Schreibtischtäter ums Christkind

 

Liebe Gemeinde!

Da haben wir sie nun noch einmal gehört, die Weihnachtsgeschichte des Matthäus [Schriftlesung: Mt 2, 1-12].
Also - auch wenn in dem Mitmach-Weihnachtsspiel von gestern nachmittag das freudige Getümmel der Kinder-Könige die Szene beherrscht hat: ich kann sie mir gut vorstellen, die Situation, wie die Weisen da nach Jerusalem kommen. Monatelang gewandert (muß man sich ja mal vorstellen: nix mit Flieger, ICE oder Dienstwagen - gewandert!), nach der Weisung eines Sterns, den sie beobachtet und für ein Zeichen gehalten hatten für die Geburt eines Königs ganz besonderer Würde. Und dann, kurz vor dem Ziel, tappen sie erstmal daneben, weil sie zuviel selber kombiniert haben: König? also: Jerusalem, Palast - wo sonst? Und da sitzt Herodes, ein Duodezfürst von Kaisers Gnaden, brutal und listig, ein reicher Protz, ständig auf der Hut vor den Anschlägen seiner lieben Verwandten und dabei selber ohne jede diesbezügliche Hemmung - nicht übertrieben: „Dallas“ und „Denver Clan“ ganz original.
„Wo ist der neugeborene König der Juden?“ Als diese Frage sich im Dunstkreis seines Hofes verbreitet, ist er geradezu kalt erwischt. Nur nichts anmerken lassen, keine Schwäche zeigen! Alarmstufe rot, der Krisenstab wird zusammenkommandiert. Derweil werden die ausländischen Gäste mit ihren verblüffenden Vorstellungen diplomatisch willkommen geheißen und zunächst mal in orientalischer Höflichkeit ins königliche Gästehaus quartiert - Hotel Petersberg sozusagen (wenn man‘s mal mit unseren Staatsgästen vergleichen wollte), FirstClass, aber das nötige Bißchen ab vom Schuß, damit die am Hof ausgebrochene Hektik die etwas blauäugig erscheinenden Gäste nicht mißtrauisch macht. Der Krisenstab, die Stasi von Jerusalem gewissermaßen, ist sich schnell einig: da müssen unsere Experten ran. Eine Kommission wird hastig zusammengestellt; wer muß da rein? Die hohen Beamten vom Religionsministerium natürlich, aber dazu auch Fachleute von draußen - schließlich handelt es sich um eine Frage von höchstem staatspolitischem Rang. Betriebsblindheit kann da gefährlich werden, und wenn das Kommissionsergebnis zu revolutionär werden sollte, gibt‘s ja auch noch die Stasi, nicht wahr. Es wird also ein Gutachten bestellt, die Kommission in Klausur geschickt und mit dem nötigen Zeitdruck versehen. Die Frage lautet: „Welche Erkenntnisse gibt es darüber, wo der Christus geboren werden soll (Anmerkung: Christus, im Volksmund auch Messias genannt)?“
Die Kommission tagt - was heißt schon ‘tagt‘? Nachtsitzung vermutlich - und kommt zu folgendem Erkenntnis: „In Bethlehem/Judäa“ (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Ort in der Region Galiläa). Begründung siehe Buch des Propheten Micha: Und du, Bethlehem, im jüdischen Lande, bist keineswegs die kleinste unter den Städten in Juda; denn aus dir wird kommen der Fürst, der mein Volk Israel weiden soll.
Eine klare Sache, dieses Gutachten, wie es scheint. Aber es scheint nur so. Wir sind gemeinhin geneigt, in diesem Untersuchungsergebnis die zwingende Gewalt des Heilandsgeburt zu sehen: daß sogar Leute, die an dieser Wahrheit gar nicht interessiert sind, nicht anders können als zu bestätigen, was wir glauben. Das soll uns heute morgen beschäftigen, dem wollen wir ein wenig genauer nachgehen. Was haben jene Experten damals gefunden, was haben sie damit gemacht, wie sind sie mit der Wahrheit umgegangen? Was passiert mit der Wahrheit, wenn sie ausgesprochen werden soll in Angst vor der Macht? Gelesen haben sie, was wir auch nachlesen können:
Und du,  Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei,  dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist. Indes läßt er sie plagen bis auf die Zeit, daß die,  welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann  der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Söhnen Israel. Er aber wird auftreten und  weiden in der Kraft des HERRN und in der Macht des Namens des HERRN, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen; denn er wird zur selben Zeit herrlich werden, so weit die Welt ist. Und  er wird der Friede sein.
So steht es im Buch des Propheten Micha, gut 500 Jahre vor Herodes. Soviel wir wissen, war Micha so was wie der Landrat von Gath, in Dienstgeschäften häufig bei Hofe in Jerusalem. Wie bei Landräten nicht selten, war er eher ein Kritiker der ‘großen Politik‘. Gegen den König war er sowieso - nicht gegen diesen oder jenen, schlicht überhaupt. Er stellte sich da wohl was Basisdemokratisches vor - wissen wir nicht so genau. Und wenn die sogenannte Staatsräson auf Kosten der Lebensbedingungen des Volkes ging, da nahm er kein Blatt vor den Mund: daß den einfachen Leuten Äcker und Häuser weggenommen wurden, daß Gewalt gegen Ahnungslose und Unbeteiligte geduldet wurde, daß Frauen und Kinder aus ihren Wohnungen vertrieben und Gegenstände des Existenzminimums gepfändet wurden - das sagte er ungeschminkt und öffentlich, und, schlimmer noch, er ließ es auch geschrieben verbreiten. (Zwar konnten damals noch nicht viele Leute lesen, aber es blieb immerhin erhalten, und wir können‘s nachlesen wie damals die Experten des Herodes.)
Dabei machte er sich gar nichts daraus, daß seinerzeit der Staat Israel außenpolitisch schwer in der Klemme steckte und Unruhe im Innern nicht brauchen konnte. Für ihn war klar: all das passierte wegen der am Hofe gepflegten Bunkermentalität, wegen des Eigensinns und auch der Eigennützigkeit der politischen Klasse - alles natürlich unter dem Deckmantel des Rechts, schwer angreifbar. Umso lauter sprach er von Rechtsmißbrauch und Rechtsbeugung, von Bestechung zu Lasten der Ansprüche der kleinen Leute, und die Schöntuerei mit der Religion prangerte er als Heuchelei an: Gott, so meinte er, wäre es lieber, wenn die Menschen schlicht auf ihn hören und mit mehr Aufmerksamkeit auf das Ergehen des Nächsten leben würden. So also Micha, 500 Jahre vor Christi Geburt.
Das las sich natürlich sehr kritische in einem Moment, wo Herodes dabei war, den Jerusalemer Tempel, der es seit Wiedereinweihung vor 150 Jahren noch gut tat, abmontieren und in doppelter Größe wieder aufbauen zu lassen. Das fanden die Experten jedenfalls - sie waren ja erst mal unter sich. Und das galt auch für die positive Vision, die Micha hatte: sie würde ihr Ende finden, diese Götter- und Menschendämmerung in Gestalt der krakenartigen Zentralgewalt, die sich von ihrer eigenen Ideologie nicht mehr befreien konnte. Peinlich nur, daß die Aufzeichnung dieser Vision den zentralen Beleg für das Gutachten der Kommission bilden mußte - aber da mußten sie durch.
Sicher, man hätte auf die Provinzperspektive hinweisen können, auf den Mangel an Überblick bei denen, die zu dicht an den Klagen des Volkes sind. Aber danach war ja nicht gefragt, sondern präzise: „Wo wird der Christus geboren?“ Und nun hatte man‘s oder meinte‘s doch zu haben, aber so wie es da geschrieben stand, konnte man‘s doch nicht sagen, jetzt und hier. Da war politische Vernunft gefragt, fand man. Wir kennen auch das Ergebnis. Gucken wir‘s an.

 

Bethlehem... An der Ortsangabe ist nicht zu drehen. Aber der Beisatz von Micha die du klein bist..., der geht gegen Jerusalem, den ‘Wasserkopf‘, wie die Leute sagen. Kennt man ja. Small ist beautiful. Das muß ja nicht unterstrichen werden, wo der König sowieso seine Schwierigkeiten hat, wie man hört. Sagen wir besser ...du Bethlehem...bist keineswegs die kleinste unter den Städten in Juda... Stimmt auch, aber der aufsässige Beiklang ist raus, nicht wahr.

 

der in Israel Herr sei schreibt Micha. Klingt unauffällig, ist aber eine scharfe Kritik am Königtum, das sich auch in Herodes verkörpert. Schließlich ist gut bezeugt, daß Könige ursprünglich direkt von Gott beauftragt wurden. Relativ bald ist aber die Sache erblich geworden. An Stelle des göttlichen Mandats konnte dann die schwer nachprüfbare Behauptung von Gottesgnadentum treten. Um hier unerwünschten Fragen vorzubeugen, sagen wir lieber aus dir wird kommen der Fürst. Feinheiten interessieren den Alten nicht.


dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist: ein Ausdruck, der offenbar über die menschliche Dimension hinausweist. Der Verheißene hat im Ernst mit Gott zu tun. Aber das ist der Kommission zu heikel. Später wird einer mal sagen „ist die Sache von Gott, so könnt ihr sie nicht vernichten“. Aber so weise geben sich die Experten nicht. Vor allem: Herodes will was Praktisches. Streichung also.

 

er läßt sie plagen... Da wird dann ein Rest seiner Brüder wiederkommen... Das ist bei Micha ein Trostspruch für die Zeitgenossen des Exils in Babylon, erkennbar nachgetragen, weil es mit dem „Herrn“ aus Bethlehem nicht so rasch werden wollte wie gedacht. Verständlich, aber daß das Kommen des Messias mit der Wiedervereinigung des Volkes Israel zusammenfallen soll, das könnte die Römer beunruhigen. Bleibt besser auch weg.
 

auftreten und weiden [werde er das Volk] in der Kraft...und im Namen des Herrn, der Herr aus Bethlehem, sagt Micha. Angesichts der offenkundigen Selbstherrlichkeit des Herodes wäre dies ein radikaler Neuansatz, der das ganze schiefe Wesen des bestehenden Systems wegfegen und aufheben würde. Der Kommission wird mulmig. Alle, auch die Kritiker, profitieren aber davon, daß es bleibt, wie es ist. Und so ebnen sie die Verheißung ein auf das Niveau der ausgesprochenen Erwartung, daß da ein Königskind kommen solle: er wird mein Volk Israel weiden. Damit wird die Stasi des Herodes umgehen können.
 

Überhaupt weiden: Uns Christen fällt dazu ja der Gute Hirte ein, der dem verlorenen Schaf nachgeht bis zum Äußersten und der für die Seinen sorgt. Die Experten des Herodes lasen darin nur den damals üblichen Ausdruck für Königtum und beließen ihn in der Begründung ihrer Gutachtens. Tja, ein bißchen harmlos, die Fachleute. Für den Auftraggeber war das doch die Bestätigung dafür, daß da ein politischer Konkurrent im Anmarsch war - und das gab dann den Ausschlag für die spätere Entscheidung des Herodes zur ‘Endlösung der Messiasfrage‘, die zahllosen Kindern das Leben kostete.
 

er wird zur selben Zeit herrlich werden, so weit die Welt ist schreibt Micha. Nichts Besonderes für die Messias-Experten, aber die fragen sich, wie denn wohl das römische Weltreich solche Sätze auffassen werde - man weiß ja nie, wer alles das Gutachten hernach zu lesen kriegt. Unbewandert in der Sprache jüdischer Religiosität, würden die das wohl als Kriegserklärung, zumindest als diplomatische Drohgebärde auffassen müssen. Und so wird die Bemerkung weggelassen, aus demselben außenpolitischen Kalkül, das seinerzeit Micha an seinen Kontrahenten kritisiert hatte.
 

Er wird der Friede sein: Das wird in der Begründung des Gutachtens mit Schweigen übergangen. Ob die Kommission das als Überschwang religiöser Lyrik genommen hat - Motto ‘Krieg wird‘s immer geben, die Menschen sind nun mal so‘? Aber vielleicht reagierte man eher vorsorglich empfindlich dagegen, daß ein solcher Satz die Propaganda von Herodes und seinesgleichen erntlarven könnte als ideologische Sprachverdrehung á la G.Orwells„1984“? Immerhin ist das ein Bekenntnissatz, den wir Christen von den Engeln der Heiligen Nacht in aller Form bestätigt finden: angesichts des Kindes in der Krippe gilt „Friede auf Erden“! Diesen Satz des Micha zu unterdrücken, macht die Feststellung der Kommission zur bloß halben Wahrheit. Als Verletzung der Sorgfaltspflicht kaum nachweisbar, gerät es zu ganzen Lebenslüge derer, die ihre Hände in Unschuld waschen wollen.
So lasen die Experten des Herodes, und sie kamen für ihren Auftraggeber zu einem Erkenntnis, das keine Wahrheitserkenntnis war, sondern etwas für die Polizei. Ob sie nun ahnungslos handelten oder sich selber täuschten, ob sie sich als ‘Fachidioten‘ benahmen oder als solche, die der Wahrheit die Ehre geben, sie aber zugleich situationsgemäß präsentieren wollten? Waren sie also Schreibtischtäter? Das mag dahin stehen.

Aber was ist mit uns heute? Dürfen wir auf sie mit dem Finger zeigen, weil sie ahnungslos oder kurzsichtig, falsch kalkulierend, das Gute gewollt und das Böse angerichtet haben? So einfach ist es nicht. Ihr Gutachten ließ die Weisen den Weg finden - einerseits - , den sie schon verloren hatten, zur Verehrung des Kindes; ihr Gutachten wies den Weg zur Ermordung der „unschuldigen Kindlein“ von Bethlehem - anderseits.
Dürfen wir nun sagen: der ‘taktische‘ Umgang mit der Wahrheit, wie sie bei Micha geschrieben stand, war ein historischer Fehler? Ein tragischer Irrtum, den zahllose Kinder mit dem Leben bezahlt haben (leider, leider)? Wir aber wären so frei, Micha 5 vollends zu lesen und für wahr zu halten, daraus ‘Erkenntnis‘ zu gewinnen, die kein Polizeibegriff mehr ist, sondern Ausdruck zuversichtlichen Vertrauens?
Wir dürfen‘s nicht, obwohl‘s gut klänge. Wir sind gefragt, wie‘s denn ‘nach Micha‘ steht: angesichts von Auschwitz, angesichts von neuem Rassismus in unserm Land, das auf die Bahn gegangen ist ganz grundgesetzlich, demokratisch und christlich und sozial.
Wir sind gefragt.
Wir brauchen (und wir können) nichts, als uns der Verheißung des Micha unterzuordnen. Bescheiden und selbstkritisch haben wir uns den Schuh anzuziehen derer, die Micha im Visier hat. Ganz schlicht mit unserem Verhalten haben wir dafür zu sorgen, daß die Wahrheit der Worte Michas für alle Menschen zur „Erkenntnis“ wird: das ‘zuversichtliche Vertrauen, daß der Messias doch gekommen‘ sei - es hängt an uns, ob es zustande kommt.
In Richtung ‘Welt‘, die uns - ganz ohne Christus - bloß fragt nach Menschenrechten;
in Richtung ‘Juden‘, die uns - ganz ohne Christus - beharrlich fragen nach shalom, dem Frieden (von dem Micha sprach), wo der denn bleibt: um nur vom Sicher-wohnen zu reden in Asylbewerberheimen oder so, wo die Feuerwehr manchmal zu spät kommt.
Das muß uns gar nicht überfordern. Wir können darauf antworten mit dem Apostel, der schreibt Auf alle Gottesverheißungen ist in ihm das Ja; darum sprechen wir auch durch ihn das Amen, Gott zum Lobe.
Und das heißt praktisch: Wir warten weiter, ohne daß uns etwas garantiert wäre - weder Erfolg noch Schuldlosigkeit. Wir bleiben verstrickt in die Zweideutigkeit des Lebens. So blicken wir in die gleiche Richtung wie die Juden, die auf die Heimkehr des „Restes“ warten dürfen, und die „Völker“, die an den „Rändern der Erde“ zu Hause sind und denen Gottes Friedensangebot nicht weniger gilt als uns.
Uns unterscheidet nur die Überzeugung, die Jochen Klepper in seinem Lied ausspricht:
Noch manche Nacht wird fallen
auf Menschen Leid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen
der Stern der Gotteshuld.
...
Der sich den Erdkreis baute,
verläßt den Sünder nicht.
Wer hier dem Sohn vertraute,
kommt dort aus dem Gericht.
Diese Überzeugung nährt sich von Bethlehem, von Stall und Krippe. Das ist alles nicht nachweislich, das müssen wir glauben. Aber was sollen wir denn sonst glauben - als daß Er, der im Anfang bei Gott war, Das Wort, Fleisch geworden, unter uns wohnte, daß Er unser Friede ist.
Amen.