Worum es geht

 

Christian Grethlein, Christliche Lebensform. Eine Geschichte christlicher Liturgie, Bildung und Spiritualität, Berlin/Boston 2022

Eine Resonanz von Frithard Scholz

 

 

Eine Intuition

 

Eine mathematische Metapher drängt sich auf.

 

Die Quersumme aus seinen zahlreichen Publikationen der Jahre ab 2012 (die offiziöse, z.Zt. nur bis Stand 28.01.2020 geführte, Bibliografie auf der homepage seiner letzten Universität Münster weist 9 Bücher und 90 sog. Buchbeiträge Aufsätze aus, von weiteren Nebenarbeiten hier zu schweigen) legt Christian Grethlein [im folgenden CG] mit „Christliche Lebensform“ (auf diesen Titel – im folgenden als „CL“ zitiert – verweisen, sofern nichts anderes vermerkt, im folgenden eingeklammerte Seitenzahlen) vor.

 

Die Quersumme. Die Bildung einer „Quersumme“ ist, rechentechnisch, das Verfahren, eine ‚große‘ Zahl auf ihren kleinsterreichbaren ‚Gesamt-Wert‘ zu reduzieren, mit Hilfe eines einfachen „Kniffs“: die vielstellige ‚große‘ Zahl wird dekomponiert, indem die Ziffern, in denen sie dargestellt ist, isoliert und ihr jeweils in Zehnerpotenzen gestaffelter „Stellenwert“ ‚eingeklammert‘ und dann, in einstellige Zahlen verwandelt, aufeinander addiert werden; dieses Verfahren wird iteriert, bis als Additionsergebnis eine einstellige Zahl vorliegt. Die Quersumme. „9“ eben ist leichter memorierbar als etwa „987.123.654“.

 

Das ist, cum grano salis, das Verfahrens-set, das CG aktiviert, um zu seiner „9“ zu gelangen, der Feststellung auf der vorletzten Seite (265) seines Buches: „Auf jeden Fall ist die Maxime der Achtsamkeit auf die, die mit und neben uns leben sowie die nach uns kommen, für Christen grundlegend“, ‚lebensförmlich‘ verkörpert in „gewisse[n] Umgangsformen mit den Mitmenschen“, die seit dem „wirkmächtige[n] Text wie Mt 25,31-46“ der Reflexionstradition des „Christseins“ als ‚Taten der Barmherzigkeit‘ geläufig sind. So einfach ist das lt. CG am Ende, formulierungsmäßig – wenngleich lebensmäßig komplikationsträchtig wirkend, wie die erinnerte Geschichte und zeitgenössische Beobachtung des „Christseins“ erweist. ‚Am Ende‘ des Buches (dessen „Ziel eine Konturierung des Christseins als Lebensform“ [18] ist) heißt auch, in der Metaphorik der Quersumme gesprochen: zur „9“ finden sich, analytisch betrachtet, auch komplexere – gleichsam: zwei- oder mehrstellige – Zwischen-Ergebnisse des Iterationsvorgangs (die im Folgenden nur passager verzeichnet werden sollen). Denn CG’s Verfahren und dessen Ergebnis verstehen zu wollen, verlangt, noch einmal ‚vor dem Anfang‘ anzufangen.

 

Was vorausgesetzt ist

 

CG legt es seit Längerem darauf an, seiner Fachdisziplin „Praktische Theologie“ eine Sprache einzuschreiben, die Mittel bereitstellt, um deren Gegenstandsbereich – der, verdinglichend gesprochen, vom verheißenen ‚Himmelreich‘ bis zur „Platte“ der Obdachlosen reicht – gleichsam in einem Atemzug thematisieren zu können; das neue Buch trägt dazu bei. Dazu entwickelt und entfaltet er ungewohnte Kategorien, hantiert eigene „Kunstregeln“ (Schleiermacher), praktiziert den Vorrang des Empirischen (incl. Nachzählbaren). Einiges davon vorab:

Das Wichtigste ist „Kommunikation des Evangeliums“ [im Folgenden: KdE]. Zwar hat Wilfried Engemann, frühzeitiger Sympathisant dieses Aufbruchs in der Praktischen Theologie, den Ausdruck schon mal auf erinnerliche Weise mit solidarischem Spott „klingt nach Machbarkeit, Datentransfer und Telekom“ begossen. Aber in der Sache ist CG’s terminologischer Vorschlag hochplausibel: er vermag biblische Referenzen, theologische Einsichtsgewinne der sog. Reformation und dem 20./21. Jh. zeitgenössisches Gemeingut der Reflexion auf – eben! – Kommunikation zu integrieren. Als Kategorie umfasst KdE die Initialzündung des „Christseins“ in „Auftreten, Wirken und Geschick Jesu“ (so CG’s ikonische, nirgends variierte Kurzformel!) zusammen mit Lebenspraxis und Selbstbeschreibung derer, die „Jesus“ (mit der mehrbödigen Luther-Übersetzung des ntl ακολουθειν zu sprechen) „nachfolgten“. Jenes etikettiert CG als „Impulse“, dieses als (nicht immer willkürlich betriebene!) „Kontextualisierung“. – Nichts ist ohne Preis, auch nicht die Entscheidung des Praktischen Theologen CG für diesen Grundbegriff: „KdE“ soll „Anschlussfähigkeit“ theologischer Selbstbeschreibung des „Christlichen“ ans Allgemeine des (wissenschaftlichen) Diskurses über die Behauptung indiskutabler Einzigartigkeit aufgrund des schlechthinnig Besonderen  des sujets herstellen. Als „KdE“ sucht CG mit Mitteln seines Wissenschaftsformats „Praktische Theologie“ das „Christsein“ auch reflexionsförmig in der Konkurrenz von ‚Weltanschauungen‘ zu platzieren, in der es sich defacto befindet – „auf Augenhöhe“ (wie es in zeitgenössischer Diktion gerne heißt) und v.a. „ergebnisoffen“. Das notorisch geltend gemachte Merkmal der „Ergebnisoffenheit“ soll zwar in erster Linie das Fehlen jeglicher Sanktionsbewehrung im Kommunikationsprozess unterstreichen, färbt aber zugleich (Nebenfolge!) das Bild von „KdE“ mit einem beachtlichen Schuß Unbestimmtheit ein (was – weitere Nebenfolge! – die Zuschreibung einer grundsätzlichen Aversion von „KdE“ gegens [theoretische wie praktische] Ziehen von Grenzen nach sich zieht, die ihrerseits als Ausdruck von „Inklusionsbereitschaft“ bewertet wird). Die spezifische Gegenleistung ist die ‚Axiomatisierung‘ der aktuellen religionssoziologischen Konklusion von Armin Nassehi ‚Authentizität verdrängt Autorität‘. Und der Verzicht auf explizite Beachtung der jesuanischen Redeform „ich aber sage euch“ (Mt 5,22 u.ö.) oder der in der ntl Briefliteratur verbreiteten christologischen Denkfigur des „ein für allemal“.

 

Bisweilen kann CG der KdE „Interaktivität“ zuschreiben (CG, Christsein als Lebensform, Leipzig 2018, 76); das Sich-ereignen von KdE sei nicht ohne Prozessualität und Korrespondenz zu denken. Darum bevorzugt CG erklärtermaßen verbale statt substantivische Sprache bei seiner Kategorienbildung (Buchtitel inklusive). Am prominentesten in der Formulierung der drei sog. „Modi“ der KdE, „Lehren und Lernen / gemeinschaftlich Feiern / Helfen zum Leben“ (im Folgenden: LuL / gF / HzL). – Demgegenüber fällt auf: Nirgends lässt CG die Form „Kommunizieren des Evangeliums“ zu, sondern wahrt die substantivische Begrifflichkeit. Das mag liegen an dem Bewusstsein dafür, dass KdE als praktisch-theologischer Argumentationsbaustein die Funktionsstelle des ‚unbewegten Bewegers‘ besetzt. Dass eine solche ‚Stelle‘ in der Logik des Ansatzes indes nicht vorgesehen ist, sei hier vorerst nur vermerkt.

 

„The proof of he pudding is in the eating“ – die im Englischen gängige Redensart, auf die schon mal der kritiklustige Friedrich Engels zurückgreifen mochte und deren Verwandtschaft mit einer spanischen Wendung aus dem „Don Quijote“ Suchmaschinen im Nu ins Bewusstsein rufen…: sie veranschaulicht blitzartig ein, vielleicht das Hauptmotiv, das CG’s praktisch-theologische Arbeit an einer Theorie (!) des „Christseins“ antreibt. Normative Konzepte sollen ‚geerdet‘ werden; nichts ist ihm so fremd wie das Hegel (bloß) zugeschriebene „…umso schlimmer für die Tatsachen!“ Theologische Konzepte müssen sich dem Tribunal des Faktischen stellen und nicht umgekehrt. In den Horizont der Theorie eingespielt wird die ‚Wirklichkeit‘ nicht penetrant, aber immer wieder durch Verweis auf ZahlenDatenFakten – in Gestalt von tabellarischen Übersichten über Kirchenaustritte, Mitgliedschaftsmotive, Einstellungs-samples, sektorale Verteilung der Erwerbstätigkeiten, von ‚ungewaschenen‘ Selbstbeschreibungen Einzelner oder Zustimmung heischenden Evidenzen. Eingestreute – bisweilen ans Mitleidige grenzende – Seitenbemerkungen über selbstmissverständliche (Zu-)Wichtignehmerei akademischer Finessierungen in Nachbardisziplinen oder kirchenleitender Bekundungen angesichts der Bedarfe des gelebten Lebens „der meisten Menschen“ (so z.B. 264) bestätigen die hier geäußerte Lese-Hypothese. – Risiken und Nebenwirkungen einer in diesem Sinne „empirie“-dominierten Theo-Logik liegen auf der Hand. Je konsequenter eine Theorie auf „Relevanz“ setzt, desto reibungsloser wird in ihr das Fragen nach „Wahrheit“ nicht nur suspendiert (vgl. CG, Christsein als Lebensform, Leipzig 2018, 142), sondern ins Archiv der verlorenen Meinungskriege verfügt.

 

Die Annahme, dass das wirkliche Leben immer mehr Recht hat als alles, was über es gedacht und geschrieben wird, hat allerlei für sich. Nur zu nahe liegend, dass CG sich der „‚biegsamen Kategorie des Lebens‘, die allen dogmatischen Reduktionen entgegensteht“ (18, wie Hrachovec formuliert) zuwendet. Dabei bedient er sich, unweigerlich theoretisch, der Formel „Lebensform“, die er andeutungsweise in Beziehung setzt mit der Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins. Ersichtlich wichtig ist dem Praktischen Theologen an dieser Formel: sie ermöglicht, sein sujet „Christsein“ als kommunikatives Amalgam von „Alltägliche[m], Familie, (Erwerbs-)Arbeit, Medien, Bildungseinrichtungen und allgemeine[n] Hilfeleistungen“ (2) zu erfassen und zu reflektieren – diesseits aller dogmengeschichtlich gepflegten Windungen gelehrter Selbstbeschreibung. Und sie ist weit genug, Vollzüge der Reverenz vor „Heiligem“ (im Sinne R.Ottos) mit aufzunehmen.

 

Wie es zusammengeführt wird

 

Die 10 Kapitel von CL lassen sich nach Funktionen gruppieren.

 

Kap. 1 intoniert CG seine Sichtweise aufs Thema, skizziert die für ihn relevanten Kontextualisierungsanforderungen ans „Christsein“ (zu denen auch „Kirche“ zählt) und führt (z.T. sehr beiläufig) sein begriffliches Handwerkszeug vor. – Kap. 2 eröffnet die Sequenz der Kapp. 2-9 mit ihrer Phänomenologie der Ausgestaltungen des „Christseins“, hat aber insofern eine Sonderstellung, als in ihm die biblischen Referenzen für die – wiederholt „grundlegend“ genannten – „Impulse“ zur KdE thesauriert werden, die sich dem „Auftreten, Wirken und Geschick Jesu“ zugeschrieben sind.

 

Ein wenig unglücklich in Kap. 2.6 versteckt prospektiert CG seine (weitgehend auf Sekundäranalysen gestützte) Retraktation der „2000-jährigen Geschichte des Christseins“, die er nach Vorbild von Martin Stringer in 300-Jahre-Schritte gliedert (37), in den Kapp. 3-9. (Das Genus dieses historischen Schnelldurchlaufs könnte sachlich auch „Frömmigkeitsgeschichte“ lauten [wie im Titel von etwa Lucian Hölschers Monografie „Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland“, München 2005]; aber CG, an ausgewählten Stellen seiner Theoriebildung terminologisch penibel, vermeidet sichtlich gerne das Wortfeld „fromm“, wg. dessen noch reformationszeitlichen Konnotationen von ‚diszipliniert, lenkbar‘, die bekanntlich noch bis in „Struwwelpeter“-Episoden fortwirken.) Die Binnengliederung dieser Kapitel ist einigermaßen homolog (CG’s Rechtfertigung 36) und erleichtert das spezifische Vergleichen von Momentaufnahmen des Transformationsprozesses; diese Strukturierung erinnert an die faktische Langzeit-Beobachtung durch die EKD-KMU’en 1972ff – CG‘s Inklination zu empirischen Studien macht sich bemerkbar. Angesichts der kontingenten Diversifikation des Geschehenen ist der Leser umso dankbarer für die jeweils „*.7“ bezifferten Schlussabschnitte „Zusammenfassung“, die angemessen komprehensiv zu fassen auch CG mal leichter, mal schwerer fällt; Stringers Gliederungsmuster erweist sich eben doch bisweilen als gewaltsam.

 

Besonderes Gewicht im Ganzen von CL kommt Kap. 10 zu.

 

In 10.1 lässt CG die Rekapitulation der 7 Tri-Dezennien zu einer Kette von fiktiven Individual-Porträts auskristallisieren, die die sich wandelnde Phänomenologie des „Christlichen“ exemplifizieren. Hier tritt distanzierende analytische Begrifflichkeit ganz zurück; es wird erzählt: Diese wissenschaftsliterarisch auffällige Variation erinnert an die Arbeitsweise des un-akademischen Historikers Michel Clevenot (aus dem Umkreis der französischen Annales-Schule) – der aber stärker als CG aus den Quellen schöpft und drum für seine „Geschichte des Christentums“ (dt. Fribourg / später Luzern 1987-1999) auch 12 Bände mit rund 3000 Seiten braucht J.

 

In 10.2 wird CG, mit Rückgriff auf den ‚Grundmechanismus‘ von „Orientierung“ an Jesus und kontinuierlicher Kontextualisierung, wieder prinzipieller. Zwar sei Kontextualisierung für KdE konstitutiv, es ließen sich aber darin historische Verfestigungen ausmachen, die die Kontinuierung von KdE im aktuellen Kontext stören, ja (ver)hindern; genannt werden deren drei: die Wiederkehr des antiken (von Jesus lt. synoptischen Evangelien ins Ethische transformierten) „Reinheits-Konzepts“ in Gestalt von Riten (246f), die Adaption antiker Priestervorstellungen mit ihrem inhärenten Hierarchie-Modell, das Dominantwerden kultischer Praktiken unter den Ausdrucksformen des „Christseins“ zulasten etwa des KdE-Modus HzL.

 

In 10.3 meldet sich erneut der ‚Empiriker‘ CG zu Wort – es soll um „christliche Lebensform“ im 21. Jh. gehen. Zitiert wird zur Einstimmung in grundlegend gewandelte Kommunikationsbedingungen von Zeitgenoss*innen überhaupt die Rekonstruktion von Ergebnissen jüngerer religionssoziologischer Forschung wie der des „Religionsmonitor“ durch Armin Nassehi, der resumiert: „Autorität“ weicht „Authentizität“ im ranking der Akzeptanz – was sich nicht zuletzt darin bekunde, dass die „Interviews […] ein Bild von Inkonsistenz [zeichnen]“ (251) – eine Auskunft, die für rationale Liebhaber des ‚Begriffs‘ unbefriedigend sein mag, aber überraschungsresistenten Beobachtern als respektheischend gilt. Das Korpus des Kapitels bildet die Schilderung einer Handvoll von Best-Practice-Beispielen von KdE, die unter Umständen zeitgenössischen Lebensgefühls die „christliche Lebensform“ als eine „attraktive“ (1) erscheinen lassen: durch Erfüllung von Bedürfnissen nach Inklusion, Partizipation, Affektivität, selbstkritischer Verantwortung für „Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung“ (260), zwangloserer Gemeinschaft. Immerhin seien „Veränderungen im Bereich der Kirchen als Organisationen zur Förderung der christlichen Lebensform unübersehbar“ (262) – was, zum guten Ende, nicht verschwiegen werden soll…

 

Letzte Worte zu „zukünftigen Herausforderungen“ (264) – 10.4 – sind äußerst knapp gehalten. „Christsein [sei] von Anfang an pluriform“ gelebt worden, je nach „Kontext“; Versuche einer Uniformierung durch „von Klerikern dogmatisch festgesetzte Lehrsätze“ sei, ohnehin historisch eine Depravation, an den „meisten Menschen“ erfolglos abgeglitten (264). Diese Erinnerung ermutige, sich der Provokation tiefgreifenden Wandels der „Lebensform“ identitätsgewiss zu stellen, wie sie die global lebensgefährdende Veränderung des „Kontextes“ darstellt.

 

Ein sprechender Umstand, dass CG sowohl in Kap 1 als auch 10.4 dem als „Einladung“ untertitelten Werk von Maja Göpel prominent Platz für ein längeres Zitat einräumt. Er stützt den längst aus dem Duktus des Ganzen von CL zu gewinnenden Eindruck: Um Leser*innen die ‚Kernbotschaft‘ seines  „CL“ ans Herz zu legen, hätten nur  die Kapitel 1 und 10 verfasst werden müssen – alles andere ist Beiwerk, ‚gut und nützlich zu lesen‘, akademische Legitimation. Aber worauf deutet diese Beobachtung hin?

 

Was dahinter steckt

 

Als Erstes: CG’s ‚erkenntnisleitendes Interesse‘ (um eine verschollene Kategorie des Habermas der späten 1960er zu reaktivieren) in seinen gelehrten Studien ist ein „lebenspraktisches“. Bisweilen drängt Engagiertes impulsiv an die sprachliche Oberfläche, wie, dass „Christsein[…]in der Gegenwart attraktiv“ (1) bleiben müsse oder nicht im „Festhalten an Überkommenen[…]zur Folklore […]mutieren“ (9) dürfe. Zwar gelten die Studien auf den ersten Blick ‚nur‘ der Verbesserung wissenschaftlich-theologischen Verstehens der Faktoren, die – allen „zwischenhineingekommenen“ Friktionen zutrotz – das gegenwärtige DA-Sein von „Kommunikation des Evangeliums“ ermöglichen, u.U. stören, oder wirklich veranlassen. Aber das ist eine partikulare Perspektive auf die Studien, die CG (erstmals 2018 im Druck) die Kategorie „Lebensform“ erproben lassen. Sein Erkenntnisinteresse ist weiträumiger angelegt (fast möchte man sagen: überschwänglicher): es zielt darauf, mit den „wenn überhaupt,[…]nur indirekt [wirkenden]“ (4) Mitteln Praktischer Theologie den Erhalt des ‚Lebensraums‘ zu fördern, ohne den weder „christliche“ noch eine andere „Lebensform“ auskommt.

 

Das scheint Anlass, die buchgewordene Erörterung „CL“ in plakative Zitate der Welt(-Klima-)Krisen-Kommunikation zu rahmen (Maja Göpel [1.264f] ist schon erwähnt; Ulrich Becks weitergreifende Metapher „Metamorphose“ wird wenigstens gestreift [9 Anm 37. 239]). Diese literarische Entscheidung mag sich ‚dogmatisch‘ umcodieren lassen zum Ausdruck des „schöpfungstheologischen“ Einschlags seines Denk-Ansatzes, den CG bisweilen explizit zu erkennen gibt.

 

Konstruktiv erheblicher erscheint indes: Die Kategorie „Lebensform“ wird aufgebaut als theoretische Auffangposition fürs Überdauern der Rede von „KdE“ unter faktischen Umständen, unter denen das Sozialformat „Kirche“ lebenspraktisch so unattraktiv geworden ist, dass es theoretisch von nur noch archivalischer Bedeutung ist.

 

Folgt doch die Focussierung der Kategorie „Lebensform“ einem Interesse an Verallgemeinerungsfähigkeit – alle Menschen müssen irgendwie „leben“ – und an Selbstdurchsetzungsfähigkeit der bezeichneten Besonderung – in einer nach Individualentscheidungen gerasterten Optionsgesellschaft muss Christsein „attraktiv“ (1) genug sein, um bevorzugt zu werden und ggfs. die Aggregation zu Kollektiven auszulösen (vgl. etwa den Hinweis auf „Ausstrahlung“ – z.B. schon der klösterlichen Parallelstruktur zur „Episkopalkirche“, 90).

 

Dieser theorie-konstruktive Selektionsmechanismus wird stabilisiert durch die Reverenz vor zeitgenössisch hoch-positiv bewerteten Merkmalen von Sozialität: Pluralismus, Inklusivität (hinsichtlich z.B. ‚Arme‘ oder Frauen, genereller: Entgrenzung und bedingungslose Zugänglichkeit), die Aversion gegen Hierarchie und ‚Doktrin‘; vgl. hierzu auch den ausdrücklichen Verweis auf den „‚Social‘ und den ‚Gender Data Gap‘“ (15). Darüber hinaus werden diese Merkmale des gegenwärtig normativ Avancierten gegen theologische Kritik immunisiert, indem sie in die Rekonstruktion dessen integriert werden, was als initiale „Impulse durch das Auftreten, Wirken und Geschick Jesu“ (Kap. 2) ‚quasi-dogmatisiert‘ wird – und deren Verdunkelung, Verzerrung u.ä. im Laufe der Geschichte des „Christseins“ wird zum Phänomen unbalancierter Kontextualisierung umcodiert: selten genug, dass CG, gestaltwandeltolerant (alles „zum Besten wendend“), eine Ausgestaltung als „Verfälschung“ (254) qualifizieren mag wie die folgenreiche Mutation des „Christseins“ durch die „repräsentative Entscheidung“ (Hauschild/Drecoll) Chlodwigs zur Taufe von „3000 Gefolgsleuten“ (80).

 

Was noch bemerklich ist

 

Hier geht es – auch –  ins ‚Kleingedruckte‘.

  • Theorie-systematisch am auffälligsten bleibt CG’s Ausblendung paulinischer Vorstellungen/Begrifflichkeit zu Christologie und Soteriologie aus seinen – immer mal als „grundlegend“ für die KdE erklärten – biblischen Referenzen zugunsten einer so gut wie ausschließlich synoptisch-jesuanischen Legitimation des „Evangeliums“ und korrespondierender Praktiken seiner ‚Nachfolger‘. Schwerlich ausreichend erscheint der Versuch, das mit dem Hinweis, „die…Opfervorstellung…[sei als] Konzept aus vorchristlicher Zeit in die christliche Lebensform übernommen“ (97) worden, ‚kontextualisierungstheoretisch‘ abzutun. Zumal einerseits CG’s Bezugnahme auf die biblischen Zeugnisse, ganz lutherisch-korrekt, die Aura des, weil ursprünglich, Normativen in seinen Konzeptions-Entwurf importieren soll, andererseits aber eher die paulinischen Deutungen vom Ursprünglichkeits-Faktor zehren könnten als die narrativ eingängigeren der – lt. mainstream der modernen Exegese des NT späteren – ‚Evangelisten‘.
  • „Hermeneutische Instrumente“ zu benennen kündigt CG für Kap. 1.3 an.
    • Dabei kommt er zu sprechen auf die bei der LWB-VV Nairobi 1996 vorgestellte Taxonomie des „Verhältnis[ses] von Kultur und Gottesdienst in vier Dimensionen“ (15), die bereits in seinem Lehrbuch „Praktische Theologie“ von 2012 eine organisierende Rolle spielt. Dabei fällt auf: Zum einen bleiben in „CL“ lediglich die beiden komplementären „Dimensionen“ „contextual“ und „countercultural“ von Bedeutung. Zum anderen bleibt zweierlei unerwähnt: dass diese Reduktion auf zwei „Dimensionen“ vorgreiflich gesteuert ist von der in Kap 2. eingeführten Unterscheidung zweier „Adressatenkreise“ (vgl. 32.35.88.106.128), denen die KdE durch „Jesus“ gegolten habe, den sesshaft Bleibenden und den ‚Extra-Vagierenden‘ – und dass diese in der ntl Exegese Epoche machende Unterscheidung auf Gerd Theissens Invention der (von ihm sog.) „Wandercharismatiker“ zurückgeht.
    • Ähnlich verwaschen führt CG seine titelgebende Kategorie „Lebensform“ ein, in expliziter Abgrenzung zu „Kirche“ und „Religion“ (17f). Zwar wird (neben dem geistesgeschichtlich fast versunkenen Eduard Spranger) die folgenreichere Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins als Quelle reklamiert – allerdings (was wunder angesichts Wittgensteins seltener Nutzung dieses Terminus!) ohne jeden Beleg. Stattdessen herbeizitiert wird die (bis jetzt) weniger berühmte Rahel Jaeggi (dies., Kritik der Lebensformen, Berlin 2014), die immerhin sich um Differenzierungen am Terminus bemüht (denen CG faktisch folgt).
  • Zwar liegt CG bei der Weiterentwicklung seiner praktisch-theologischen Theorie um die Kategorie „Lebensform“ v.a. an deren Leistungsfähigkeit, auftretende Phänomene des „Christseins“ begrifflich zu integrieren. Aber er streut denn doch eine theologische Rechtfertigung ein, literarisch geschickt platziert wie Brückenköpfe. Schon S. 3 reklamiert er dafür „Inkarnation“ (von ihm hier als „Glaubenssatz“ qualifiziert), und S. 223 kommt er darauf zurück, in einem längeren Zitat aus Matthias Morgenroths „Weihnachtschristentum“ – die zu Unrecht fast vergessene Monografie dieses Schülers von Hermann Timm darf, phänomenologische Langzeit-Fallstudie zur spezifisch ‚modernen‘ Gestalt des „Christseins“, als Vorläufer von CG’s „CL“ sans la lettre gelten: „Inkarnation“, dogmatischer Begriff für Joh 1,14a, changiert ersichtlich zwischen den loci Gotteslehre und Christologie und repräsentiert die ‚Erdung des Himmlischen‘ (incl. der Missverständnisanfälligkeit von deren Wahrnehmung [Joh 1,11!], die bei CG „Ergebnisoffenheit“ von KdE genannt wird).

Auf CG’s gelungene Narrationen in Kap. 10.1 wurde schon verwiesen – die freilich beim Leser den Eindruck hinterlassen, es verkörpere sich in ihren Fiktionen mehr „Kontext“ denn dass in ihnen der initiale Jesus-„Impuls“ wiedererkennbar wäre. So dass die schon 224 gestellte Frage „kann da noch vom Christsein als einer Lebensform gesprochen werden?“ (Kursivierung FS), als rhetorische Frage genommen, einen achselzuckenden Schluss aus „CL“ abgäbe.

  • „Christliche Lebensform“ (und damit auch „KdE“!) bleibt eine intrikate Kategorie – CG erörtert (und überspielt) das in der für die Schlüssigkeit von „CL“ entscheidenden Passage 238f!

In der ‚Wirklichkeit‘ ‚funktioniert‘ sie nach CG’s Dispositionen (um eine erneute Reformulierung zu wagen) doch so: Jede ihrer historischen Ausprägungen ist zu verstehen als Moment kontinuierlicher KdE, die zugleich als in unaufhörlicher „Transformation“ (z.B. ) befindlich bezeichnet wird. „Transformation“ folge aus dem „Kontextbezug“, wobei für den „-bezug“ „Adaption“ an den bzw. „Kontrast“ zum jeweiligen „Kontext“ als funktional äquivalent gesetzt sind. Was aber erlaubt, sie „christlich“ zu nennen?

Hier kommt die Unterscheidung von Beobachtung erster und zweiter Ordnung ins Spiel (die bei CG ebd. überspielt scheint). Auf der Ebene sozialer Interaktion, auf der Akteure bzw. Beobachter mit der Qualifikation „christlich“ als „Selbstbezeichnung“ bzw. „Fremdbezeichnung“ hantieren, mag es genügen, die Benennung „christlich“ formal an die Beobachtung eines Kontinuums kommunikativen Anschließens der einen Ausprägung an die jeweils ‚vorangehende‘ andere zu koppeln. Aber ein Buch wie „CL“ operiert immer schon auf der Metaebene einer Beobachtung zweiter Ordnung (die z.B. reflexive Konstrukte wie das – 238 herbeizitierte – Rahner‘sche des „anonymen Christen“ ermöglicht), Und so ist dem Erfordernis materialer Kriterien des Bezogenseins einer unter der Selbstbeschreibung „christlich“ auftretenden „Lebensform“ auf „Impulse [von] Auftreten, Wirken und Geschick Jesu“ nicht auszuweichen; CG erfüllt das, indem er 239 Gott-Schöpfer-Vertrauen, Inklusivität und Herrschaftskritik, Kritik der Fixierung an materiellen Besitz dafür geltend macht. – Was aber, wenn in Beobachtung zweiter Ordnung in einer Ausprägung „christlicher Lebensform“ diese materialen Kriterien als nicht oder nur zum Teil (welchem Teil?) erfüllt festzustellen sind? Müssen dann die konzeptionell ‚archivierten‘ Exklusions-Spezialisten gefragt werden?

  • Es bleibt, vorsichtig ausgedrückt, bei einer problematischen Spannung zwischen den Postulaten einer „Orientierung“ an Jesus und der „Ergebnisoffenheit“ (so zuletzt noch 265) von KdE. – Strukturanalog zeigt sich das an der Ausstrahlung der biblisch-exegetischen Unterscheidung von zwei „Adressatenkreisen“ der jesuanischen ‚Botschaft‘ in die Wahrnehmung zeitgenössischen „Christseins“ durch CG, die hier salopp als ortsfeste ‚Normalos‘ bzw. extravagante ‚Radikalos‘ in Erinnerung gerufen seien. Dass – als Exempel jüngster Zeit aus der Kirche Englands („staatsanalog“ obwohl nicht deutsch!) – wegen ihrer zukunftsträchtigen Experimentierfreude Vertreter*innen der „fresh expressions“ bzw. der „emergents“ (233f.234f) zu CG‘s Sympathieträger*innen zählen, ist evident. Dabei ist just an diesen Exempeln zu bemerken: sie zehren von der Existenz der unattraktiv, langweilig wirkenden ‚Normalos‘, ohne diesen Zusammenhang reflektieren zu können (sollten sie das überhaupt für relevant halten) – es sei denn mit Hilfe von Büchern wie „CL“, die aber nur verfasst werden können dank der unthematischen Wirksamkeit der ‚Normalos‘: so wie der Lukas-Evangelist, ‚Zeuge der Verteidigung‘des ‚Radikalos‘ Jesus (vgl. nur Lk 9,57-62), Seins nur dank des „hochgeehrten Theophilus“ (Lk 1,3) „in guter Ordnung aufschreiben“ hat können….
  • Zur Arrondierung dieser Resonanz ließe sich noch verweisen auf Rahel Jaeggis „Lebensformen“-Monografie und deren Reflexionen auf die Erfordernisse „interner“ und „immanenter“ Kritik. Dies auszuführen mag aber hier unterbleiben.

Das Fontane’sche „weite Feld“. Anmerkungen eines Lesers, der sich ohne Protest eine unglückliche Liebe zu systematisch-theologischem (gar: dogmatischem) Nachfragen nachsagen lassen würde. Aber „Theologie“ ist nicht alles. Darum folgt noch…

 

…ein ‚frommer Schluss‘

 

Er steht ganz am Anfang. Schon das Buch-cover ‚spricht‘. Dass auch diese gestalterische Entscheidung konsequent „schöpfungstheologisch“ interpretierbar ist, gar zu allegorischen Deutungen des Widerspiels von Himmel und Erde verleiten könnte – es mag beiseite bleiben. Aber das cover ist das Vorzeichen zum Verständnis von 266 Seiten gelehrtem Text.

 

Die Erinnerung an Paul Gerhardts Strophe drängt sich auf: „der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann“.

 

Hilft am Ende nur noch Beten? Das ist zwar im Horizont wissenschaftlicher Kommunikation nicht als Argument vorgesehen. Und die sog. empirischen Referenzen zur statistischen ‚Lebenserwartung‘ der „christlichen Lebensform“ unter den Konditionen des Sozialformats „Kirche“, die CG nicht müde wird beizubringen, zeigen eine eklatant degressive Tendenz. Aber ein redlicher Praktischer Theologe, lebenspraktisch engagiert, wird unbeirrt zurückfragen: Na und?

 

© Frithard Scholz

08.02.2022