"Ja, das möchtste" oder: irdene Gefäße...

Liebe Gemeinde!

 

Wie stellen Sie sich einen glücklichen Menschen vor? Wie müßte Ihr Leben sein, damit Sie sagen könnten ‘so ist es gut, so ist es richtig’? Das ist eine Frage - da bin ich versucht, gleich wieder herunterzusteigen von der Kanzel hier oben und ein wenig die Bankreihen entlang zu gehen und mich einzeln mit Ihnen zu unterhalten. Jeder, jede von Ihnen hat Vorstellungen vom richtigen Leben, vom menschlichen Glück, und es kämen bei einem solchen Gespräch sicherlich mehrere Antworten zusammen. Ich hoffe, das werden wir nachholen können, wenn ich mich hier in Niedervellmar anfange einzuleben mit Ihnen, mit Euch: bei Besuchen und anderen Begegnungen. Für jetzt muß es mal so gehen.

 

Ein glücklicher Mensch: ist das einer, der reich ist und von guter Figur, gebildet und angesehen bei den Leuten? Der auf niemanden neidisch ist, weil ihm nichts mehr fehlt zu seinem Glück? Weil er alles hat?

Wer mich schon ein bißchen länger kennt (als die meisten hier) und meinen Hang zur komischen Literatur, wird sich nicht wundern, daß mir ein Gedicht dazu eingefallen ist, von Kurt Tucholsky, wo der über den tragikomischen Hang des Menschen zum “Ideal” räsoniert:

Ja, das möchtste:

Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,

vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstaße;

mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,

vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn -

aber abends zum Kino hast dus nicht weit.

Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit:

Neun Zimmer, - nein, doch lieber zehn!

Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf stehn...

...undsoweiter undsoweiter:

Ja, und das hab ich ganz vergessen:

Prima Küche - erstes Essen -

alte Weine aus schönem Pokal -

und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal....

Also - ob das stimmt? Stimmen kann mit den Idealvorstellungen vom guten Leben, angesichts der Wirklichkeit, die wir kennen? Manche von Ihnen, von Euch werden sich das Glück so vorstellen. Aber andere werden geneigt sein, Tucholsky zuzustimmen, wenn er fortfährt:

Ja, das möchtste!

Aber wie das so ist hinieden:

manchmal scheints so, als sei es beschieden

nur pöapö, das irdische Glück.

Immer fehlt dir irgendein Stück.

Hast du Geld, dann hast du nicht Käten;

hast du die Frau, dann fehln dir Moneten -

hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer:

bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.

Etwas ist immer.

Tröste dich

Jedes Glück hat einen kleinen Stich.

Genug Tucholsky. Etwas ist immer. Das wissen die Lebensklugen, Ältere und die Jüngeren, die die Zeichen des Arbeitsmarkts deuten. Sie haben sich verabschiedet vom “Ideal”, aber auch sie sind flugs bei der Hand mit einer Vorstellung vom richtigen Leben - bloß nach dem Motto ‘Das größte Glück in dieser Zeit ist doch die Zufriedenheit’. Das Haben und das Haben-wollen, das Sein und das Sein-wollen in schönem Gleichgewicht.  Ein freundliches Mittelmaß aller Dinge - das ist es. Und vor allem: anständig bleiben! Was so einer sagt - da kann man sich dran halten; das ist echt, das Leben ein Beweis für seine Sprüche.

So ähnlich dachten auch die Menschen, die vor fast 2000 Jahren in der Weltstadt Korinth zu der kleinen christlichen Gemeinde gehörten, die es da seit ein paar Jahren gab [und wenn wir uns einmal in Gedanken dorthin versetzen, werden wir merken: so groß ist der Abstand zu Niedervellmar, Hofgeismar oder so ähnlich doch nicht]. Bankangestellte waren da, Handwerker, Hausfrauen, eine Handvoll städtischer Beamter allenfalls, und natürlich Gelegenheitsarbeiter vom Hafen, wohl ein paar Frauen aus dem Rotlichtviertel (wie wir heute sagen würden), Arbeitslose - kleine Leute fast durchweg. Zusehen mußten sie alle, wie sie durchkamen und einigermaßen anständig blieben dabei. Einfach war das nicht, denn die wirtschaftliche Lage im ganzen war nicht gerade rosig: man mußte achtgeben, daß man nicht auffiel oder sich sonst unbeliebt machte. Und überhaupt war es eine unruhige Zeit. Was früher gegolten hatte, an Grundwerten, noch zur Zeit der Eltern oder Großeltern, das galt nicht mehr oder man wußte es nicht so genau (was letztlich auf dasselbe hinauslief). Denn die Priester an den alteingesessenen Tempeln, die es immerhin noch massenhaft gab, konnten irgendwie nicht Schritt halten mit der allgemeinen Weltentwicklung, sie stritten miteinander und schienen ein bißchen hilflos auf bessere Zeiten für die alte Religion zu warten. Sektenprediger kamen in die Stadt, aus Asien und von jenseits des großen Meeres, gleich dutzendweise, und jeder sagte was anderes. Aber so oder so drohten sie alle mit dem Weltuntergang oder versprachen den Himmel auf Erden; und wunder was sie taten, um ihre Glaubwürdigkeit zu beweisen - mit kahlgeschorenen Köpfen liefen sie herum, benahmen sich demonstrativ unanständig, und von manchen munkelte man sogar, daß sie fliegen könnten (doch, doch!). Wer wollte sich da noch auskennen, wem zu glauben war? Postmoderne auf antik war das sozusagen. Schlechte Zeiten waren das auf alle Fälle für die kleinen Leute, die weder Zeit noch Lust noch Fähigkeit hatten, sich den ganzen Tag mit diesen religiösen Fragen zu beschäftigen, die aber doch andererseits etwas haben wollten, woran sie sich halten konnten in ihrem Leben.

 

Bei dieser allgemeinen Orientierungslosigkeit war es ziemlich zufällig, von welchem dieser zugereisten Prediger man sich schließlich einnehmen ließ. Daß die, von denen ich hier erzähle, sich ausgerechnet dem jüdischen Zeltmacher Paulus anschlossen und der von ihm gegründeten Gemeinschaft mit dem immerhin anspruchsvollen Namen “Volksversammlung des Christus in Korinth” - wer kann sagen, woran das im einzelnen lag? Immerhin: Paulus wollte von niemandem Geld, sondern verdiente seinen Lebensunterhalt selber mit seinem Handwerk. Und er hielt auch keine geölten Reden und verdrehte der Jugend die Köpfe damit. Gelehrt war er schon, aber er machte wenig Aufhebens davon - ebensowenig wie von seiner Person überhaupt. Von sich selber sprach er eher bescheiden, bisweilen sogar geringschätzig.

Was er sagte, das hatte seine eigentümliche Überzeugungskraft darin, daß er in einer ganz neuartigen Weise von Gott erzählte. Weniger von einem Weltenrichter als von einem Vater, der alles richtet. Weniger vom Weltuntergang als vom Leben davor, hier und jetzt. Weniger vom Kampf ums Anständigsein als davon, daß Menschen Liebe brauchen, Liebe erfahren haben und weitergeben können. Und in diesem Zusammenhang sprach er immer wieder von Jesus, einem Menschen, in dessen Leben und Sterben Gott selbst auf die Welt gekommen sei, den Menschen zugute, ihnen zum Glück. Zum Glück!

Wie zum Hohn auf die Konkurrenz der zahlreichen Moralapostel, die von der kaiserlich-staatlichen Religionsaufsicht recht wohlwollend betrachtet wurden - wie zum Hohn auf die hatte Paulus seine aller öffentlichen Ordnung spottende Botschaft von dem Gott, der als Verbrecher hingerichtet wurde ”Evangelium” genannt - was so viel hieß wie ‘regierungsamtliche Bekanntmachung’. Kurzum: diese ungewöhnliche Botschaft von Gott in Jesus, die hatte die kleinen Leute in Korinth beeindruckt - und beglückt. Die hatten sie ernstgenommen und versucht entsprechend zu leben: Nicht mehr sich zu messen an fremden oder eigenen Idealvorstellungen und insgeheim auf solche herbzublicken, denen das Leben noch schlechter glückte als das ihre! Vielmehr behandelten sich alle - der Stadtbaumeister von Korinth und die Hafenhure - sie alle behandelten sich als gleich freie Bürger der “Volksversammlung Jesu Christi in Korinth”.

So hatte es angefangen und unaufhaltsam Kreise gezogen in der Stadt. Aber das lag nun ein paar Jahre zurück. Paulus war längst weitergereist, hatte aber inzwischen geschrieben, einen Brief, an dem sie viele Sonntage zu lesen hatten, und das stärkte den Zusammenhalt sehr. Dann tauchten noch einmal Nachrichten auf, er sei eingesperrt worden - Genaueres erfuhr man nicht. Die korinthische Gemeinde war auf sich gestellt im Festhalten und Nachleben des “Evangeliums”, jener Guten Nachricht von der Liebe Gottes.

Bis dann zwei, drei Männer nach Korinth kamen, die sich auswiesen mit Ordinationsurkunden und Empfehlungsschreiben von anderen Christengemeinden und sich aufführten, als hätten sie die “Volksversammlung des Christus in Korinth” zu inspizieren. Über Paulus redeten sie nur verächtlich - er sei doch nur ein kleines Licht, und von Gemeindeaufbau habe er nichts verstanden - wie man ja in Korinth sehen könne, wo die Gemeinde ja ein etwas chaotischer Haufen sei undsoweiter. Predigen - zugegeben - predigen konnten die freilich wie jungen Götter, und den Sektenpredigern von der Konkurrenz standen sie in allerhand frommem Spektakel nicht nach.

Die Korinther waren schnell überrumpelt. Zumal die neuen Apostel auch politisch sehr geschickt agieren konnten und der Christengemeinde einen viel günstigeren Stand im tagespolitischen Gefüge der Stadt Korinth und bei der staatlichen Religionsbehörde verschafft hatten. Sollte Paulus vielleicht gar kein echter Apostel gewesen sein? Um Klarheit zu schaffen, schreiben die Korinther einen Brief: Er solle doch mal seine Empfehlungsschreiben vorlegen, als Erweis seiner Glaubwürdigkeit.

Ein paar Wochen verstreichen, etwas Angst vor der eigenen Courage kommt auf, vielleicht, wird aber niedergehalten. Endlich kommt Antwort, tatsächlich. Unverzüglich wird eine Gemeindeversammlung einberufen, damit auch alle erfahren, was es mit dem zweifelhaften Apostel auf sich hat.

Der Brief wird geöffnet, und der Vorleser fängt an, gleich bei der Stelle, wo es zur Sache kommt:

Liebe Freunde (so schreibt Paulus) was für Referenzen und Empfehlungsschreiben wollt ihr eigentlich sehen?`Etwa solche, wie gewisse Leute sie für nötig befinden?

Wir predigen nicht uns selbst, sondern Jesus Christus, daß er der Herr ist,  wir aber eure Knechte um Jesu willen.

Denn Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, daß durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.

Wir haben doch diesen Schatz in irdenen Gefäßen. So wird klar, daß alles Ausstrahlung und Überzeugungskraft von Gott kommt, nicht von uns.

Ständig stehen wir unter Druck - aber erdrückt werden wir nicht. Ständig plagen uns Zweifel - aber wir stürzen doch nicht in Verzweiflung. Gehetzt werden wir, aber wird sind nicht verlassen. Immer wieder am Boden - aber nicht am Boden zerstört.

Immerfort schleppen wir unsere alte Sterblichkeit und Begrenztheit mit uns herum - wie Jesus. Nur so aber erfahren wir auch das neue Leben Jesu an uns selbst.

Da sitzen die Korinther nun mit dem Brief des Paulus. Daß der nicht dran denkt, ihnen einen papiernen Ausweis vorzulegen: das haben sie alle gleich verstanden. Aber die anderen Sätze sind doch zu rätselhaft.

Wie war das mit dem “Schatz in irdenen Gefäßen”? Will Paulus ihnen beibringen, daß Prediger des Evangeliums gar nicht danach aussehen müssen, ja eigentlich gar nicht aussehen dürfen wie ein anständiger Apostel oder ein stattlicher Pfarrer im Talar?

Will er ihnen sagen, daß sie um Gottes willen sich nicht seinetwegen aufs Evangelium von der grundsätzlichen Wende der Welt verlassen sollen - sondern eben um Gottes willen?

Und wieso schreibt Paulus eigentlich immer “Wir”? Spricht er von sich? Oder von ihnen, den Korinthern? Oder von beiden? Oder von wem?

Da saßen die Korinther mit dem Brief des Paulus und studierten seine Rätselsätze. Wir wissen nicht, wie sie sie schließlich verstanden haben und ob überhaupt.

Wie verstehen wir sie?

Nun wäre es natürlich nochmal wieder gut, wir könnten uns darüber unterhalten, sozusagen ‘in echt’. Aber dazu haben wir ja künftig viel Zeit miteinander. Lassen Sie mich nur schon mal dreierlei aussprechen, was mir an den Worten des Paulus aufgegangen ist:

Zum einen. Paulus muß sich gegen Angriffe verteidigen, er treibe so was wie christlichen Etikettenschwindel und sein angeblicher Gott sei doch alles andere als das was die Welt brauche. Das passiert uns Christenmenschen heute ja auch schon mal, daß wir so angegangen werden von andern. Danach brauchen wir nicht zu suchen, um uns selber unsere christliche Richtigkeit zu beweisen; das ergibt sich von selbst, und es ist kein Fehler im System.  Wer sich fürs Leben am Evangelium orientiert, der wird anecken in seiner Umgebung und sich gleichsam Sprünge einhandeln, die nicht bloß die Glasur beschädigen. Und wenn Paulus behauptet, daß gerade darin und dadurch das neue Leben im Namen Gottes sich bemerkbar mache, höre ich die doppelte Botschaft: warum soll das Leben von Christenmenschen bequemer sein als Gott es in Jesus selber auf sich genommen hat? - aber eben auch: wenn wir uns mal so klein fühlen, daß wir nur noch wünschen, es möchte doch aufhören, kommt Gott in uns groß ‘raus.

Ein Zweites. Die Kirche erlebt in diesen Jahren so eine Art Klimaumschwung zu ihren Ungunsten, so scheint es wenigstens. Darum mehren sich draußen wie drinnen die Stimmen, die nach so etwas rufen wie nach einer “Vision” für Kirche. Die kritisieren, daß die Kirche ihre Sache nicht zeitgemäß und einladend darstelle, und es müsse überhaupt vieles viel professioneller gemacht werden, damit die Kirche künftig konkurrenzfähig bleibe auf dem Markt, wo die Angebote für Lebenssinn gehandelt werden. Nicht daß ich etwas gegen professionelle Qualität in der Kirche hätte - schließlich habe ich mich einige Jahre um die Ausbildung der PfarrerInnen unserer Kirche gekümmert - und da gibt es auch nichts nachzulassen.  Aber das alles wird schief, wenn eines in Vergessenheit gerät: daß Menschen das Licht aufgeht, in dem sie die “Herrlichkeit Gottes [erkennen]”, das passiert durch uns real existierende Christenmenschen hindurch - die wir und obwohl wir im Scheinwerferlicht der Zeit oft gar nicht perfekt gestylt wirken, sondern angeschlagen, brüchig, unattraktiv. Warum wir Paulus diese merkwürdige Überzeugung abnehmen sollten? Ich glaube, weil es so dem Erscheinungsbild Gottes selber entspricht, der sich in  Person Jesu von den bestimmenden Mächten seiner Zeit an den äußersten Rand hat drängen lassen - und doch war er gerade so nicht aus der Welt zu schaffen, im Gegenteil: gerade so war er ihr zu Diensten.

Schließlich, die Sache mit dem “Wir”: Zwar redet Paulus an dieser Stelle seines Briefes von sich persönlich und seinem eigenen Dienst als Zeuge des Evangeliums, aus gegebenem Anlaß. Aber er betont gerade hier, wie er mit seinen Leuten in Korinth verbunden ist: er wie sie getauft auf Christus, sie wie er seit der Taufe “in Christus lebend” und er in ihnen und ihm.

Wenn Paulus an “Taufe” denkt, dann denkt er nicht an die freundliche Begrüßung eines ‘neuen Erdenbürgers’, an eine religiöse Zeremonie zur Aufnahme eines später beitragspflichtigen Mitglieds in den ‘Verein der Freunde des Verewigten’. Er denkt, ziemlich dramatisch, an die Verwandlung eines Menschen, der lebt (einfach weil er auf der Welt ist), in einen Menschen, der ewig lebt (weil der Vater im Himmel ihn dazu berufen hat, zu seinem Sohn, seiner Tochter) - der ewig lebt, obwohl er noch sterben wird.

Das ist leichter gesagt als verstanden; es nachzuvollziehen werden wir unser ganzes Leben brauchen, und mehr als das. Da ist es gut, einen Anhaltspunkt zu haben, der unsereinem das bewußt hält. Hier in der Adventskirche haben wir den wichtigsten, auch für Paulus wichtigsten, beständig vor Augen: das Kreuz als unübersehbares und nicht zu Ende zu denkendes Zeichen - Zeichen für Christus, und uns in ihm. Wenn wir es anschauen, sehen wir wie in einem Spiegel uns: Träger des kostbaren Lichts, das die Herrlichkeit Gottes erkennen läßt in der Menschlichkeit Jesu, die zerbrechlich war wie wir.

Amen.