Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit
und Vielfalt, [Reclam] Stuttgart [2018] 122019
Enttäuschtes von Frithard Scholz
Unter dem Reihentitel „Was bedeutet das alles?“ leistet sich der Reclam Verlag, menschenalterlang die generische „Marke“ für kaum Verzichtbares durch die legendären „…-Heftchen“, ‚Klassiker zum wohlfeilen Preis‘, seit 2012 eine lose Sammlung von literarischen Edelsteinen vornehmlich geistes- und sozialwissenschaftlicher Provenienz. Denkanstößiges wie Odo Marquards „Abschied vom Prinzipiellen“ darf als Pate der Reihe gelten, zu der Zeitloses zählt wie Friedrich Nietzsche „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ und Zukunftsprogrammatisches wie Amartya Sens „Rationale Dummköpfe“.
Inzwischen gehört auch Thomas Bauer in diese Reihe. 2013 von der DFG mit dem (2½ mal so hoch wie der Nobelpreis dotierten, was, nebenbei, v.a. für den Laureaten wissenschaftsorganisatorisch relevant ist!) Leibniz-Preis ausgezeichnet (https://www.dfg.de/gefoerderte_projekte/wissenschaftliche_preise/leibniz-preis/2013/index.jsp# - abgerufen 21.04.2022). Nicht zuletzt, wie bei der DFG zu lesen, für die „(Wieder-)Entdeckung des Islam als einer „Kultur der Ambiguität“. In einer grundlegenden Monografie habe Bauer nachgewiesen, "dass gerade der Islam über viele Jahrhunderte lang ausgesprochen offen war für Vielfalt und für eine Pluralität kultureller Diskurse und Handlungen – anders als die antike und mittelalterliche Tradition im Westen, aber auch im Gegensatz zur heutigen Realität in den islamischen Ländern“. 2006 als Fellow ans Wissenschaftskolleg zu Berlin berufen, ist zur Vorbereitung seines „Dienstagskolloquiums, 24.04.2007“ zu lesen: „Die traditionelle Konzeption des Korantexts, hier exemplifiziert an einem Werk des Damaszener Gelehrten Ibn al-Dschazari (1350-1429), betont die primär mündliche Überlieferung des Korans und geht davon aus, daß der Koran, Gottes unerschaffenes Wort, mitsamt zahlreicher, in ihrer Fülle unerschöpflichen Textvarianten offenbart wurde, die dem Menschen die Rezeption des Texts erleichtern, ihn aber gleichzeitig vor die Aufgabe stellen, die überbordende Ambiguität zu "zähmen", d.h. den Wahrscheinlichkeitsgrad divergierender Überlieferungen zu ermitteln“ (https://www.wiko-berlin.de/fellows/akademisches-jahr/2006/bauer-thomas). – Diese adhoc-Zitate lassen wesentliche Motive des hier thematischen Reclam-Heftchens erkennen. Nach dessen wiederholter Lektüre bleibt freilich der Wunsch, es wäre doch lieber der bepreiste „Schuster bei seinem Leisten geblieben“.
Aber 2018 sollte’s ins Verallgemeinerungsfähige gehen. 10 Kapitelchen zur „Vereindeutigung der Welt“ also.
Das Zitat eines Punksongs von Nina Hagen von 1978 intoniert Kapitel 1, das eine Phänomenologie des globalen „Verlusts“ an „Vielfalt“ ausbreitet, in Tier- und Pflanzenwelt wie auch in soziokultureller Hinsicht; dass Bauer fürs Letztere einen Essay von Stefan Zweig aus dem Jahr 1925 (fast 100 Jahre her!) heranzieht, soll die epochale Gültigkeit seiner Zeitdiagnose unterstreichen. In den Kapiteln 2 bis 4 wird Bauer grundsätzlicher.
In Kap. 2 („Auf der Suche nach Eindeutigkeit“) wird der Begriff „Ambiguität“ eingeführt – ohne dass mehr als, dass „Zeichen oder Umstände auf mehrere Bedeutungen gleichzeitig hindeuten“ (13), zur Bestimmung geltend gemacht wird. Später Vorgebrachtes, ja dessen Vorbringen steuernd, heißt es vorwegnehmend „Ambiguitätszähmung ist also das Ziel, an Stelle von ohnehin aussichtsloser Ambiguitätsvernichtung“ (15), aber auch: „Menschen [meiden tendenziell] von Natur aus mehrdeutige, unklare, vage, widersprüchliche Situationen“ (15). – Angesichts dessen fragt sich der Leser schon hier, worauf Bauers habitus-Empfehlung wohl hinauslaufen soll: mehr vom Respekt vor dieser ‚naturalen‘ Inklination von „Menschen“ oder mehr Ausübung der ‚kulturellen‘ Fähigkeit zur Selbstdisziplinierung? Und es beschleicht einen die Ahnung, am Ende werde es heißen ‚Beides zugleich!‘ – auf sich selbst angewandte Ambiguität. Aber vorerst weiter im Text.
Kap. 3 führt einerseits die Kategorie „Ambiguitätstoleranz“ auf individualpsychologische Studien von Else Frenkel-Brunswick zurück, springt aber andererseits alsbald über zu deren generalisierender Anwendung durch „Mentalitätsgeschichte und[…]historische Anthropologie“ (17). Drei ausführliche Beispiele sollen belegen, als wie begrenzt Fähigkeit und Bereitschaft zu „Ambiguitätstoleranz“ sich in auch „Gesellschaften“ (18) erweisen. – Die Entfaltung des dritten Beispiels, der Einführung der Reformation im Genf des 16. Jh., mutiert freilich unterderhand zu einem Schmelztiegel; in ihn lässt Bauer, als solle’s unmerklich bleiben, darüber hinaus reichende Kategorien, auch Behauptungen einfließen, die seine folgenden Ausführungen instrumentieren: die Infiltration und letztlich Überformung religiöser Intentionen durch ephemere politische Interessen; „Gemeinsamkeiten“ von „Calvins ‚Tyrannei der Tugend‘ und islamistischen Gesellschaftsvorstellungen“ (27); die polemische Gegensätzlichkeit der Vorstellung von Einzigkeit und eindeutiger Erkennbarkeit der „Wahrheit“ zur ambigen Wirklichkeit der Lebens (27); die zwei „Pole der Ambiguitätsintoleranz“, nämlich „Fundamentalismus“, zusammengerührt aus „Wahrheitsobsession, Geschichtsverneinung und Reinheitsstreben“, sowie „Gleichgültigkeit“, der „Bedeutungslosigkeit“ von allem „[E]twas“ wegen (29f).
In Kap. 4 präsentiert Bauer, ambiguitätsorientiert, zunächst eine Phänomenologie von „Religion, die entweder religiöser Gleichgültigkeit oder religiösem Fundamentalismus weich[e]“ (33); denn es sei zuvörderst „traditionelle Religion“ (33) Hüterin der Möglichkeiten sozialen Ausdrucks von Ambiguität, auf dem Fuße gefolgt von „Kunst“, wie in den Kapp. 5 und 6 vorausgesetzt (41). Zwar „[bilde] eine relativ hohe Ambiguitätstoleranz eine unabdingbare Voraussetzung für das Gedeihen von Religion“ (33f). Aber doch drängten zeitgenössische gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die als „radikaler Marktkapitalismus“ (38) etikettiert werden, Religion in die depravierende Zersetzung zu den vorgenannten „Polen der Ambiguitätsintoleranz“.
Der Rest des Reclam-Heftchens mutet an wie die Materialsammlung für eine rigorose Kritik an der von Bauer zum Gesamtbild zusammengepuzzelten „Vereindeutigung der Welt“, die für Sympathie für Pluralität im Da-Sein und Perspektivität in dessen Wahrnehmung zu werben beabsichtigt. Aber argumentativ auch nur plausibilisiert wird diese Kritik nicht. Stattdessen arrangiert Bauer seine Welt-Wahrnehmungen nach dem Motto „Was wir heute erleben, lässt sich, um einen Ausdruck der Kunsthistorikers Hans Sedlmayer [sic! FS] zu gebrauchen, als Verlust der Mitte bezeichnen“ (37). Nicht dass behauptet werden sollte, Bauer schlösse sich Sedlmayr umstandslos an: bei Bauer bezeichnet „Mitte“ das Moderate, das nicht-Absolute, ist „Mitte“ die Metapher für den Ort des Komparativen, Variierbaren, Alternativenfähigen (vgl. 47 „Lösung in der Mitte“!) – soweit, so diskutabel. Aber doch verweist Bauers Rezeption der „Mitte“-Metapher auf eine Geistesverwandtschaft: Mit der Aufnahme der Rede auch vom „Verlust“ teilt Bauer Sedlmayrs dekadenz-„theoretischen“ Zug; färbt doch der das im Vorfindlichen Dominierende als eo ipso defizitär gegenüber dem „von Natur aus“ (15) Gegebenen, dem Maß des jedenfalls Richtigeren – dass sich das bei Bauer mit Grundsatzkritik am „Fortschrittspathos“ (56) der Moderne verflicht, wird nicht mehr verwundern und sowieso kapitalismuskritisch Eingestellte erfreuen.
In zwei seitenumfänglichen Kapitelchen führt Bauer „Kunst und Musik auf der Suche nach…“ „dem Eindeutigen“ (Kap.5) bzw. „Bedeutungslosigkeit“ (Kap.6) vor. Wie im Büchlein durchweg, geht’s Bauer um Langfrist-Beobachtungen: die musikgeschichtliche Auskehrung der kompositorischen Impulse des Wagnerschen „Tristan-Akkords“ (43: „Idealfall extrem komplexer Ambiguität“) im rush von Zwölftontechnik und „serieller Musik“ (43), das Außergebrauchgeraten der Spezifikationen von „Kunst“ bzw. „Nichtkunst“ (55), gar der Kategorie des „Schönen“ (54ff), die Perversion, ja Negation von „Qualitätsunterschieden“ (60) durch Vermarktlichung zur (von Ullrich sog.) „Siegerkunst“ (57ff). Mag hierbei Bauers gelegentlich explizierter Detailkenntnisreichtum noch Respekt verdienen, gilt das kaum mehr von Kap. 7, in dem er den „gegenwärtigen Authentizitätswahn“ (66) aufs Korn nimmt. Nicht nur dass Bauer „Authentizität“ schon von der Kapitelüberschrift weg lediglich mit dem quasi-psychiatrischen Epitheton „-wahn“ einführt – er unterschiebt ihr obendrein eine exklusiv essenzialistische Lesart (obwohl längst Reflektierteres kursiert). Nur so findet die Polemik, die normative Aufplusterung von „Authentizität“ zum Qualitätskriterium öffentlicher Kommunikation sei „[a]nthropologisch[…]Irrsinn, denn der Mensch [sei] bereits seiner Natur nach ein Kulturwesen“ (67), überhaupt einen Ansatz.
Einmal ‚auf den Anti-Authentizitäts-trip geraten‘, versucht Bauer auch noch andere Rubriken aktueller Feuilletons zu bedienen. Unter „Vereindeutigung durch Kästchenbildung“ (Kap. 8) den Anti-Rassismus- und Anti-Binaritäts-Diskurs, in Kap. 9 das Missverhältnis von „Reinheits“ Erwartungen und Kompromissbedürftigkeit demokratischer Politik-Prozesse, in Kap. 10 spekuliert er auf die Scheu vorm „Maschinenmenschen“ als dem ‚Preis‘ für konsequente „Vereindeutigung“ … Wie hier nur summarisch erwähnt sei.
So weit, so unzufriedenstellend. Dass Bauers „Begriff der Wahrheit“ (27) extrem unterkomplex bestimmt ist, springt sowieso ins Gesicht. Das mag der Umfangsbeschränkung von Reclam-Heftchen zugeschrieben sein; eine kritische Erörterung geriete schnell zur Zwei-Bändigkeit von Habermas‘ „Auch eine Geschichte der Philosophie“ – also nicht miszellenartig wie hier. Aber weil dieser „Begriff von Wahrheit“ Bauers „vereindeutigungs“-polemisch gemeinte Kategorie der „Wahrheitsobsession“ (29 u.ö.) substantiiert, muss es wenigstens erwähnt sein. Daneben bleiben freilich weitere unbeantwortete Fragen zurück – von denen zwei festgehalten seien:
Bauers Idealbegriff „Ambiguität“ (13ff) ist ersichtlich gesetzt als Rückprojektion einer psychologisch-diagnostischen Kategorienbildung (17). Aber: wie legitim ist diese Verallgemeinerung von individuell u.U. Relevantem zum Wahrnehmungsmuster für Soziales und Kulturelles?
Bauer formuliert (15) „Das Problem ist nur, dass Menschen von Natur aus mehrdeutige, unklare, vage, widersprüchliche Situationen tendenziell meiden. Menschen sind also[…]tendenziell ambiguitätsintolerant“. Eine generalistisch klingende These – aber wie konsequent fürs Weitere ist sie gemeint? Dass Bauer (67) gegen den „Authentizitätswahn“ kritisch geltend macht, „der Mensch [sei] bereits seiner Natur nach ein Kulturwesen“, passt damit schwerlich zusammen.
Der Rezensent summiert unterm Strich: Eingangs noch verspricht eine „inkongruente Perspektive“ klärende Einsichten in Allzu-Selbstverständliches; aber sie verfließt in 6 (von 10) Kapitelchen voller gefühlter Mißliebigkeiten. Dass zwischendrin auch des Merkens werte Urteile mitschwimmen und dass Bauer fairerweise (oder auch: listig?) an vielen Stellen seine Haftbarkeit für Einschätzungen durch eingestreute ‚weitgehend / vielfach‘ oder „sehr schematische Deutung“ (64) einschränkt, macht’s nicht wirklich besser – es gibt halt zu lesen, was es gibt. Und das ist eher schade ums Lesen, obwohl’s nur knapp 100 Seiten Reclam-Heftchen sind. Davor schützt, wie Beispiele von öffentlich Ausgezeichneten auch früherer Jahre belegen könnten (die hier verschwiegen gehören), auch kein Leibniz-Preis.
© Frithard Scholz
(24.04.2022)