin 2022

[12] Vgl. Jan von Brevern, „Lumbung“ - die Rückkehr der Scheune, in: Merkur 75, 2021, 59-65

[13] Ebd. 62

[14] S. unten Anm 17

[15] GEHEN FINDEN TEILEN. Ein illustriertes Begleitbuch zur documenta fifteen, Berlin 2022

[17] Hessisch-Niedersächsische Allgemeine, 02. August 2022

[18] Süddeutsche Zeitung, 24./24. Juli 2022, S.17

[19] Süddeutsche Zeitung, 26. Juli 2022, S. 15

[20] Süddeutsche Zeitung, 29. Juli 2022, S. 13

[21] Der Spiegel, 23. Juli 2022, 108-110.

[22] Süddeutsche Zeitung, 13./14./15. August 2022. S. 15