Lese-Notizen zu...

 

Jill Lepore, Diese Wahrheiten. Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika [engl. 2018], (C.H.Beck) München 52020

Lese-Notizen von Frithard Scholz

 

 

Sichtlich rasch hat sich dieser 1100-Seiten Wälzer auch im deutschen Sprachraum verbreitet: Vorschuss-Lorbeer auf den Status ‚Standardwerk‘, der üblicherweise den Nimbus abgeklärter Konsense der Forschung mit sich führt, die erlauben, für ‚gefühlt‘ eine Generation Sprachregelungen für die Registrierung von Gegebenheiten und Ausrichtung von Urteilen vorzugeben.

Es gibt indes Anlass zu diesbezüglicher Skepsis. Lepore (im Folgenden: L.) schreibt nicht ‚überparteilich‘, sondern – dabei sichtlich auf die normativen Wirkungen des ‚Standardwerk‘-Nimbus spekulierend – durchaus positionell engagiert. Für den unbewanderten Leser also dienlich, Zugang zu der eingehenden Rezension (des dito ausgewiesenen USA-Historikers Michael Hochgeschwender) zu haben: https://www.sueddeutsche.de/kultur/diese-wahrheiten-jill-lepore-rezension-kritik-1.4665623-0.

Zunächst indes eigene Lese-Eindrücke.

 

Das Buch als arte factum

 

Nachdem Francis Fukuyama seine (paradoxerweise 1992 als zukunftsmaßgeblich geltend gemachte) Formel vom „Ende der Geschichte“ ein halbes Leben später explizit zurückgenommen hat, ist es nicht trivial, die Anzeige von L.s umfassender „Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika“ mit der Markierung des chronologischen Umfangs der Zeit zu beginnen, deren relevante Momente darzustellen das Buch beansprucht. L.s Darstellung setzt ein mit den Spuren erster Besiedlung des später „Amerika“ genannten Doppelkontinents durch Menschen vor ca. 20.000 Jahren und schließt mit Erscheinungen zuzeiten 2017, während der Präsidentschaft von Donald Trump. „Ende“ offen… - und auch das ist nicht trivial, sondern wird zumindest vom Duktus des Ganzen begründet.

962 Seiten (ohne Anmerkungen, in der dt. Fassung). Vier Teile, deren Überschriften „Die Idee / Das Volk / Der Staat / Die Maschine“ eine eigene Botschaft tragen, mit jeweils vier Unterkapiteln, die L.s Darstellungsakzente markieren. Die ‚Botschaft‘ der Zäsurierung des (289 beiläufig so genannten) „politischen Experiment[s]“ zu ‚Epochen‘ in L.s Buch lautet:

1. Der Oberbefehlshaber des Befreiungskrieges und paradigmatisch wirksame erste Präsident, G.Washington, der – zunächst 13 – „Vereinigten Staaten von Amerika“ darf gestorben sein, nachdem der gewagte Versuch, sich aus einem Als-ob-„Naturzustand“ zur Selbst-Regierung einer „Nation“ zu erheben, für ein Jahrzehnt einigermaßen einvernehmlich gelungen schien. Aber die im Konklave des Verfassungskonvents von 1787 klausurierten Kompromisse hatten Lücken und widerspruchsträchtige Vagheiten hinterlassen, wie sich an der alsbaldigen Erweiterung um erste zehn „Verfassungszusätze“ zeigte: ein Gewebe von kontrovers bleibenden ‚Gültigkeiten‘ und Gestaltungs-Aufgaben.

2. Bedeutungsgehalt und Reichweite der konstitutionellen ‚Versprechen‘ und die pragmatische Lösbarkeit der daraus folgenden Aufgaben unterliegen je länger je schärfer dem Streit. Die Beschleunigung technischer „Fortschritte“ ineins mit Bevölkerungswachstum (v.a.: Immigration) und territorialem Expansionsdrang treiben die Bereitschaft zu kurzschlüssigen ‚Lösungen‘ durch Anwendung physischer Gewalt. Bis hin zum Bürgerkrieg (den L. „revolutionärer Befreiungskrieg“ [367] nennt, den Terminus „Sezessionskrieg“ konsequent vermeidend!). Sogar das Erlöschen des Krieges durch die Fast-Zeitgleichheit von Ratifizierung des 13. Zusatzartikels, der die Sklaverei verbietet, und Ermordung des zum Versöhnungspräsidenten gereiften A.Lincoln bleibt ein Zwischenergebnis.

3. In den langen 80 Jahren bis zum schlagartigen Ende des Zweiten Weltkrieges nimmt die Komplexität der Welt rasant zu – die gefühlte Beschleunigung – und erzwingt Konsequenzen aus der globalen Verflechtung der USA für deren Selbstorganisation, die auch Gefüge und Geltung von „these truths“ berühren. Darunter ist die Achsenverschiebung vom „Einzelnen“ zum „Staat“ die langzeitwirksamste und zugleich anhaltend umstrittenste. Gegenbewegungen im Kampf um die Köpfe und ‚auf der Straße‘ verschaffen sich Raum, mit historisch langwelligen Konjunkturen und nur zeitweise gebremst durch Rücksicht auf die Ausnahmesituation der „Weltkriege“, in die einzutreten die USA lange gezögert haben: Populismus, Gleichstellungsbewegungen namentlich von Frauen, Rassismus im Verbund mit der ‚Epidemie‘ der sog JimCrow-Gesetze, Progressivismus, der Versuch eines „New Deal“. Letzteres die erstmals vorrangig staatsinterventionistische Form der Überwindung der dritten (1929) von drei Finanzkrisen (schon 1873, 1893) dieser Epoche. Weitere Verfassungszusätze zur Erweiterung von „Freiheiten“ werden parlamentarisch erstritten, im Ergebnis teils verzerrt durch folgenreiche Formelkompromisse – und bisweilen vom Supreme Court restriktiv-maßgeblich ausgelegt. ‚Unterm Strich‘ bleibt: die USA spielen die globale „Führungsrolle“ (628).

4. Mit dem Radio hatte es in den 1920ern angefangen, das Fernsehen verstärkte es, beides reichweitenstarke (wenngleich einseitige!) technische Medien kollektiver Meinungsbildung – auf Grundlage jahrzehntelang konsequent betriebener Entwicklung von Techniken der elektronischen Datenverarbeitung und Miniaturisierung vervielfältigt das Internet seit den späten 1990ern diese Prozesse, privatisiert und sektioniert sie und ermöglicht deren Interaktivität, emotionalisiert und entdiszipliniert sie aber auch. Die Gesellschaft ist in sehr spezifischem Sinne als ‚Kommunikationsnetz‘ entpuppt (als das sie die soziologische Systemtheorie ohnehin analysiert), nicht nur in den USA. Und das unter Bedingungen einer lebensweltlich scharf formatierten Polarisierung der Kommunikationen, die ihren Ausgang nahm von der Bipolarität außenpolitischer Orientierung, die nach „Freie Welt vs. Kommunismus“ schematisierte (und die Kriege in Korea und Vietnam sowie die Kuba-Krise initiierte), aber vielfache innenpolitische Antagonismen nach sich zog (summarisch 839 „Kampflinien zwischen der Linken und der Rechten“ genannt). Zu denen gehört nicht nur die „Hexenjagd“ des über Jahre in den 1950ern von Senator McCarthy geführten „Ausschusses für unamerikanische Umtriebe“, sondern auch die teils unversöhnliche Schärfe von Straßenprotesten gegen Rassendiskriminierung (die auch das Supreme-Court-Urteil von 1954 nicht defacto beenden konnte), für die Gleichstellung von Frauen und Homosexuellen und um die privat-interessierte Auslegung des Second Amendment – und die sich seit den 1970er Jahren aufgipfelnde Ungleichverteilung der Einkommen. Insbesondere die eingerissene Bereitschaft zur individuellen (Attentate nicht bloß auf Leitfiguren wie J.F. und R.Kennedy, auf M.L.King und R.Reagan) und kollektiven Anwendung von Waffengewalt lässt eine Abwendung von dem historischen Zivilisationsgewinn feststellen, der mit der Monopolisierung legitimer Gewaltanwendung beim „Staat“ im alten Europa erreicht war. Nicht verwunderlich ist diese Feststellung für den, der L.s Zeitdiagnose beipflichten mag „ab 2001 [seit NineEleven; FS], mit dem Krieg gegen den Terror, unterliefen die Vereinigten Staaten die Regeln, die sie selbst mit eingeführt hatte, ja sie gaben sie sogar auf, einschließlich des Verbots von Folter und Angriffskriegen. Bis 2016 war eine ‚der Zweck heiligt die Mittel‘-Missachtung jeglicher Zurückhaltung auch für die amerikanische Innenpolitik charakteristisch geworden“ (890).

Schon diese Formentscheidungen lassen erkennen: L.s Buch wird angetrieben vom ‚idealistisch‘ zu nennenden Impuls der Politik-Theoretikerin, die buchtitelgebenden „truths“ der Unabhängigkeitserklärung zur Geltung zu bringen und zu entfalten – und offenbart sich Epoche um Epoche ‚geerdet‘ durch die von der Gravitation und Verzerrungskraft kollektiv gelebten Lebens (so L., mit Frederick Douglass 1857: „der moralischen Blindheit des amerikanischen Volkes“ 338, oder zur Weltausstellung Chicago 1893 „so sehr er sich auch wünsche, die Geschichte von Amerika als eine Geschichte des Fortschritts erzählen zu können, die Wahrheit anders aussehe“ 437) verursachten „obstacles“.

Erst im Laufe jener „Geschichte…“ ist im US-amerikanischen Regierungssystem dem Präsidentenamt die Leitungsrolle zugewachsen, die es – zumal in der massenmedialen Inszenierung – gegenwärtig spielt, je nach Wahlergebnis systemisch ‚ausbalanciert‘ durch die beiden Kammern der Kongresses (besonders die „Staaten“-Repräsentanz im Senat). Gleichwohl wäre zur Orientierung hilfreich gewesen, im Anhang eine Zeit-Tabelle der US-Präsidentschaften zu finden [die weniger umfänglich hätte sein müssen als https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Pr%C3%A4sidenten_der_Vereinigten_Staaten – letzter Abruf: 15.02.2021]).

 

Sein Text wird als Textur

 

… - ganz klassisch, schon in Lektüre von Einleitung und Kapitel „Eins“ mitvollziehbar, wo L. ihre Web[= Text]-Art geradezu expektoriert, ihr Verständnis von Geschichte und Geschichtsschreibung weniger reflektiert denn im Vollzuge vorführt – angefangen mit der Skizze des Kolumbus’schen „Bordbuchs“ (mit dessen Zitation L. Kapitel „Eins“ eröffnet, bis dahin, dass die Registrierung von dessen Verschollensein mitgeteilt wird). Demnach ist das Chaos des von sich aus Passierenden die Substanz, der gegenüber Versuche des Ordnung-Schaffens durch begleitende (oder später, wie sie, hinzutretende) Beobachter*innen akzidenziell bleiben. Kontingenz waltet im Passieren von Geschichte, im Ordnung-Schaffen durch nachgetragene Geschichtsschreibung sowie dem Dazwischen der Greifbarkeit sog. „Quellen“, die, im doppelten Sinne „Medium“, jenes für diese zugänglich machen, sogut’s die Verhältnisse zulassen (im Blick auf „Quellen“ lässt sich L.s Buch nicht lumpen, auch im Vergleich mit M.Hochgeschwenders Teildarstellung „Die Amerikanische Revolution. Geburt einer Nation 1763-1815, München 32018; 112 Seiten kleingedruckter „Anmerkungen“ lassen wenig zu wünschen übrig). Darstellungsstrategisch dominiert das Narrative, gelegentlich eingebettete Reflexionen aufs zeitenübergreifend Notwendige fallen als solche auf – deutlich zunehmend ab Kapitel „Elf“ (1929ff). Immer wieder setzt L. anekdotische Gelegenheitsfündlein ein: sie mögen das Lesevergnügen steigern – literarisch haben sie die Funktion, den geschichtsschreiberischen Anspruch aufs ‚Retten der Phänomene‘ zu illustrieren und die Dienstbarkeit der ‚bloßen‘ Geschichtsschreibung legitimatorisch zu unterstreichen. Ex post sichtlich zielstrebig werden dabei von Anfang an terminologische und motivische Marker gesetzt für die später hervortretenden Roten Fäden der Textur: die Normativität der ‚Augenhöhe‘ bei der Begegnung von Menschen, das Hergestelltsein von historisch wirksamen Asymmetrien, den universalistischen Anspruch der „truths“ und dessen Uneingelöstheit.

 

Was es zu lesen gibt…,

 

…ist beim Umfang des Buches rezensionsförmig nicht im Entferntesten abbildbar. Der amerikanistisch ungelehrte Laie muss bei den ungezählten Details eine solide Deckung durch ‚Quellen‘ unterstellen. Aber ein wenig literarische Anschauung muss sein dürfen – schließlich lassen sich schon aus der Selektion des für darstellenswert Gehaltenen Schlüsse auf die Mitteilungsabsicht der Vfin. ziehen. In diesem Sinne folgen Exzerpte von vier exemplarischen Kapiteln:

„Sechs – Die Seele und die Maschine“ (242-292): „Seele“ und „Maschine“ als Metaphern – für Mentalitätswechsel und für technische wie soziale Modernisierung. Und: es taucht in L.s Darstellung ein erstmals massenhafter Einfluss der Frauen auf: als komplexer Effekt der modernen Trennung der Lebenswelten „Arbeit“ und „Zuhause“ (letzteres auch die Invisibilisierung der „Arbeit“ von Frauen; 249); „indem sie ihre Macht als Reformerinnen der Moral [sc. das Abstinenzlertum] ausübten, brachten die Ehefrauen und Töchter von Fabrikbesitzern ihre Männer in die Kirchen“ 251. Der aufklärerisch-rationalistische Wind des 18. Jh., der aus Unabhängigkeitserklärung und Verfassung jeden barocken Schwulst ausgetrieben und noch nicht einmal das Minimum eines deklaratorischen Gottesbezugs zugelassen hatte, hatte sich gelegt. Und war umgeschlagen in enthusiastischen Sturm des Second Great Awakening „der 1820er und 1830er Jahre“ (243), der auch unmittelbar politischen Mentalitätswechsel antrieb: „die Geistlichen predigten die Macht des Volkes, sie verbreiteten eine Art von spirituellem Jacksonianismus“; „[indem d]ie Erweckung die spirituelle Gleichheit betonte, stärkte sie die Proteste gegen die Sklaverei und die politische Ungleichbehandlung der Frauen“ (244) – „[d]ie selbstverständlichen, weltlichen Wahrheiten der Unabhängigkeitserklärung wurden für evangelikale Amerikaner zu Wahrheiten der geoffenbarten Religion“ (254). – L. versäumt nicht, die tiefgreifende Ambivalenz dieses Prozesses einer mentalen ‚Kontinentalverschiebung‘ zu markieren: die Sicherung „außergewöhnlicher politischer Stabilität in einem Zeitalter tiefen Wandels“ war erkauft mit einer oft „lähmende[en]“ Fixierung an Dispositionen der Vergangenheit (256) – als die revolutionären Forderungen von schwarzen Erweckungspredigern wie David Walker und Nat Turner nach Sklaven-Freilassung zu einer revolutionären Bewegung sich auszuwachsen drohten, beeilte sich etwa das Parlament von Virginia 1830, die Notbremse zu ziehen: mit „Gesetzen, mit denen verboten wurde, Sklaven das Lesen und Schreiben beizubringen“ und „sie im Inhalt der Bibel zu unterweisen“ (261). – „Die Seele und die Maschine“ setzt L. ihrer Darstellung dieses Kapitels der Geschichte der USA als metaphorische Überschrift voran, um die infrastrukturelle Revolution im gelebten Leben gedanklich zu ordnen. „Maschine“ steht pars pro toto für die nahezu explosionsartige technische Beschleunigung von Produktion und Mobilität sowie die Dekomposition des broterwerbsabhängigen Alltags in „Arbeit“ und „Zuhause“ (249) durch die Verbreitung von „Dampfmaschinen“ nach Wattschem Patent (246): in maschinellen Webstühlen, Binnen- und Ozeanschiffen, „Eisenbahnen“ (deren Streckenbau auf Jahrzehnte den Halbkontinent umpflügen würde). „Seele“ steht für die Schwierigkeiten der (überwiegend sog. einfachen) Leute, den neu entstehenden Asymmetrien (zwischen Männern und Frauen, zwischen Arbeiten und Wohnen, nicht zuletzt im ökonomischen Status) nachzukommen. Nicht von ungefähr lässt L. hier – in ihrem Buch nahezu singulär – zwei resiliente Außenseiter zu Wort kommen. Den Dichter Ralph Waldo Emerson mit seinem Vers „Die Dinge sitzen im Sattel / und reiten die Menschheit“ (290) und den ‚Aussteiger‘ Henry David Thoreau (291f).

„Acht – Das Gesicht der Schlacht“ (339-379): Für dies Kapitel aktiviert L. als symbolische ‚Dekoration‘ wieder zwei (schnell sich perfektionierende) technische Innovationen, die Fotographie und die Telegraphie – und betont zugleich, dass die von Zeitgenossen damit verbundenen Hoffnungen auf umfassenden „Fortschritt“ illusionär bleiben mussten: Der heraufziehende „Krieg ist kein Versagen von Technik; er ist ein Versagen von Politik“ (342). – Die öffentliche Auseinandersetzung um Verfassungsmäßigkeit und Tunlichkeit der Sklavenhalterei verschärft sich weiter: eine Ausschnittsvergrößerung der „Debatte“ zwischen Lincoln und Stephen Douglas; John Browns Verfassungskonvent in Kanada und das Louisiana-Gesetz zur Wiederaufnahme des Sklavenhandels mit Afrika; der vereitelte Waffenraub von John Brown; die Spaltung der Demokratischen Partei und die ‚Ertricksung‘ von Lincolns Präsidentschaftskandidatur für die Republikaner; Lincolns Wahlsieg 1860, weitere Proteste auch im Norden; 1861 Gründung der „Konföderierten Staaten“. Die Rede des Konföderierten-Vizepräsidenten Alexander Stephens‘ (359) habe die eingerissene Unversöhnlichkeit in der Sklavenfrage artikuliert: L. formuliert demonstrativ „Die Wahrheiten der Konföderation erkannten die Wahrheiten der Union nicht an“ [Kursivierung FS]; dazu gehörte auch die „Redefreiheit“ (360f). - Der Bürgerkrieg ab Juni 1861: 4 Jahre, die Kriegsfotographie, die Wende mit Gettysburg 1863 und Lincolns Ansprache [L. hält’s für erforderlich zu betonen, dass der Krieg, „revolutionärer Befreiungskrieg“!, nicht um Einzelstaatenrechte und Fortbestand der Union ging, sondern um die Sklavenbefreiung 367] – und dramatisiert Lincolns Weg zur Proklamation der sog. „Emanzipationserklärung“ für Neujahr 1863 (vor Gettysburg!!) zum Countdown…]. Einführung unterschiedlich weitgehender Wehrpflicht sowie, unterschiedlich konsequent, von „Einkommensteuer“; Petitionen und Proteste weißer Frauen bei den Konföderierten beförderten Einrichtung von „System der öffentlichen Wohlfahrtspflege“ (374). Die Emanzipationserklärung genügt nicht zur völligen Sklavenbefreiung; es muss ein 13. Zusatzartikel (31.01.1865) herbei (376). Lincolns Ermordung 14.04.1865, „Geburt eines neuen amerikanischen Glaubens: einer Religion der Emanzipation“ (377). „Der Kampf um die Gleichberechtigung hatte eben erst begonnen“ (378)

„Neun – Von Bürgern, Personen und Menschen“ (383-441): Die beschriebene Zeitspanne reicht von den Kongressberatungen über die Konsequenzen von Lincolns Emancipation Proclamation 1863 bis zum Urteil des Supreme Court 1896 in der „Revisionsklage Plessy vs. Ferguson“, das die Verfassungswidrigkeit der Rassentrennung von sog. Schwarzen und sog. Weißen in öffentlichen Einrichtungen (nach dem Grundsatz „getrennt, aber gleich“) verneinte. In diesen 30 Jahren verpuppen sich die sich nach der Selbstzerlegung des Bürgerkrieges sich wieder vereinigenden „Staaten“ der Union zu einer andersartigen Kenntlichkeit, als sie wohl dem „reconstruction“-Motiv der dominierenden Nordstaaten-Elite 1865 vorgeschwebt hatte. Menschenrechtsorientierte Hermeneutik der vagen Verfassungsbestimmungen, wer und was ein „Bürger“ sei, konnte sich nicht durchsetzen im Mahlwerk ephemerer Machtkämpfe, zunehmend großindustrieller Kapitalinteressen, sich perfektionierender „Verwaltung“, meinungsstarker neuer ‚Graswurzel-Bewegungen‘. Neuartige Formeln wurden kreiert, entsprechende lebenspraktische Distinktionen administrativ bis martialisch exekutiert – und wurden Ziel öffentlichkeitswirksamer Protestaktionen. – Ungezählte historische Faktoren werden von L. benannt, exemplarische seien hier festgehalten, weil Auftakt für Langzeitfolgen.

Parlamentarischen Operationen zuzuschreiben sind die zwei weiteren Zusatzartikel (14. bis 15.) zur Verfassung: der 14. führt den Terminus „Personen“ ein, der später reklamiert werden kann, um Unternehmen vor regulatorischen Staatseingriffen zu schützen [415f] und flickt das Epitheton „männlich“ in den Zweiten (Wahlrechts-)Abschnitt ein, was für ein halbes Jahrhundert Frauen politik-organisatorisch exkludiert (394f). Ganz zu schweigen von der Serie der sog. „JimCrow-Gesetze“, die seit 1881 viele Einzelstaaten zur sog. Rassentrennung erließen (405)!

Deutlich stärker als zuvor bestimmen außerparlamentarische Bewegungen das politische Klima: Die 1866 in Tennessee gegründete Organisation KuKluxKlan verfolgt das Ziel manifester Herrschaft der sog. Weißen durch Terror, Einschüchterungen und massiver Gewaltanwendung gegen Schwarze und deren Befürworter (392.405). Zunehmend und lautstark fordern die in der männer-dominierten Öffentlichkeit weggeschwiegenen oder –gelächelten Frauen Recht auf politische Mitbestimmung ein, entfalten einen eigenen Politik-Stil („moralischer Kreuzzug“, 407, auch 416), sammeln sich zu …bewegungen, treiben die bestehenden Parteien vor sich her, gründen die „People’s oder Populist Party“ (406 u.ö.); L. trägt dem idiosynkratischen Charakter dieser politischen ‚Spielart‘ Rechnung, indem sie auffällig zahlreich einzelne Akteurinnen namhaft macht (416-418, neben der narrativ ausgearbeiteten ‚Leit-Ikone‘ Mary E. Lease 405ff). In Wissenschaften und auf der Straße reüssieren neue ideologische Konzeptionen, die sich zur Rechtfertigung der v.a. von Südstaaten-Demokraten betriebenen Bestrebungen eignen, die Geltungsreichweite von Bürgerrechten zu beschränken – wie Rassismus (gegen die schwarzen „Freedmen“) und Nativismus (v.a. gegen Einwanderer wie die „Chinamen“ der 1860er Jahre). Wie in einem Schmelztiegel geriet dies zur Mentalität des „Populismus“, der das Amalgam noch mit einer großen Prise ‚Anti-Elitismus‘ anschärfte – L. legt Wert darauf, das als Reminiszenz an subsistenzwirtschaftliche Ideale des Republikaners Jeffersons und die Kleine-Leute-Rhetorik des Demokraten Jackson zu deuten (407).

All dessen ungeachtet schreitet die Karawane weiter, angezogen von den immensen Territorialerweiterungen im Westen des Kontinents, getrieben von der ökonomischen Revolution monopolistischer Kapitalinteressen, gefördert von der „Fortschritts“-Orientierung der Bundesregierung (408): Industrialisierung auch der Landwirtschaft (409), Transatlantik-Telegraphenkabel (342), Aufstieg der Stahlbranche – mit der Folge „gewaltige[r] ökonomische[r] Ungleichheit des [später so genannten] Gilded Age“ (445) und um den Preis von „Indianerkriegen“ von 1866 bis zum „Massaker…in Wounded Knee“ 1890 (413), und von „Finanzkatastrophe[n]“ wie 1873 (410f) und 1893 (426). Den Indianern vertraglich garantierte „Reservate“ wurden praktisch zugunsten der Lizenzierung von Eisenbahnbau-Trassen kassiert (408f) und im Dawes Severalty Act von 1887 (413f) durch das Tausch-‚Geschäft‘ ‚Staatsbürgerrecht gegen ‚parzellierte‘ Lebensform‘ ersetzt.

„Elf – Eine Verfassung für den Äther“ (514-574): „[Hoover] nahm zutreffend vorweg, dass das Radio, das nächste technische Großexperiment der Nation, die Art und Weise der politischen Kommunikation radikal verändern werde“ (515). Der Terminus „politische Kommunikation“ deutet ein, vielleicht das wichtigste Urteilskriterium für L.s Abhandlung über den Werdegang „Dieser Wahrheiten“ an. „…wollte diese Entwicklung [sc. ‚zu einem Volk‘] weder dem Zufall noch dem politischen Verantwortungsbewusstsein von Geschäftsleuten überlassen“ (516) – zum einen wird Hoover geschildert als workaholic (517 unten), zum anderen als Technik-und-Organisations-freak, der das Präsidiale als Verpflichtung zum Alles-im-Griff! verstand.

Es gehört zu L.s literarischen Kunstgriffen, diesen Überschwang an Optimismus dadurch als Hybris zu charakterisieren, dass sie den 21.10.1929 mit Hoovers Auftritt bei der Jubelfeier zum „50. Jahrestag der Erfindung der Glühbirne“ (518) beginnen lässt – an dessen Abend die (Radio!-)Nachrichten vom Börsenkrach eintrafen, dem take-off zur großen Depression, deren Folgen Jahre später Hoover die Wiederwahl kosten würden.

Mochte Hoover in seinen vor-präsidialen Jahren wirtschaftlich erfolgreicher Macher und ‚philanthropischer‘ „Meister der Notfälle“ (519) gewesen sein, zeichnet ihn L. als im Großkrisenmanagement unter sich rapide verändernden Rahmenbedingungen hilflosen Strukturkonservativen: einerseits befangen in Laissez-faire-Ideen („glaubte nicht an staatliche Hilfsmaßnahmen“ 519), betrieb er wirtschaftlich folgenschweren Isolationismus (Tariff Act 1930) – „selbst das Wetter schien an einer Verschwörung teilzunehmen, die Not[…]zu vergrößern. Eine Dürreperiode suchte die Grand Plains heim“ (519) – andererseits versagte seine individuelle Performanz vor dem neuen Schlüsselmedium („Hoover verstand die Bedeutung des Radios; Roosevelt wusste, wie man es nutzen konnte“ 523; vgl. auch 525). Dass der kommende Star der US-Regierung schon vor dem Ende der Präsidentschaft Hoovers breit charakterisiert wird, ist auch sprechend.

Im Zusammenhang mit einer kurzen Impression der massenhaften Individualfolgen der Depression (incl. Andeutungen zu deren Internationalität!) wird 519-522 eine Reflexion auf den Schwenk der seit dem 19. Jh. im Gange befindlichen ‚Demokratisierungs‘-Bewegung hin zum Autoritarismus eingeschaltet: „Die großen Volksmassen hatten auf ihrem Herrschaftsrecht bestanden, aber ihre Herrschaft war[…]gefährlich, weil sie so leicht durch Propaganda verführbar waren“ (521) – bemerkenswert für L.s Auffassung die pejorative Besetzung der Termini „…massen“ und „Propaganda“.

Roosevelt erscheint bei L. als Präsident, der ‚in die Landschaft passte‘: angefangen beim Erdrutschwahlsieg 1932 gegen den vorigen Amtsinhaber, über die massenhafte „Fanpost“ in Weiße Haus (die FDR als Resonanz auf die von ihm kontinuierlich gepflegte Radio-Kommunikation mit der „Öffentlichkeit“ sorgfältig wahrnahm) bis hin zur weitgehend reibungsfreien Zustimmung auch im Kongress zu den zahlreichen – in früheren Jahrzehnten mehrheitlich als ‚unamerikanisch‘ verunglimpften – kontrollierenden Staatseingriffen, die den als Remedium der „nationalen Notlage“ (531) propagierten „New Deal“ ausmachten. Der National Labor Relations Act erlaubte das Organisationsrecht für Arbeiter, die Works Projekt Administration brachte Millionen Arbeitslose durch massenhafte Infrastrukturmaßnahmen ‚von der Straße‘ und „[nahm] auch Künstler und Schriftsteller unter ihre Fittiche“ (535; vgl. auch 537f), mit Hilfe der Federal Communications Commission wurden Zeitungs-Tycoonen wie William Randolph Hearst der Zugriff auf den „Besitz von Radiosendern“ (532) versperrt; lediglich die Initiative zur Gründung einer nationalen Krankenversicherung sei versandet, nachdem die American Medical Association ihre vorherige Unterstützung der Idee zurückgezogen habe (534).

Zwar habe sich bis 1938 die Ungleichverteilung von Einkommen statistisch signifikant gemildert (vgl. 539 zur Entwicklung des sog. Gini-Koeffizienten). Gleichwohl sei krasse Armut Zwangslage des Großteils der schwarzen Bevölkerung geblieben – da auch „NewDeal“-Programme sie oft explizit ausschlossen (536).

In „Feindseligkeit gegen den Paternalismus des Liberalismus“ (541) seien indes diverse „Spielarten des Konservatismus“ (545) gegen den von Roosevelt verfochtenen „New-Deal“ aufgekommen und seit 1934 von der American Liberty League (die Demokraten lancierten den Schmähbegriff „Millionärsunion“, 545) in Stellung gebracht worden; L.s Beispiel ist die langfristige Usurpation der National Rifle Association durch den Großkommerz (543)

Aber als historisch bedeutsamer beurteilt L. die in den 1930ern entstandenen „neuen Geschäftszweige des politischen Consulting und der Meinungsforschung“ (546); ihnen und den Initiator*innen Clem Whitaker und Leonie Baxter („Campaigns, Inc.“), William Randolph Hearst, Emil Hurja (1932 Roosevelts Wahlkampfleiter; 553), George Gallup widmet sie 12 zusammenhängende Seiten (546-557).

Erwähnenswert das Resumé der „Regeln [sc. Whitakers und Baxters], nach denen Wahlkämpfe noch Jahrzehnte später geführt werden sollten“ in 550f, und das Einspielen des Terminus „fake news“ mit seiner Generalverdächtigung öffentlicher politischer Kommunikation (556).

Umstandslos, wenn auch nicht ohne missvergnügten Unterton, konstatiert L.: „FDR[…]setzte seine Segel nach der täglichen Wählerpost und mehr und mehr nach den wöchentlichen Meinungsumfragen. Roosevelt war bereit, zur Verwirklichung seines Programms umfangreiche Machtbefugnisse der Exekutive einzusetzen, aber nicht ohne breite Unterstützung der Öffentlichkeit“ (557).

Gegen Ende des überlangen Kapitels „Elf“ verpasst L. ihrem Bild von Roosevelt einige Schrammen. Sie hebt die strukturellen Benachteiligungen des schwarzen Bevölkerungsteils durch die „Politik des New Deal“ (557) hervor und rechnet sie Untätigbleiben und Blinden Flecken im Handeln des Präsidenten zu: die Geltung der JimCrow-Gesetze sei unangetastet geblieben, ja in ihren Folgen administrativ verstärkt worden (557) – der Entwurf eines „Anti-Lynching-Gesetzes“ aus kongresstaktischen Gründen ohne Unterstützung (558) – allzu ‚lange Leine‘ für die ausgreifende Meinungsforschungspraxis (die methodisch „die Stimmen der Afroamerikaner…zum Schweigen [brachte], 558). Überhaupt sei das Roosevelt-Jahrzehnt bestimmt durch einen Sog zur Entmündigung durch Techniken der „Propaganda“ (zu denen L. auch Gallups Geschäftsmodell zählt): durch rasende Verbreitung von Radioapparaten (und damit des „religiösen Fundamentalismus“ und des „Populismus“, 561ff) bis hin zur, durch Orson Welles‘ fiktives CBS-Radio-Hörspiel „The War of the Worlds“ am 30.10.1938 ausgelösten, Massenpanik – mit „Waren die Massen zu passiv geworden, zu empfänglich für vorgefertigte Inhalte und Meinungen?“ zitiert L. (573), ihrerseits kommentarlos, zeitgenössische Kommentare.

 

Wie es ausgedrückt ist…

 

…verrät Erstes davon, wie Vfin. in den angestrebten ‚Standardwerk‘-Nimbus ihre ‚positionellen‘ Überzeugungen einflicht.

Zu den in diesem Sinne sprechenden Ausdrucksweisen gehören (1) die Auffütterung der Darstellung durch Anekdotisches, (2) die Nutzung anachronistischer Beschreibungs-Formeln, (3) auch komplexere Arrangements:

  1. Beispiele: Der – im Rückblick von L. und vielen gegenwärtigen Zeitgenoss*innen gefühlte – Widerspruch zwischen „these truths“ und wie selbstverständlicher Sklavenhalterpraxis wird illustriert durch die Momentaufnahme der Gleichzeitigkeit der Veröffentlichung der Verfassung und einer Kleinanzeige („ZU VERKAUFEN, EIN ANSEHNLICHES JUNGES NEGERMÄDCHEN, […]hat ein kleines männliches Kind“) im „New York Packet“ vom 30.10.1787 (11-13.18). Und einen ‚Schlenker‘ auf George Washingtons Zahnersatz „aus Elfenbein und[…]neun Zähnen, die seinen Sklaven gezogen worden waren“ (164). – In Trinksprüchen agieren Präsident (Jackson) und Vizepräsident (Calhoun) bundesregierungsinterne Konflikte zwischen Föderalisten und Anti-Föderalisten (vgl. auch 184ff. 361!) diplomatisch aus (275). – Im Vorfeld der umstrittenen „Annexion“ des seinerzeit Mexico zugehörigen Texas durch die USA sei es zu einer fatalen Explosion auf dem Kriegsschiff „Princeton“ gekommen; der anwesende Präsident John Tyler habe die „ohnmächtige Julia Gardiner auf seinen Armen“ gerettet – und wenige Wochen später geheiratet: Ein Fall auch für die Klatsch-Spalten der Presse. Dass L. das Wortspiel des New York Herald („Präsident hat einen Vertrag zur sofortigen Annexion geschlossen…“) kommentarlos zitiert, zeigt die männergesellschaftliche Diktion von 1844. Wie nicht weniger L.s Zitat von Pauli Murrays Wink mit dem Zaunpfahl, der 14. Zusatzartikel sei politisch nicht nur „zur Bekämpfung der Jim-Crow-Gesetze[,…]sondern auch gegen ‚Jane Crow‘ [zu verwenden]“ (610), just 100 Jahre später. – Wie sich Armut in der Great Depression der 1930er Jahre anfühlte, erzählt L. nach Quellen: „Magby war 13 Jahre alt, als seine Eltern sich mit ihm und seinen sechs jüngeren Geschwistern in ein altes Model T zwängten und von Arkansas nach Südtexas fuhren. Die Familie schlief am Straßenrand auf dem Erdboden und versetzte unterwegs die letzten ihrer wenigen Habseligkeiten, um tanken zu können. In Texas angekommen, ernährten sie sich wochenlang von Maismehl, das mit Regenwasser zu einem Brei verrührt wurde. Einen Winter lang lebten sie von Kaninchenfleisch. Erst als Magbys Vater mit Hilfe eines Regierungskredits ein Maultiergespann kaufte, ging es langsam wieder aufwärts“ (538f). Disposition der Leser*innen auf Zustimmung zum „New Deal“.
  2. Für Leser*innen unauffälliger die Verwendung von erst zum Publikationszeitpunkt von L.s Buch (wieder?) populär gewordenen Formeln: „Verschwörungstheoretiker“ werden explizit erst im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 1964 vermutet (747), aber deren Appell schon in der Verfassungs-Ratifizierungs-Debatte 1786 ausgemacht (175). Den Ausdruck „Populismus“ definiert L. bereits (234) am Präsidentschaftskandidaten Andrew Jackson 1824, lange vor Mary E. Leases Engagement für die „People’s or Populist Party“ (406f). Von „Zivilreligion“ (einem erst 1960 durch R. Bellah neu etablierten analytischen Terminus) spricht L. bereits (256) mit Blick auf Verhältnisse um 1810. „Politische Blasen“ (oft unwillkürliche Selbstisolierung im Kontext sog. Sozialer Medien um die Jahrtausendwende) unterstellt L. bereits für 1935 (560). Der Begriff „Totalitarismus“ wird von L. bereits für Selbstverständnisse zuzeiten des Zweiten Weltkriegs angesetzt (618), er wurde, namentlich mit den hier unterstellten negativen Konnotationen, analytisch gängig aber erst 1951, nach dem maßgeblichen Buch von Hannah Arendt (mit deren politiktheoretischen Grundauffassungen L. unschwer überein käme). Was mit der Metapher der „Balkanisierung der Öffentlichkeit“ (811) gemeint sein soll, erahnt zwar der westeuropäische Leser zu Zeiten nach den 1990ern – aber was werden geografisch balkanische Völkerschaften zu dieser (im hegelschen Sinne) ‚schlechten Abstraktion‘ sagen? „Identitätspolitik“ und „politische Korrektheit“ indizieren für L. eine – namentlich für sog. Linke – hochproblematische Grundhaltung, wie sie nach der Jahrtausendwende leitmotivisch avanciert sei; der Sache nach entdeckt sie genetische Frühstufen von „Identitätspolitik“ nicht erst in den 1980ern (813), sondern schon in den „Gründerjahren der Republik“ (853), und von „politischer Korrektheit“ bereits Mitte der 1970er offensiv vertreten.
  3. Hierfür gelten par exemple Beobachtungen am Kapitel „Elf“: Von ungewöhnlicher Sympathie getragen wirkt L.s Darstellung von Person (und Präsidentschaft!) Franklin Delano Roosevelts; es ist wohl kaum nur auf das Unikum dreier Amtsperioden und die besonderen Umstände des Zweiten Weltkriegs (und die Erreichbarkeit von Quellen) zurückzuführen, dass sie runde 100 Seiten des Werkes umfasst, weit bis in Kapitel Zwölf reichend (bei 835 Seiten für 45 Präsidentschaften von Washington bis Trump eine auffällige Proportion). Die Sympathie drückt sich aus in der durchgängigen Erwähnung des eisernen Kampfes Roosevelts gegen das Erscheinungsbild körperlicher Beeinträchtigung durch seine Polio-Erkrankung – und in der Zeichnung der „Ehefrau, der unbeugsamen Eleanor Roosevelt“, die ihre ungemochte Zufalls-Rolle als First Lady nicht nur oft genug als „Vertreterin ihres Mannes“ ausgefüllt habe, sondern auch als eigenständige Promotorin von Frauen in den etablierten Parteien (525-528). Aber es bleibt nicht bei diesen Individualmerkmalen. In einer Art Vorab-Resumé der Historikerin formuliert L. „FDRs Aufstieg stand mit seinen Wurzeln im Populismus des 19. und im Progressivismus des 20. Jahrhunderts zugleich für den Aufstieg des modernen Liberalismus“ (525; vgl. auch 541!): alle diese „…ismus“-Begriffe haben etwas auch für L.s Denke Maßgebliches.

– Erstmals so deutlich fällt in dem Exkurs zur Entstehung von Demoskopie und „Politikberatung“ auf, wie oft und intensiv die Diktion von L. ins Bewertende changiert, z.B.: „Keine andere Entwicklung veränderte die Funktionsweise der amerikanischen Demokratie so gründlich wie die von Whitaker und Baxter begründete Branche“ (550), oder „Politikberater sagen den Wählern, was sie denken sollen, Meinungsforscher fragen sie, was sie denken. Aber keine dieser Branchen hält sehr viel von dem Gedanken, dass Wähler unabhängige Entscheidungen treffen sollten oder dass sie dies können“ (555). Messerscharfe begriffliche Präzision ist L.s Sache nicht, beim narrativen Grundgestus der Historikerin (der sich zuzeiten auch protokollierten Mündlichkeiten ihrer Quellen anschmiegen muss, wie Upton Sinclairs Rede von „Lügenfabrik“; 549, schon 546) und dem Umfang des Werkes verzeihlich. Aber bei den Worten „unabhängig“ und „Branche“ sollte sie genommen werden dürfen. Die Naivität, dass Wähler-Entscheidungen (die etwas von der „Funktionsweise der amerikanischen Demokratie“ ausmachen!) in monadenhafter Unbeeinflussbarkeit fallen, muss ihr nicht unterstellt werden. Der Ausdruck „Branche“ infiltriert den Aussagenzusammenhang aber mit der – spürbar negativ besetzten! – Vorstellung, dass die praktisch unvermeidlichen ‚Einflüsse‘ durch private Finanz-Interessen bestimmt sind. Während „…Demokratie“ für L. in unbeschränkter ‚Öffentlichkeit‘ sich vollziehen müsse…

Als von einem potentiellen Remedium gegen tiefgreifende Verwirrung des durch Massenmedienkonsum sozialisierten Publikums durch „Fake News“ – das (nicht-fiktive!) Paradebeispiel ist die durch Orson Welles‘ kunstfertige Radio-fiction „The War of the Worlds“ am 30.10.1938 ausgelöste Massenpanik! (571ff) – erzählt L. von der „Förderung einer offenen und aufrichtigen öffentlichen Debattenkultur“ – am Beispiel des 1935 in Gang gesetzten „NBC-Radio“-Formats „America’s Town Meeting on the Air“, das „darauf [gezielt habe], die Radiohörer aus ihren politischen Blasen zu befreien“ (560). L.s Angaben zu Nachhaltigkeit und Reichweite des Phänomens bleiben im historisch Vagen – aber darauf kommt’s ihr auch nicht an. Die gewählten sprachlichen Mittel (so führen anachronistische Ausdrücke wie „Debattenkultur“ und „Blase“ die Konnotationen des 21. Jh. mit sich!) machen unzweifelhaft: hier lässt die Vfin. ihre politischen Ideale zur Orientierung auf die 2018 gegenwärtige Zukunft zum Vorschein kommen.

 

Was sich einprägen soll…

 

…ist, was L. für ihre gegenwärtige Heimat am Herzen liegt, bei aller darstellerischen Neutralität, derer die „Standardwerk“-ambitionierte Vfin. sich befleißigt – nennen wir sie Vorrangsthemen.

Die Implikation ist beabsichtigt: es gibt für L. auch defacto nachrangige Themen. Ihre Wahrnehmung und Darstellung ist imprägniert von ihrer Existenz als US-Amerikanerin; das mag die romantisierende Wendung ‚Heimat am Herzen‘ rechtfertigen. Sosehr sie die Exklusionsabsichten des „Nativismus“ (z.B. 265; erstaunlicherweise hierzu kein Lemma im sog. Register des Buchs) schmäht, so harm- und kommentarlos nutzt sie durchweg affirmativ den organizistischen Begriff der „Nation“, ohne dessen fatal vorgefallenen Missbrauch zu reflektieren; das Zitat der „verblüffend originelle[n] und fruchtbare[n] Idee“ [1869] eines ihrer historischen Lieblings-Referenten, Frederick Douglass, eine „composite nation“ zu imaginieren (401), mag das begründen. Wenig anderes könnte die US-amerikanische Erzählperspektive von L. so verdeutlichen als, dass in einem über 50 Seiten lang den 6 Jahren des Zweiten Weltkriegs gewidmeten Kapitel den Ereignissen auf dem europäischen Kriegsschauplatz eher die Rolle von Phänomenen an einem fernen Horizont zukommt. Sogar der – andernorts als Welt-Katastrophe empfundenen (und seither ‚bibliothekenfüllenden‘) – Shoah der Judenheit wird gerade mal ½ Seite gönnt, unter dem Gesichtspunkt einer umständehalber westlich des Atlantiks verpassten Information (624)…

Auch dem amerikanistisch ungeschulten Leser drängen sich ‚Vorrangsthemen‘ schon in Frühstadien der Lektüre auf; als ihren gemeinsamen Nenner mag man den Protest gegen sozial hergestellte Ungleichheit – im Gegensatz zum beim Wort genommenen „created equal“ der „truths“ der Unabhängigkeitserklärung! – bezeichnen. Aber erst 839f formuliert L. explizit (wenn auch nicht vollumfänglich) normative „Fragen“, die schon bis da hin ihre Selektion und Präsentation von ‚Daten‘ gesteuert haben: „Sind Frauen Personen? Ist getrennt gleich? Welche Rolle kommt dem Staat beim Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger gegen Diskriminierung zu? Unterscheidet sich die Diskriminierung aufgrund rassischer Zugehörigkeit von der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder der Sexualität? Gibt es Grenzen für die Redefreiheit?“

Drei Themenkomplexe in L.s Darstellung seien besonders beleuchtet: Ungleichheiten aus Gründen (1) der Hautfarbe, (2) des Geschlechts, (3) der ökonomischen Stärke.

  1. Im Berichtszeitraum bis ins frühe 20. Jh. ist abkürzend von „Sklaverei“ die Rede, deren ‚Objekte‘ primär „Schwarze“ (später im Buch politischkorrekter „Afroamerikaner“ genannt) sind; passiv betroffen sind freilich – mehr oder weniger nur zeitweise – auch Asiaten. – Durchweg ist L. interessiert daran, im Feld des von ihr Dargestellten Akteure ins Licht der wenigstens (von ihr) geschriebenen „Geschichte“ zu rücken, die ihre ‚Sicht der Dinge‘ stützen – wie den Amerika-Inspizienten de Tocqueville (261ff, 269!), durchaus auch gerne solche, die von ihrer jeweiligen Zeitgenossenschaft eher übersehen worden waren. Eine literarische Strategie, die an wenigem so erkennbar wird wie an der Zitation von Gunnar Myrdals Studie „An American Dilemma“, die L.s Generalthese von der „Spannung zwischen dem amerikanischen Glauben an Menschenrechte und persönliche Freiheit[…]und der Ungerechtigkeit[…]in den Rassenbeziehungen“ 1944 vorwegnimmt (611) – aber welche relevante Aufmerksamkeit mag das gefunden haben, auf der Zielgeraden des zweiten Weltkriegs?

Es bedarf der Motive zu nachholender Gerechtigkeit: Dazu gehört literarisch, sowohl wie L. die Kategorie „Sklaverei“ als zeitgenössische ‚Normalität‘ einführt (die nordamerikanischen Kolonisten hätten die vom Londoner Parlament zustimmungslos verhängten Steuern als „Schuld-Sklaverei“ wahrgenommen; 116-121) als auch wie sie eine in ihrer Detailfreudigkeit emotionalisierende Beschreibung einer Sklavenversteigerung einfügt (257f). Und die sog. „Drei-Fünftel-Klausel“ der Verfassung, jener Kompromiss von 1787 zwischen den Moralen der Menschenrechts-Radikalen und der Sklavenhalterei (179f): die chronistische Ernsthaftigkeit, mit der sich L. dieser und deren ambivalenten Folgen fürs Gewicht der Einzelstaaten in den Institutionen der USA immer wieder widmet (das Register weist 7 Passagen aus), trägt zur Generierung von Protestpotential in der Leserschaft des 21. Jh. bei.

Die Darstellung der komplexen Effekte des sog. Second Awakening (256: „Sinn für Theologie der Unabhängigkeitserklärung, vermischt mit dem Zorn auf die Gründerväter,…aus den Kirchen der Schwarzen)“ incl. der Wirkungen des „Pamphlets von David Walker, die die Spannungen zwischen Nord- und Südstaaten verschärfen (258ff), dient zur Plausibilisierung des Bürgerkriegs. Zwar habe dessen Ausgang die Sklaverei ‚abgeschafft‘ (375), aber, von den Südstaaten ausgehend (erste „Jim-Crow-Gesetze“ 1881 [405]) und mit Präsident Wilson 1913 auch ins Unionsrecht eingedrungen (474), zur Jahrzehnte herrschenden „Rassentrennung“ geführt (441 resumiert L.: „…die Konföderation den Krieg verloren. Aber den Frieden hatte sie gewonnen“). Den großen historischen Bogen von förmlicher Rechtfertigung über das kriegsbedingte Teilverbot der Rassendiskriminierung durch Roosevelts Executive Order 8802 (607) bis zur Ent-Legalisierung auch der Rassentrennung durch den Supreme Court bilden die eingehenden Darstellungen der Prozesse Plessy vs. Ferguson 1896 (439f) und Brown vs. Board 1954 (700ff). Aber das auch nur „der Papierform nach“ (707). Verfassung her oder hin – soziale Mechanismen waren hartnäckiger: das hatten schon vor der ‚Brown vs. Board‘-Entscheidung die paradoxen Effekte der „G.I.Bill of Rights“ 1944 gezeigt (644) und tun es, wie an den Protestanlässen von Montgomery 1955 (710ff) über die „Riots von Watts“ 1965ff (756f) bis hin zu „#BlackLivesMatter“ 2013ff (936ff) weithin ersichtlich, bis in die Gegenwart fort, unter Provokation einer Zunahme physischer Gewalt und Gegengewalt.

Dabei seien es nicht nur Afroamerikaner*innen gewesen, die von gesetzlicher Exklusion und naturwüchsigem ‚Rassismus‘ getroffen waren und sind. In historisch ‚langen Wellen‘ entluden sich Schübe von Ausländer-Aversion auch gegen katholische Immigranten aus Irland (265f), „chinamen“ (399), Mexikaner (499f), Japaner ab 1941 (601ff) uswusw. Als Schlusspunkt der einstmals ‚kolonialistisch‘ gerechtfertigten Landnahme gilt L. das Dawes Severalty Act von 1887, die erzwungene Assimilation der Indianer (413f). L. wagt ihren Reim auf diese faktische Inklination der Verhältnisse: „Die Verfassung[…]beruhte auf einer Politik der Identität: der Vorherrschaft der Weißen“ (853).

  1. Es geht um die Rechte von Frauen, die in der Verfassung nicht explizit erwähnten (136f): deutet die Nichterwähnung auf Vergesslichkeit der „Gründerväter“? auf die Unterstellung von selbstverständlichem Gegebensein? oder von ebenso selbstverständlichem Nicht-Gegebensein? Und worauf würden sich Rechte von Frauen (würden sie ‚entdeckt‘? aus Unausgesprochenem expliziert? darüber hinaus ‚erfunden‘? …) erstrecken: auf Schutz der Integrität der Person oder auf Ansprüche zu deren Entfaltung? auf die Sozialität des „Hauses“?

(Ab ca. 1900 spielt die Codierung „Privatsphäre“ in der diskreten justiziellen Spreche für eheliche Intimität eine Rolle (790)! L. anathematisiert diese Codierung durchweg, weil sie die Angewiesenheit auf einen Ehe-Mann als rechtliches constitutivum „der Frau“ transportiert)

auf Partizipation an Potentialen des Öffentlichen – formeller Bildung und wenn, welchen Grades? das Wahlrecht (und wenn, dann zu welchen institutionellen Repräsentativ-Körperschaften?)? das aktive und/oder das passive? der Ausübung ‚politisch‘ entscheidungsbefugter Regierungsämter? Undund…

Die Vielzahl von Fragen danach, für welche Art und welchen Grad an Gleichheit Frauen sich in der ‚Männer-Freiheit‘ je ihrer Zeit einsetzen sollten, ist schier unüberblickbar. Um rechtsgültige Antwort zu erlangen, würden Frauen jedenfalls als Erstes öffentliche Aufmerksamkeit gewinnen – und sich dazu zusammenschließen (und sich um die kollektive Operationalisierung jener Fragen zu politischen Zielen zerstreiten!) müssen. Was auch wiederholt geschieht – L. hebt vier Phasen hervor: vom Rückenwind des Second Awakening (sozialgeschichtlich Phänomen der „romantischen“ Wende gegen den Rationalismus der „Gründerväter“-Generation) gestützt, übernahmen Frauen in den 1820ern die Führung der „Abstinenzlerbewegung“ (250); die Ratifizierung des 15. Zusatzartikels 1870, der die Frage nach dem „Frauenwahlrecht“ wortkarg überging, habe für eine „Spaltung“ der „American Equal Rights Association“ gesorgt (402); die Zuerkennung des Frauenwahlrechts durch den 19. Zusatzartikel 1920 sei aber vielen Frauen inzwischen zu wenig an Gleichheit gewesen und habe 1923 zur Vorlage des „Equal Rights Amendment“ (ERA) an den Kongress geführt (491f); auch das Scheitern der Verabschiedung des ERA 1982 (nach fünfzig Jahren!! 802.813f) bringt L. zusammen mit der Gespaltenheit der Frauenbewegung seit den 1950ern in Radikale, Liberale und Konservative (791ff).

Es fällt auf, dass L. in ihrer Darstellung von zu politischer Wirkung gekommenen Frauen immer mal auch deren „Stil“ der Einflussnahme eine Rolle spielen lässt: die diskrete Einwirkung von Ehefrauen auf die öffentliche Positionierung der amtstragenden Gatten, die phantasievolle Inszenierung von ‚Demonstrationen‘ im öffentlichen Raum (die 471 von L. mit erkennbarer Sympathie geschilderten „Wahlkämpfe im alten Stil“ tragen alle Züge heutiger ‚performances‘), den Gestus des „moralischen Kreuzzugs“ (407) oder das Auftreten „mit äußerster Höflichkeit“ trotz „geballter Faust“ einer Pauli Murray (606), die teatime-Diplomatie von ihres ungeschriebenen Amtes bewussten First Ladies wie der zu Recht historisch prominenten Eleanor Roosevelt (z.B. 607).

Mit Händen zu greifen ist der programmatische Hintersinn, mit dem L. aus einem Briefwechsel von 1776 zitiert. Abigail Adams schreibt an ihren Ehemann John Adams: „Wenn den Frauen keine besondere Sorgfalt und Aufmerksamkeit zuteil wird, sind wir entschlossen, einen Aufstand zu schüren, und wir werden uns nicht an irgendwelche Gesetze gebunden fühlen, die uns weder eine Stimme noch eine parlamentarische Vertretung zugestehen“ – und der Ehemann, angesprochen als Mitunterzeichner der Unabhängigkeitserklärung (und ab 1797 erster Nachfolger Washingtons im Präsidentenamt) antwortet u.a.: „…wir kennen etwas Besseres als die Zurücknahme unserer männlichen Ordnung“ (136).

  1. Das zweifelsfreie Interesse von L. an der Delegitimation von politischer Ungleichheit auf Grund individueller Differenzen bei den ökonomischen Chancen auf den Erwerb von Eigentum (vgl. zuerst 263, auch 421) – vulgo: Arme vs. Reiche – kommt in ihrem Buch relativ zu kurz.

Das mag zurückführbar sein auf den Vorrang des Narrativen in ihrer Darstellung, der Ereignisgeschichte gegenüber Strukturgeschichte begünstigt. Aber es gibt Anhaltspunkte genug, um L. auch dieses Interesse zuzuschreiben: Dass mit den programmatischen „all men“ der Unabhängigkeitserklärung von 1776 faktisch exklusiv ‚weiße‘ „Eigentümer“ männlichen Geschlechts von etlichem ökonomischem Gewicht gemeint waren, weiß L. zwar auch, verschleiert es in ihrer Darstellung der Verfassungsverhandlungen von 1787 erstaunlich dicht – dass rechtliche Operationalisierungen in Verfassungsbestimmungen zum „Wahlrecht“ unterblieben und die Bestimmung der „Anforderungen für das Wahlrecht[…]den [sc. sich ‚vereinigenden‘; FS) Staaten überlassen [wurden]“ referiert sie praktisch kommentarlos (166). Von den 1810er Jahren an sei es zu „einer jahrzehntelang anhaltende[n] Auseinandersetzung zwischen Arbeiterklasse und Kapital“ (263) gekommen. Die Folgen der ‚Finanzkräche‘ von 1792 (188f), 1819 (263), 1873 (410ff), 1893 (426), 1929 (514f), 2008 (914) seien existentiell primär von den besitzlosen Familien zu tragen gewesen, wie in dramatischen Skizzen illustriert (etwa 410.426f); gänzlich ironiefrei spricht L. von den namhaften Auslösern als von „Schurken“ (410). Dass die mit den Namen Frederick Winslow Taylor und Henry Ford verbundene „Rationalisierungsbewegung“ Versprechungen auch einer „Verbesserung der Lebensbedingungen für die Arbeiterschaft[…]oftmals erreicht“ (467) habe, räumt L. ein, lässt aber auch das Zitat der Beschwerde („wissenschaftliches Antreiben“) auf einer Gewerkschaftsversammlung unkommentiert (469).

Strukturgeschichtlich am erheblichsten der „Gini-Koeffizient“. Dieser ökonometrische Indikator für das Maß an Ungleichverteilung der wirtschaftlichen Vermögen ist L. wichtig genug, dass sie nicht nur dessen Erfindung 1912 einen Abschnitt widmet (539f), sondern mit seiner Hilfe im Verlauf ihrer Darstellung den USA wiederholt ‚den Puls misst‘. Um kurz vor Schluss des Buches prosaisch festzustellen, dass der Gini-Koeffizient 2013, hundert Jahre nach der ersten Messung in den USA „den höchsten jemals in einer wohlhabenden Industriegesellschaft registrierten Wert“ angezeigt habe (924): die 1776 als „inalienable right“ für „all men“ postulierte „pursuit of happiness“ (soweit sich „happiness“ in Dollars messen lässt) auf einem faktischen Tiefpunkt.

 

Schließlich: Es gewinnt Farbe, was L. ‚am Herzen liegt‘, besonders prägnant auch in literarischen Miniaturen zu Akteur*innen, die – oft, aber nicht durchweg als ihre Sympathieträger*innen – auch Leser*innen beeindrucken sollen:

  • Unter den „Gründervätern“ lässt L. dreie hervorragen: Benjamin Franklin, als frühes selfmade-Multi-Talent (Drucker [93], Zeitungsherausgeber [94], Anschieber von „Unions“-Ideen [100f.105f], Wissenschaftsmanager (101f), später (defacto irrender) Bevölkerungsstatistiker [103f], atlantikreisender Defacto-Botschafter der nordamerikanischen Kolonien am Ort des formell herrschenden Westminster Parliament [112ff.120f] – die aus anderen Quellen bekannte Figur des aufklärerischen Blitzableiter-‚Erfinder’s bleibt ganz unerwähnt) präsentiert, habe, in der Würde des hinfälligen elder statesman (14.172f), noch im Verfassungskonvent 1787 für die Staatswerdung der USA entscheidende Überzeugungsarbeit geleistet. – Thomas Jeffersons historisches Verdienst bleibe, die ‚Blaupause‘ für den Text der Unabhängigkeitserklärung geschrieben zu haben (und sich dabei auch vom Rationalisten Franklin hineinkorrigieren zu lassen: 13!), seine Studien der Schriften von John Locke und Thomas Paine operationalisierend (238: „die Feder der Deklaration“); sein Glanz oder auch Schatten (?!) reicht in L.s Darstellung bis ins Freiheits-Pathos der ‚eigenen Scholle des Kleinbauern‘ in den Debatten des 19. Jh. um Territorialerwerb im Westen (296f.318f.407f.434). – James Madison konnte den sog. „Virginia Plan“ (163) dem Verfassungs-Konklave (die Delegierten hatten sich „für einen Zeitraum von 50 Jahren“ ein Schweigegebot auferlegt! 165) von Philadelphia als Grundlage für die 1787 beschlossene Verfassung vorlegen; er war es auch, der sich umfassende protokollartige Notizen über die Verhandlungen anfertigte (152.197) und wenige Jahre darauf zwölf „Verfassungszusätze“ entwarf (180), von denen zehn 1791 als „Bill of Rights“ (subjektiver Defensivrechte gegen den Staat) „von der erforderlichen Dreiviertelmehrheit der Staaten gebilligt“ wurden (wie es Jefferson zur Bedingung seiner Zustimmung zur Verfassung gemacht hatte).
  • Ihre Achtsamkeit auf Frauen überhaupt markiert L. von Anfang ihres Buches an durch die einfühlsame Schilderung der (lebensgeschichtlich in der öffentlichen Unbemerklichkeit des „Hauses“ verschwindenden) ‚Neben-Figur‘ Jane Franklin, Benjamins Schwester und intensiven Brief-Partnerin (92-94, 124f, 160). Aber erinnerungswürdig macht ihre Darstellung auch Frauen, einfach weil sie sich zuzeiten – dafür wenig aufgeschlossenen Zeiten! – öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen wussten: So habe die Sklavin Bett 1781 unter Berufung auf das Sklaverei-Verbot der Verfassung von Massachusetts erfolgreich ihre Freilassung erklagt und sich fortan „Elisabeth Freeman“ genannt (157). – Maria W. Stewart, „dunkelhäutig und sehr schön“, habe als erste Farbige in Zeitungs-Essays dem revolutionären Impuls des Second Great Awakening Ausdruck verliehen, der aufgrund der Überzeugung von „spirituelle[r] Gleichheit[…]Proteste gegen die Sklaverei und die politische Ungleichbehandlung der Frauen [stärkte]“ (242ff; auch 254f). – Margaret Fuller, , intellektuelle Überfliegerin, Radikale im Kampf um Frauenrechte, erste Auslandskorrespondentin (der New York Tribune) in Rom, 39-jährig mit 2-jährigem Sohn Opfer eines tragischen Schiffsunglücks geworden, „wenige Seemeilen vor New York City“ (315f.322) - -
  • Vorgestellt werden untadelige und besonders uneitle Persönlichkeiten: So Walter Lippmann, die von L. zeit dessen Lebens (1889-1974) sichtlich bewunderte ‚Instanz‘ politischer Zeitdiagnose, die die wichtigsten Fragen zum Verständnis der „Kontroverse[…]zwischen ‚diesen Wahrheiten‘ und dem Gang der Ereignisse“ (14) zu stellen gewusst habe; das Register in L.s Buch verzeichnet 18 Lippmann-Referenzen (incl.  381, wo L. einer den Spitzenplatz des Mottos zu Teil III ihres Werkes reserviert hat) , die von enger Geistesverwandtschaft zeugen. – Und etwa Wendell Willkie (583ff), der faire Gegenkandidat FDRoosevelts bei der Präsidentschaftswahl 1940, den (dito: fair!) Präsident  Roosevelt als Sonderbotschafter in heiklen Missionen alsbald zu Churchill (586) und 1942 „auf eine Weltreise[sc. entsandte FS], um für die Idee der Vereinten Nationen zu werben“ (600).

Und Träger besonderer Sympathie L.s, denen sie bisweilen Portraits sogar ihres körperlichen Erscheinungsbildes und dessen Performanz widmet: Frederick Douglass, als 20-Jähriger der Sklaverei entflohenen Afroamerikaner (387), Autodidakten (343f), „in den 1840er Jahren einer der bekanntesten Redner der Nation“ geworden (310ff), lässt L. oft als kommentierendes Alter Ego auftreten, mit seiner Biografie der authentische Advokat der Verfassungswidrigkeit der Rassendiskriminierung, bis hin zu einem letzten öffentlichen Disput bei der Weltausstellung Chicago 1892 – an die Schwelle des für jahrzehntelange weitere Repression maßgeblichen SupremeCourt-Urteils 1896 zur Rassentrennung. – Abraham Lincoln, nach jahrelangem Lernprozess in der Sache und in seiner Rhetorik (329-332.337.355), diversen Wahlniederlagen, auch Parteispaltungen, wurde erfolgreicher Präsidentschaftskandidat 1860, ‚Kriegs-‘ und schließlich politischer ‚Versöhnungs‘-Präsident, in persona zum Ende Opfer des ersten Präsidenten-Attentats (377), schließlich ein Märtyrer-Mythos (378): im Buch Objekt von für L. ungewöhnlichem literarischen Pathos. – Martin Luther King, „als junger Mann war er mager und still“, 1995 „auserkoren“ zur Anführung der Solidaritätsproteste in Montgomery, reifte an der „uralten Kunst des Predigens“ (710) heran zum Gesicht des „Bekenntnisses zu den Bürgerrechten“, das durch ihn nicht nur auch zur „religiösen Erweckungsbewegung“, sondern für L. gar zum „Credo der Nation“ wurde (712), nicht zuletzt wegen der von ihm trotz einer wachsenden Zahl von Antipoden unter schwarzen Protestlern durchgehaltenen Gewaltlosigkeit. Ebenfalls, 1968, ermordet. – Barack Obama, Professor an der Chicago Law School, im Wahlkampf 2008 spektakulär mobilisierender ‚Hoffnungsträger‘ („Seine Stimme hob und senkte sich in den Kadenzen von Martin Luther King jr. und blieb fest und kräftig mit der Entschlossenheit von Franklin Delano Roosevelt“; 915), 2008-2016 als erster Farbiger im Präsidentenamt, schon 2009 erklärtermaßen ‚auf Vorschuss‘ Friedensnobelpreisträger: Zwar gelang ihm in einem ‚Kairos‘ (Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses und „mit dem Rückenwind der Geschichte“; 920) das Jahrhundertwerk eine „nationale Pflichtkrankenversicherung“ gesetzlich zu etablieren, aber er musste stante pede eine „wütende Kampagne für die Rücknahme“ von ‚Obamacare‘ erleben (921) – und nach Verlust der Kongress-Mehrheiten (929) und unter Bedingungen ideologisch polarisierter ‚Öffentlichkeit‘ eine Blockade reformerischer Impulse, die journalistische Beobachter anfangs von einem „new New Deal“ hatten sprechen lassen (920).

Oft werden Sympathieträgern Schwächen und Versäumnisse am ehesten übelgenommen, so auch von L. den ihren: George Washington, dem ‚Ur-Präsidenten‘, der manche ‚Demokratie‘-Defizite der noch jungen Verfassung durch Entscheidungen seiner Amtsführung – im Rückblick Späterer als präzedenzfall-normativ aufgefasst – in ‚richtiger‘ Weise nachgebessert habe, dessen lebenslang hartnäckige Sklavenhalterei (179f.196). Barack Obama dessen – entschuldigend dem „Vernünftigkeits“(919)-Gestus des vormaligen Jura-Professors zugeschriebene (917) – Unlust, sich im Konflikt „der hektischen Hauptstadt“ durchzusetzen (927). Und auch Frederick Douglass, ihrem rhetorischen Lieblings-Advokaten und „meistfotografierten Mann im Amerika des 19. Jahrhunderts“, hätte L. den – von ihr später als „identitätspolitisch“ angeprangerten – Zungenschlag seines Urteils über die Möglichkeiten der Kunst-Fotografie (340) ankreiden müssen….

  • Auch von ambivalenten Figuren zeichnet L. ein differenziertes Bild:

Den 7. Präsidenten der US-Geschichte, Andrew Jackson, charakterisiert L. umstandslos als „provinziell und wenig gebildet“ (234), aber zugleich als fähig, öffentlichkeitswirksam „seinen Mangel an[…]Klugheit, Bildung, politischer Erfahrung[…]in Stärken [zu] verwandeln“ (235) – ein Schelm, wer bei diesen Formulierungen nicht auch an den 45. Präsidenten Donald Trump denkt. L.s Vorweg-Summierung „Jacksons Aufstieg zur Macht steht für die Geburtsstunde des amerikanischen Populismus“ (234)“ aber ist in der Sache die paradoxe Zielmarke von L.s Ambivalenz (vgl. auch 427!!). Dass L. die Differenz von ‚rechtem‘ und ‚linkem‘ Populismus kennt und beachtet, wäre breit belegbar. Zugleich aber ist deutlich ihre eigene Widerständigkeit gegenüber dem sog. Modernisierungsprozess, insofern der die Etablierung der Konstellation ‚Eliten vs. Durchschnittsmenschen‘ (689f) vorantreibt, wie sich auch zeigt an der changierenden Bewertung der im 20. Jh. politik-analytisch entwickelten Kategorie „Masse“ (443ff). So bleibt wenig verwunderlich, dass L. immer wieder „Jackson“ als historisches Paradigma in Erinnerung ruft (417.471.685.884).

Ähnliches gilt für Mary E. Lease. Nicht von ungefähr lässt L. die auffällige Volkstribunin in ihre geschriebene „Geschichte der Vereinigten Staaten“ eintreten mit der rauschenden Metapher „[sie] fegte durch die Prärie wie in Tornado“ (405), und sogar aus der Zuschreibung einer „politischen Obsession“ (409) durch unablässigen Protest gegen „Finanzkapitalismus“, jenen „Betrug am Volk“ (412) spricht ein Hauch Heldinnenverehrung (wozu L. sonst kaum neigt). Jemand, der – nein: die! – die Vernachlässigung der Lebensinteressen der sog. einfachen Leute (durch korruptionsverdächtige Regierungen wie namentlich die von Präsident Grant; 410) nicht nur verbal attackiert, sondern auch politik-systemisch via Partei-Gründungen (mittel-erfolgreich – dreie sind ihr zuzuschreiben; 406.420) angreift, verkörpert L.s Idee der Realisierung von Politik unter Maßgabe von „these truths“. Dass Mary E. Lease in ihrem programmatischen Kampf auch fürs Frauenwahlrecht 1892 beim Konvent ihrer People’s Party „hintergangen“ (425) wurde, möchte sie noch als ‚Opfer‘ erscheinen lassen; aber dass sie sich indes in ihrem populistischen furor mit „Rassismus und Nativismus“ argumentativ vergreift (421f) und blind bleibt für die exkludierenden Folgen des auch von ihr geforderten „australischen Wahlverfahrens[…]geheimer Abstimmung“ (422), kostet ihr bei der ‚Globalistin‘ L. entscheidende Sympathien.

William Jennings Bryan. Ausrufezeichen. Einfach so wird der Leser sich ihn vorstellen können sollen, nach L.s Darstellung: den Südstaaten-Demokraten mit „Schnürsenkelkrawatte und Rindslederstiefel[n] und einer „Stimme[, die] drei Häuserblocks weit [reichte]“, der „den Populismus von den Plains an den Potomac [brachte]“ (423f). Von einem „an Shakespeare geschulten Rhetoriklehrer“ (918) trainiert und Initiator „progressistischer“ Reformen (445), gelang es ihm, dreimal (1896, 1904, 1908), wenngleich insoweit erfolglos, die Präsidentschaftskandidatur der Democrats zu erlangen, die seitdem zur „Partei des Volkes“ (423) mutiert waren. L. referiert die journalistische Nachrede auf Bryan als „begabten Schwätzer“ (431) zwar kommentarlos, nimmt ihn aber auch in Schutz davor, wg. seines Kampfes gegen das „Unterrichten der Evolutionslehre an Schulen“ (477, bes. der Prozess gegen den Lehrer Scopes in Tennessee: 506-510) als „Fundamentalist“ abgestempelt zu werden: politisch-religiös ein ‚SocialGospeler‘, habe er schlicht Darwinismus und Sozialdarwinismus in den einen Topf seines „Kampfes gegen die Plutokratie“ geworfen (477). Wenige Tage nach Scopes‘ Verurteilung starb Bryan 1925. L. zitiert Lippmanns philosophische Deutung der Kontroverse als „Dilemma“ der „Wahrheits“-Fähigkeit der Gesellschaft – und schließt ihr Kapitel „Zehn“ ratlos (513).

Schließlich die erstaunliche Phyllis Schlafly: Noch eine (Anti-?)Heldin L.s., deren öffentliche Wirksamkeit von 1963 bis 2016 einen der Roten Fäden ihrer Darstellung, namentlich des Aufstiegs des „Konservatismus“ (542.615.641.720.948), ‚personalisiert‘. Von ihr zur ‚professionellen Hausfrau‘ („rosa Kostüm, Pumps, sechs Kinder“: 797) stilisiert, habe sie sich ermannt resp. ‚erfraut‘, dem Inklusionstrend der Modernisierungsprozesse politisch-taktisch den Wind aus den Segeln zu nehmen. „[A]ntikommunistische Kreuzzüglerin, Mc-Carthy-Anhängerin und Goldwater-Förderin“ (797) sei sie zwar 1964 im Ringen um mehr Frauen-Repräsentanz in der Republikanischen Partei gescheitert, habe aber, hartnäckig genug um einen Kurswechsel der ‚Grand Old Party‘ kämpfend (797.801, statt eine eigene Partei zu gründen!), in den späten 1970er den Weg für Reagan bereitet“ (808ff), indem sie den – seinerzeit hochemotionalisierten – Kampf ums Recht auf Abtreibung mit dem um das – seit 1924 (!) im Kongress schlummernde – Equal Rights Amendment (798) öffentlich motivationsstark zu verbinden wusste (801f). Noch 2016, wenige Monate vor ihrem Tod, habe sie – weiterhin im „rosafarbenen Blazer, die blonde Toupierfrisur…so tadellos wie eh und je“ – für die Wahl von Donald Trump („wahrer Konservativer“) geworben (948).

  • Die eine erwähnenswerte Ausnahme von L.s Selektionsprinzip („der Sozial- und Kulturgeschichte…nur wenig Aufmerksamkeit“; 19) bildet der romantisch angehauchte H.W.Longfellow, den L. zum Rhapsoden der „Vereinigten Staaten…“ stilisiert. L. erhebt dessen Gedicht „The Building oft he Ship“, indem sie die skrupulösen Mühen des Dichters 1849 um den angemessenen Schluss ausbreitet (324), zum ‚Staatsstück‘: Lincoln, seinerzeit noch nicht Präsident, habe darüber Tränen vergossen (325), FDRoosevelt habe es, persönlich „auf grünem Briefpapier“ abgeschrieben, 1941 seinem Sonderbotschafter Willkie  mitgegeben, um den kriegsbedingt innenpolitisch angeschlagenen Churchill der Solidarität der USA im Krieg gegen NS-Deutschland zu vergewissern (686).

 

Auf engem Raum kristallisiert sich der Zusammenhang von L.s Vorrangsthemen und Arbeitsweise in der seitenlangen Passage, die sie dem „Originalismus“ widmet (824-840): einer juristischen Hermeneutik der Interpretation v.a. der US-Verfassung im angeblich ursprünglichen Wortsinne der Formulierungen und erkennbaren „Absichten der Gründerväter“ (825), deren maßgebliches Aufkommen mit der Berufung von Antonin Scalia an den Supreme Court (1986) verbunden sei (833f).

Im engeren Sinne der Ereignisfolge bringt L. das Aufkommen des „Originalismus“ zusammen mit dem Richtungswechsel der „National Rifle Association“ Mitte der 1970er Jahre (818ff, hier 822f). 1982 habe der Senats-Unterausschuss für Verfassungsfragen festgestellt, „dass der 2. Zusatzartikel fast zwei Jahrhunderte lang falsch ausgelegt worden sei“ (824). Dabei habe sich indes der „Unterausschuss weniger auf irgendetwas [verlassen], was aus der Feder von James Madison stammte, als auf die sehr zeitgenössische Rechtswissenschaft, die von der NRA finanziert worden war. Von 27 juristischen Fachartikeln, die in den Jahren von 1970 bis 1989 publiziert wurden und die Auslegung des 2. Zusatzartikels durch die NRA guthießen, stammten mindestens 19 von Autoren, die bei der NRA oder anderen im Bereich Waffenrecht engagierten Gruppen beschäftigt waren oder von einer solchen Gruppe vertreten wurden“ (825). Mit dieser Argumentation greift L. natürlich in den Werkzeugkasten des Investigativjournalismus (in der Manier der „Historikerin“ Ida Tarbell; 454f). Aber es gibt auch noch eine weiter reichende Perspektive:

L. schreibt ihre „Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika“ in der Überzeugung, dass die – und insbesondere deren Verfassung incl. der nachgetragenen amendments – die punktuelle Emergenz eines gesellschaftsgeschichtlichen Prozesses sei, der ebenso unabgeschlossen sei wie das gelebte Leben der in diesem Rechtsrahmen koexistierenden Menschen. (In diesem Sinne zitiert sie den alten Jefferson von 1816 „…Gesetze und Institutionen müssen Hand in Hand mit dem Fortschritt des menschlichen Denkens gehen“ 256). L. konstatiert, ganz Historikerin: Zuzeiten der Unabhängigkeitserklärung sind in der Formulierung von „these truths“ bloß-vorgebliche Universalismen geltend gemacht worden, in denen sich – unterbewusst oder einzelfallweise auch offensiv zur Schau gestellt – dominierende Partikularismen maskiert haben, zu Lasten von Sklaven, Frauen, Armen. ‚Gefühlte‘ Menschenrechtsverstöße, die wirksam weniger durch individuelle Argumentationen ‚entlarvt‘ werden können als durch solidaritätsgetragene Proteste von Entrechteten aufgehalten werden müssen, die die prozeduralen ‚Kandaren‘ missachten.

Aber um den „Originalismus“ anzuprangern, weil er jenen gesellschaftsgeschichtlichen Prozess delegitimiert, wechselt L. geschmeidig (etwa 826f) in den Sprechgestus der streitbar plädierenden Feuilletonistin.

 

Was umstritten bleibt, …

 

…ist die Art der Gegenwärtigkeit des Vergangenen, um die es L. geht. Die – ihrerseits schon historisch! – prominenteste Unterscheidung von Arten der Gegenwärtigkeit des Vergangenen bietet Friedrich Nietzsches „Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück“ „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ von 1874 (aktuell zugänglich in der Kritischen Studienausgabe in 15 Bänden [hg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari], München-Berlin/New York 1980, Bd.1, 243-334). (Schon dass diese Ausgabe „Kritische“ heißt, weist darauf hin, dass sich die von Nietzsche gewählte Terminologie der „für das Leben“ nötigen Unterscheidungen bei den Profis der ‚Geschichtswissenschaft‘ nicht gegen den quasi-positivistischen mainstream des Bescheidwissens hat durchsetzen können – aber das nur nebenbei.)

Dass L. Nietzsches Unterscheidung des Monumentalischen, Antiquarischen, Kritischen im Verhältnis zum Geschehenen kennt, darf mit einiger Vorsicht aus ihren knappen Erörterungen in der „Einleitung“ (namentlich 15-17) erschlossen werden. Dabei finden sich Schnittmengen und Divergenzen. L.s Plädoyer für „die Betrachtung der Geschichte als einer Form des Prüfens“ (15) steht Nietzsches Zuordnung des Modus des „Kritischen“ zur Modalität des „Lebendigen“ als „dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen“ (Nietzsche aaO 258) so nahe, dass man anachronistisch annehmen könnte, Nietzsche habe 1874 nicht nur Walter Benjamins 1939/40 geschriebene „Thesen über den Begriff der Geschichte“ (posthume Erstveröffentlichung 1942) beifällig gelesen, sondern auch L.s literarische Behandlung ihrer „Vorrangsthemen“ zur Kenntnis genommen.

Indes fällt L. in dieser Passage selbst einer unzureichend geklärten Spannung zwischen Selbstverständnis und Arbeitsweise zum Opfer: Einerseits umschreibt sie das „Prüfen“ als den ‚wissenschaftlichen‘ Gestus „skeptischen Hinterfragens“ von vor Augen Liegendem, bloß Erscheinendem, im abstrakten Gegensatz zur Blindheit religiöser Reverenz in „Glaubensdingen“ (16). Sie destilliert aus der Denke der Gründerväter(-Generation) die strategischen Begriffe „Tatsache, Wissen, Erfahrung, Beweis“, ihr zufolge ursprünglich „Worte[…]aus dem Rechtswesen“ und „im 18. Jahrhundert[…]auch in der Geschichtsschreibung und [sic!FS] in der Politik [verwendet]“, und nimmt sie als Prädikatoren von „Diese Wahrheiten: Das war die Sprache der Vernunft, der Aufklärung, der Forschung und der Geschichtsschreibung“ (17) - eine voreilige Identifikation des „Wahrheits“-Kriteriums wissenschaftlichen Wissens auch von der „Geschichte“ mit dem experimenteller Naturwissenschaft (auf der Linie der „Gerichtshof“-Metaphorik Kants in der KrV). Dabei ist andererseits „Prüfen“ im von L. programmatisch praktizierten Sinne nur sekundär ein Akt der bücherschreibenden Historikerin, sondern zuerst ein Akt des – in ihrem Sinne – politischen Lebens von Bürger*innen auf dem Wege kollektiver Selbstbestimmung, dessen Verzerrung und Entkernung durch die Folgen experimenteller „Wissenschaft“ sie zumal in den Teilen III und IV ihres Werkes problematisiert! – Dies mag zum Umriss des begrenzten Anspruchs dieser resumierenden Ausführungen genügen. Erst recht nicht weiter nachgegangen werden soll einer nahe liegenden Spekulation: Ist doch zu vermuten, dass L. in ihrer programmatischen Inklusions-Geneigtheit mit Nietzsches weiteren Entfaltungen seines Begriffes von „Leben“ heftig überkreuz geraten würde, die sie kurzerhand würde als „sozialdarwinistisch“ etikettieren müssen.

Offenkundig ist L.s Fixierung auf den Terminus „Wahrheit“. Nicht nur platziert sie ihn, als Zitat des Leitsymbols der Unabhängigkeitserklärung, im Titel ihres Buches. Sondern sie nutzt ihn, sparsam aber durchs ganze Buch hindurch, als wiederkehrenden ‚Merkposten‘, um Leser*innen ihr (und, wie von L. angestrebt: auch deren!) Interesse an der Stabilisierung dieses einen unverzichtbaren Bezugspunkts gelingender symbolischer Kommunikation bewusst zu halten: vom Appell an den (wie L. es nennt) „[unbequemen Weg] zwischen Ehrfurcht und Anbetung auf der einen und Respektlosigkeit und Verachtung auf der anderen Seite“ (19, am pathoshaltigen Ende der Einleitung) bis hin zu ihrer (bis in Formulierungsdetails dazu komplementären) Verzweiflungswendung „Jede der Wahrheiten, auf die die Nation gegründet worden war und für die so viele Menschen gekämpft hatten, wurde infrage gestellt. Der Gedanke der Wahrheit selbst wurde hinterfragt“ (888). – Grund genug, L.s Sprachgebrauch noch ein wenig genauer zu verfolgen.

Hermeneutische Zwischenbemerkung: Dem schlechthin amerikanistisch-quellenunkundigen Leser bleibt nichts anderes, als L. ‚beim Wort zu nehmen‘ mit der Frage ‚Welche „Vereinigten Staaten von Amerika“ eigentlich ‚gibt es‘ laut L.s Darstellung von deren „Geschichte“?‘ Diese Fragestellung des Lesers nimmt den Titel von J.L.Austins sprechakttheoretischer Schrift „How To Do Things With Words“ auf und teilt den Anspruch der von der sog. Kritischen Theorie gepflegten Methode „Immanenter Kritik“ – ohne dass dies hier weiter begründet werden könnte.

Von einem ‚Bezugspunkt gelingender symbolischer Kommunikation‘ war oben die Rede – soziologische Systemtheoretiker wie Niklas Luhmann sprächen von einer „Kontingenzformel“. Kontingenzformeln garantieren in sozialen d.h. kommunikativen Systemen die Anschlussfähigkeit für Dies und Das, sprich: dass kommunikative Akte von Systemzugehörigen für den Erhalt des Systems sorgen, ohne dass die propositionalen Gehalte des jeweiligen Kommunikationsbeitrags übereinstimmen müssten. Die ‚Anschlussfähigkeit für Dies und Das‘ sichert schon die Unterbestimmtheit von „these truths“ im Wortlaut der Unabhängigkeitserklärung – die geradezu L.s Darstellung der „Geschichte…“ erst provoziert. Als im Lauf der Dinge die stillschweigend Akzeptanz jener einen Kontingenzformel erodiert und die Disziplinierung der Kommunikation zur ‚symbolischen‘ (N.Elias‘ Zivilisationsprozess!) in deren gewaltförmige Körperlichkeit, den Befreiungskrieg, zurückgefallen war, resumiert L. auf ihre Weise analytisch „Die Wahrheiten der Konföderation erkannten die Wahrheiten der Union nicht an“ (359). Das ist aber nur das eine, was auffällt.

Bemerkenswerter ist fürs Verständnis von L.s diesbezüglichen Sprachgebrauch der schillernde Umgang L.s mit der Grundsatzkritik an der „Moderne“, die sie Richard J. Weaver zuschreibt– im Buch eine leicht überblätterbare ideengeschichtliche Passage. Aus dessen ‚fortschritts‘-kritischem Werk „Ideas Have Consequences“ von 1948 zitiert sie „Die Ablehnung all dessen, was über die Erfahrung hinausgeht, bedeutet unweigerlich[…]die Ablehnung der Wahrheit“ und referiert, „im Gefolge der wissenschaftlichen Revolution hätten ‚Tatsachen‘ – bestimmte Erklärungen für die Funktionsweise der Welt – die ‚Wahrheit‘ – ein allgemeines Verständnis der Bedeutung ihrer Existenz – ersetzt“ (675). Insoweit respektvoll kopfschüttelnd. Weaver möge „der ernsthafteste Denker des Konservatismus gewesen sein“ (dessen „anschwellende Flut“ [674] im chronologisch letzten Viertel der „Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika“, der passierten wie der nachträglich aufgeschriebenen, L.s ideologischer Hauptgegner wird). Aber die – trotz allen Kollateralschäden – bekennende ‚Fortschritts‘-Freundin L. lehnt Weavers Konstrukt ‚Tatsachen statt Wahrheiten‘ nicht nur ab, sondern nutzt es als Sprungbrett, um das Alternativ-Modell ‚Tatsachen als Wahrheiten‘ zu exerzieren. – Eine kritische Erörterung von L.s genereller Zuweisung des hier Weaver zugeschriebenen Begriffs von „Wahrheit“ in die (für die Modernistin L.: imaginären) Dimension der „Mysterien, Wahrheiten, die nur Gott weiß“ (18) muss hier unterbleiben.

Das Modell ‚Tatsachen als Wahrheiten‘ steht Pate für die mittlerweile hermeneutisch als naiv geltende Unterscheidung von „Tatsachen“ und deren „Interpretation“, die L. gelegentlich ihrer Nacherzählung „vom neuen Metier der Public-Relations-Leute“ Ivy Lee zuschreibt (503), kommentarlos. In speziell dem Sinne dieser Unterscheidung ist L. – positionelle Neutralität der „Standardwerk“-Vfin. hin oder her – ein Sympathisieren mit dem Populismus („linke“ Version!) zuzuschreiben; ihre (im Buch relativ frühe) summierende Bemerkung „Das Volk wollte selbst entscheiden, […]was stimmte und was nicht“ (269), wird nirgends relativiert, im Gegenteil. Und (im Buch spätere) literarisch eindeutige Gewichtungen in der ‚KleineLeute vs. Eliten‘-Konstellation (z.B. 406ff oder die C.F.Mills-Rezeption 689f) stützen das zusätzlich.

 

Michael Hochgeschwender, Vf. der eingangs erwähnten L.-Rezension, hat praktisch zeitgleich mit L. ein ‚Konkurrenz-Buch‘ publiziert: Michael Hochgeschwender, Die Amerikanische Revolution. Geburt einer Nation 1763-1815, München [2016] 32018 [im Folgenden: H+Seitenzahl]. Er bietet zum chronologisch ersten Teil ‚desselben‘ sujets ein weitgehend von L. unterschiedenes „Narrativ“: die Erzählperspektive ist britisch, der Darstellungsmodus deutsch. Einleitend skizziert er ein forschungsgeschichtliches Spektrum differenter Lesarten und Deutungsergebnisse, wobei er Wert darauf legt, deren jeweilige Selektivität – durchaus vorwurfsfrei – aus der Bindung an ‚weltanschauliche‘ oder methodische Programmatiken herzuleiten. Dies mag die vorangestellte Trivial-These „Historische Ereignisse[…]sind beständig interpretationsbedürftig“ (H 9) illustrieren; indes erscheint schon diese These nicht elementar genug, denn schon was als „Ereignis“ identifiziert wird, ist Ergebnis einer „Interpretation“: der bekannte hermeneutische Zirkel. Eher vorwurfsvoll gemeint ist freilich die (in der vorgenannten L.-Rezension vorgetragene) Kritik an L.s universalistischer Lesart der „these truths“ der Unabhängigkeitserklärung, namentlich der „Liberty“. Dabei ist diese Kritik nicht einfach Resultat eines „Faktenchecks“ (vgl. L.s Rekonstruktion 504!), sosehr der im Sinne einer Prüfung und Gewichtung von ‚Quellen‘ triftig sein mag – dass es den gegen „London“ rebellierenden ‚Festlandskolonisten‘ der 1760/1770er Jahre motivational eher um eine Gleichbehandlung als „freie Briten“ gegangen sei, hat auch für den ‚quellen‘-unkundigen Leser etwas Einleuchtendes. Aber diese Kritik ist ihrerseits Ausdruck einer Perspektiven-Differenz, wie Hochgeschwender am Ende der „Einleitung“ implizit einräumt „Die Revolution in Nordamerika war kein universalistisches Projekt, aber sie setzte ein solches in Gang“ (H 22). Das aber ist L.s ‚Punkt‘. – Apropos ‚Quellen‘. Hochgeschwenders Buch, das mit abundanter Detailfreude seiner britischen Erzählperspektive beeindruckt, bleibt diesbezüglich quasi-investigativjournalistisch zugeknöpft; auch in seinen „Anmerkungen“ plus „Literatur“ (H 453-497!) finden sich lediglich Hinweise auf Sekundärliteratur.

 

Die ‚Art der Gegenwärtigkeit des Vergangenen, um die es L. geht‘, zu thematisieren war angekündigt. Eine thetische Antwort vorweg:

Die Gegenwärtigkeit des Vergangenen besteht in der (politischen) Zukunftsorientiertheit von dessen Erinnerung, jedenfalls wird es um deren willen – und dann eben so! – zur Darstellung gebracht: das Vergangene in der Imagination künftigen Rückblicks, aber in terms der je gegenwärtigen Hoffnungen der Lebenspraxis.

„Unabgegolten“ würde Jürgen Habermas die titelgebenden Ideen der Unabhängigkeitserklärung nennen – im Sinne von L.s Lesart von deren Interpretation durch Lincoln (337). Habermas war es auch, der dasjenige Theorem formuliert hat, das eine geschichtsschreiberische Wahrnehmung und Darstellung wie die von L. gedanklich zu rechtfertigen in der Lage ist. In seinem ausgreifenden Forschungsbericht „Zur Logik der Sozialwissenschaften“ (PhR 1967, Beiheft 5, 166f) macht er die – seinerzeit noch nicht wie heute globalisierte – Leserschaft der „Philosophischen Rundschau“ mit Arthur C. Dantos (damals nur auf Englisch vorliegenden „Analytical Philosophy of History“ [Cambridge 1965]) bekannt, des Näheren mit der von Danto „anhand der hypothetischen Rolle eines letzten Historikers [entwickelten Idee aller möglichen Geschichten]“ (ebd. 166). Die er, humboldtisch gebildet wie er ist, unverzüglich auf eine Einsicht schon Wilhelm Diltheys zurückverweisen lässt:

„Man müsste das Ende der Geschichte erst abwarten, um für die Bestimmung ihrer Bedeutung das vollständige Material zu besitzen[…]Beständig wechselt unsere Auffassung von der Bedeutung des Lebens[…]Was wir unserer Zukunft als Zweck setzen, bedingt die Bestimmung der Bedeutung des Vergangenen“ (Dilthey 1910, nach Habermas ebd. 167). (Dass Diltheys vergleichsweise irenischer Begriff von „Leben“ mit dem des Zeitgenossen Nietzsche kaum kompatibel ist, sei am Rande angemerkt)

Oder, wie es L. in den Schlusspassagen ihres ‚Standardwerks‘ ausdrückt: „Eine Nation kann sich ihre Geschichte nicht aussuchen, sie kann nur ihre Zukunft wählen“ (961).

 

Nur ca. 60 Seiten zuvor im Buch ergibt sich L., eine halbe Seite lang die Depravation, ja Zersetzung des ihr als normativ geltenden „Modells des Bürgerseins“ durch „Das Internet“ (899) anprangernd, einer depressiven Anwandlung:

„In einer drahtlosen Welt verschwanden die mystischen Bande der Erinnerung, die Bindungen an zeitlose Wahrheiten, die die Nation zusammenhielten, in ätherischer Unsichtbarkeit“ (900).

Dieser ‚dekadenztheoretischen Diagnose‘ zutrotz lohnt sich eine Zuwendung zu L.s Idee des „Bürgerseins“, wie sie sie im Zuge ihres ‚dicken Buchs‘ immer wieder in diversen ‚Gesichtern‘ aufleuchten lässt: Sie ist bestimmt zunächst durch den Habitus des Miteinander-Sprechens, inklusive der Artikulation auch antagonistischer Interessen – der nicht ersetzlich ist durch, allenfalls verbind-, ja verschmelzbar mit der massenmedialen Verbreitung von ‚Informationen‘ mit ihrer Einseitigkeit oder der digital zunehmend ermöglichten Interaktivität in der Verbreitung von ‚Meinungen‘. Und sie terminiert sodann in der reziproken Bildung von kollektiven Überzeugungen. Ein komplexer Prozess im ‚wirklichen Leben‘, für den L. die vage, halb-metaphorische Redeweise vom gemeinschaftlichen „Prüfen“ der Wirksamkeit von „these truths“ schätzt. Sucht man L.s Redeweise ein begrifflich fassbares Kriterium abzulauschen, stößt man auf: physische Kopräsenz von Bürger*innen. Gestützt wird diese analytische Zuschreibung an L. durch deren vielfach erkennbare Sympathie fürs Format der „Town Meetings“ (19 u.ö.), das an die „Landsgemeinden“ des schweizerischen Systems gemahnt, die aber auch in der Erwähnung der Rezeption dieses Formats in der Ära radio- bzw. TV-gestützter Massenkommunikation erkennbar wird (560).

L.s sich verschärfende Kritik an der Zerlegung gelebter Sozialität auf dem Wege der Verdinglichung von ‚Kommunikation‘ durch deren ‚wissenschaftliche‘ Analyse ist evident. Dabei geht es ihr um die – vorgeblich unbeabsichtigten – Implikationen von sog. „Meinungsforschungs“-Methoden (688) und um die basics von EDV, die die Verwandlung menschlicher Subjekte zu ‚objektvierten‘ Daten-Containern (727)  fördern, die Schein-Öffentlichkeit Sozialer Medien. Von L. weniger kritisch thematisiert denn lediglich mit der ‚hochgezogenen Augenbraue‘ der Historikerin registriert: in langen Wellen wiederhole sich eine, jeweils taktisch wohlüberlegte, Verschiebung politischer Verfügungsmacht ans Präsidentenamt (etwa durch A.Jackson, Wilson, FDRoosevelt), die das Verfassungsmodell der ‚checks and balances‘ tangiert. Beim einen handelt es sich um eine folgenreiche ‚Umweltveränderung‘ für das (im engeren Sinne) ‚politische System‘, beim anderen um eine Neu-Kalibrierung von dessen internen („institutionellen“) Mechanismen – beides reduziert die Chancen bürgerschaftlicher Partizipation.

Beides, wie jenseits von L.s Buch wahrzunehmen, ein globaler Prozess, Ausdruck des „moderne“-typischen Widerspruchs von ‚Selbstbestimmung‘ und „Reichweitenvergrößerung“ (H.Rosa). Was kann L. hoffen dürfen? Eine modernisierungsfeindliche General-Ablehnung ‚des‘ Internet (obwohl „alles andere als eine auf Regeln beruhende Ordnung: gesetzlos, unreguliert und nicht rechenschaftspflichtig“ [891]) erscheint politisch a limine unwirksam, eine Problematisierung der langfristigen Gewichtsverschiebung von Legislative zu Exekutive angesichts von L.s augenscheinlicher Akzeptanz für Staatsinterventionen á la „New Deal“ kaum glaubwürdig vertretbar. „Eine Nation kann sich ihre Geschichte nicht aussuchen, sie kann nur ihre Zukunft wählen“, resumiert L. 961. In diversen Ländern („Nationen“?!) rund um den Globus wird das Modell von – aleatorisch, nicht durch „Wählen“ generierten! – „Bürgerräten“ erprobt, ein Format zur Infusion direkter Demokratie ins System der repräsentativen. Es müsste ja nicht gleich verfassungsmäßig verankert werden – zwischen der hochgemuten Proklamation von „These Truths“ und der (dergegenüber schon zu Kleinmut ernüchterten) Verfassung lagen auch 11 Jahre. Vielleicht ein Pack-Ende der „Zukunft“. Für die gelten könnte, was Ernst Bloch, Schlusssatz seines „Das Prinzip Hoffnung“, der „Heimat“ zuschreibt: „was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“.

 

© Frithard Scholz

28. April 2021