Wer sagt "Unser Land"?

 

Vorbereitende Beobachtungen zur Diskussion um "neuen Antisemitismus" an einem scheints 'veralteten' Buch:

Friedrich-Wilhelm Marquardt, Die Juden und ihr Land, 2. Aufl. Gütersloh [1975] 1978

 

Mag es auch als „israelbezogener Antisemitismus“ terminologisch entschärft klingen – der Kern des strukturellen Antisemitismus ist die wahrlich historische Territorialfrage: ist „Israel“ ‚westlich‘ protegierter Usurpator „Palästinas“ oder „Palästina“, umständehalber unkündbarer, Untermieter im restituierten „Israel“ – egal, ob die Gründe für diese Restitution als moralisch (Buß-Leistung nach dem NS-motivierten Genozid) oder imperialistisch-pragmatisch (zwecks ‚Ruhe im Nahen Osten!‘ – und gleich, als wie historisch verunglückt die bislang kodifizierte Umsetzung dieser Absicht gelten mag) qualifiziert werden mögen.

Das „Land“. „Ha’aretz“, wie’s in der Hebräischen Bibel ungezählte Male im monumentalen Singular der Selbstverständlichkeit nominiert wird; eher selten sind die Belege in späteren Stadien der Textüberlieferung, die „Eretz Kena’an“ zu „Eretz Jissra’el“ mutieren lassen – erst als „das Land“ durch ausländische Imperien enteignet war, schien ein Possessiv-Attribut angebracht. Freilich – wem gehört es?

 

Friedrich-Wilhelm Marquardt [im folgenden: FWM] ist der (evangelische) Theologe, der diese Frage schon in den 1960er Jahren zu seinem Thema gemacht hat. Kein Wunder, dass er 1968 als erster (neben Friedrich Heer) mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet wurde, die der „Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ seitdem jährlich verleiht.

Bereits 1964 behandelt er „Die Bedeutung der biblischen Landverheißungen für die Christen“[1]. In „Die Juden und ihr Land“[2] [im folgenden: „JL“; eingeklammerte Seitenzahlen für „ebd.“] versucht FWM, „christlichen Bibellesern[…]den einen Gesichtspunkt des jüdischen Landverhältnisses bekannt und lieb zu machen. Das Liebmachen ist das Wichtigere“ (151)[3]. Darum wählt er für seine Darstellung nicht das Format einer wissenschaftlichen Abhandlung, sondern die einer ausgedehnten biblischen Text-Meditation. (Dass nebenbei Erkenntnisse historisch-kritischer Exegese des AT – auf dem Stand des Erscheinungsjahres 1975 – rezipiert sind, sei erwähnt.)

 

Mit der o.g. „wem gehört es?“-Frage geht FWM auf eigentümliche Weise um. Er traktiert die (im Exegeten-Jargon so genannten) Komplexe „Landverheißung“ und „Landnahme“ im Modus der Meditation von hierin auffälligen Verben und Substantiven: Zeigen, Sagen, Geben, Zuschwören - und Erbteil, Los (18-26). Durch namentlich deren Focussierung etabliert er das Modell eines asymmetrischen Verhältnisses zwischen „Gott“ und den „Menschen“, die Adressaten von Landverheißung und Land„gabe“ sind, erst im Ausleben dieser Beziehung über Aberdutzend „toledōt“ zum „Volk“ werden, dem das ‚gebotene‘ „Land“ zur Verkörperung des „Gebots“, der „torā“, gerät. Damit wird die verfügungsrechtliche Kategorie des Wem-gehörens durch die ethische Kategorie eines (noch schärfer verpflichtenden) Umgangs mit Verliehenem (vgl. 53f.55!) überformt: „Nur wer dem Land frei gegenübersteht, gebunden an Gott, hat die Aussicht im Land bleiben zu können“ (54).

Im unmittelbaren Zusammenhang dieses Spitzensatzes lässt FWM erneut die Formel „Erbteil Israels“, nun explizit als Theologumenon des „Deuteronomikers“ benamt, auftauchen. Dieser Umstand macht darauf aufmerksam, dass FWMs Darstellung, als demütig bibelhöriges Nacherzählen der ‚Geschichte Gottes mit seinem Volk‘ einherkommend, sich einem strengen systematisch-theologischen Motiv verdankt, von Anfang an. Schon im kurzen Eingangskapitelchen „Der Gott der Väter“ heißt es „Gegen die alten Götter im Kulturlande Kanaan[…]hat Gott nur ein Entweder-Oder gekannt“ (14). Zwar kann FWM in späteren Passagen seines Nacherzählens auch – analytische Perspektive des Nachgekommenen – Synkretismen als ‚Erdung im Lande‘ erwähnen (z.B. 47: „den Jahweh der neuen Zeit in den Zügen und Geschichten Baals erkennen / Baal war ein Fruchtbarkeitsgott, und Jahweh wurde es für viele Israeliten darum auch“), als vielleicht nicht gerade vom „eifersüchtigen“ Gott (des literarisch wohl späteren Dt) gewollt, aber doch der „Logik der Verheißungen und Wege Gottes und Israels“ (ebd.) entsprechend. Aber das Gefälle der Nacherzählung hin zu einer „monotheistischen“ Beziehungs-Exklusivität bleibt doch vorherrschend.

Fairerweise muss indes hingewiesen werden auf FWMs idiosynkratisch zu nennende Lesart des Ersten Gebots als eines „Kampfgebots“, die eher von einem „Henotheismus“ sprechen ließe (vgl. 14f). Dieser Aspekt von FWMs Büchlein weist voraus auf dessen spätere Publikationen – und geht über das hier Erörterbare hinaus.

 

FWMs inner-atl Priorisierung der Theologie des Dt (mit der er sich normativ im Mainstream der deutschsprachigen wissenschaftlichen Exegese bewegt) ist evident. Die dem Dt abzulesende Vorstellung einer exklusiven Konzentration des israelischen Kults auf „Jerusalem“ kommt den Darstellungs-Interessen von JL entgegen; aber sie verweist auch auf die seinerzeit unartikulierten, jedenfalls kaum reflektierten Prägungen der zeitgenössischen sog. wissenschaftlichen Exegese des AT: die nämlich hatte, vermeintlich ‚auf dem Stand‘ der hermeneutischen Reflexion, ‚fremdgötterische‘ Kategorien rezipiert[4].

Anzumerken ist: Bis in die 1970er Jahre hinein galt als Schul-Paradigma akademisch-theologischer Ausbildung in ‚alttestamentlicher Theologie‘ das Modell einer faktisch unwiderstehlichen Ent-Tribalisierung oder Ent-Paganisierung der alt-israelischen Religion hin zu einem universalitätsträchtigen Monotheismus – eben vom „Gott der Väter“ (A. Alt) zum „Gott ist Einer“[5]. Das mag theologie-zeitgeschichtlich rekonstruierbar sein: Die biografische Prägung seinerzeit maßgeblicher Alttestamentler durch die Wort-Gottes-Theologie namentlich Karl Barths förderte die (dann auch ‚historisch-kritisch‘ gestützte) inner-alttestamentliche Normierung der „Gottes“-Auffassungen von Deuteronomium und Deuterojesaja (vgl. 70f). – Dass die archäologischen Fundstücke der späten 1970er Jahre aus Kuntilet ̵͑Ağrūd und Ĥirbet-el-Qōm , die „Jahwe und seine Aschera“ erkennen lassen[6], die historische Stimmigkeit dieses monotheistischen Deutungsmodells irritiert haben, ist kein Wunder. Dass FWMs extravagante Auffassung, „Monotheismus“ schon als Kategorie wegen ‚Prinzip‘-Lastigkeit misstrauisch zu betrachten (14) und den „Gott Israels“ (15) lieber erzählerisch als ‚Beziehungstäter‘ zu artikulieren, den Vf. von JL gegenüber jener Irritation des wissenschaftlichen mainstream resilienter zeigen dürfte, liegt ebenfalls auf der Hand.

 

Erkennbar in JL bleibt ungeachtet dieser Differenzierungen die tiefe Imprägnierung FWMs durch die Offenbarungstheologie Karl Barths, namentlich dessen vielbändige „Kirchliche Dogmatik“. Sie äußert sich in vielfältigen terminologischen Assonanzen. So hantiert FWM wie selbstverständlich mit auffälligen Ausdrücken wie „erwählen“ und „verwerfen“ (15) – nennt der die „Versuchung,[…]einen seinen eigenen Verheißungen untreuen und damit selbstvergessenen Gott zu erfinden“, eine „unheimliche Möglichkeit“ (68 – wie Barth von der „unmöglichen Möglichkeit“ des Nichtigen sprach, um „Sünde“ auf den Begriff zu bringen) – er verwendet Barths wort- und begriffsspielerische Bestimmung des Verhältnisses von „Schöpfung“ und „Bund“, indem er formuliert „das Land ist der äußere Grund der Mission Israels, die Mission der innere Grund des Landes“ (71; ähnlich auch 56).

 

Aber es beschränkt sich nicht auf derlei semantische Anhaltspunkte. Die Deutung des „radikalen Nein mancher Propheten zu Israel und seinem Land“ als „[E]hren[..]der Freiheit Gottes, zu geben und zu nehmen“ (67) mag als eher unglückliche Zuspitzung der Barth-Resonanz bei FWM gelten; sie honoriert eine Lesart des Barth’schen Begriffs von „Gott“, die – zuzeiten theologischer ‚Schulbildungen‘ – die Münchener Schule (sc. der Barth-Interpretation) Barth als „Dezisionismus“ á la Carl Schmitt und Ernst Jünger auf Schärfste vorgeworfen hat[7]. Bemerkenswerter noch ist: Die Darstellung jüdischer Religiosität in JL ist im Ganzen durchzogen von einer Polarisierung von griechisch-philosophisch‘ infiltrierter „Spiritualisierung“ auf der einen und jüdisch-lebensvoller Verkörperung auf der anderen Seite, abstrakter gefasst, von Menschheitlich-Allgemeinem und Jüdisch-[eben: „Land“-gebundenem]Besonderem (am prägnantesten verdichtet: 80, vgl. aber auch 151 „…wohin der Schlag des Universalismus zielt, auf das jüdisch Besondere“!). Dabei handelt es sich laut FWM nicht um einen abstrakt angesonnenen Schematismus. Im Modus des ‚Geschichtenerzählens‘ (vgl. 13.152) plausibilisiert FWM diese – s,E. auch innerhalb alles späteren Judentums wirksame – Polarität als Folge des epochalen Bruchs in der „Geschichte Israels, des sog. Babylonischen Exils. Sie bringe auf den Begriff, was sich auf Grund der, Generationen währenden, fundamental unterschiedenen Lebensumstände von Juden zu einer Mentalitätsdifferenz zwischen den im Babylonischen Exil und den im „Land“ Überlebenden ausgewachsen habe (62ff). (Dass FWMs Sympathie zweifellos eher der Prägung der Letzteren, der sog. kleinen Leute, gilt [63: „ziemlich plebejisch gedacht“], mag man registrieren und darin sogar eine Entsprechung zu dessen sozialistischen Neigungen sehen, die andernorts zu breiterem Ausdruck kommen[8] - das nur am Rande).

Die Barthische Imprägnierung von FWMs Wahrnehmung wird ein letztes Mal bemerklich in der Erörterung der „Balfour-Deklaration“ von 1917 (142ff), der er den „echten Gehalt“ eines „biblischen Realismus“ (genuin barthisch ausgedrückt: 145) zuspricht. Diese Deutung mag zum Widerspruch herausfordern angesichts des vorherigen – erfolglos auf Geheimhaltung spekulierenden[9] – Sykes-Picot-Abkommens von 1916, in dem die Imperien Frankreich und Großbritannien ihre Interessenssphären am Territorium des politisch im 1. Weltkrieg untergehenden Osmanischen Reiches vorsorglich abglichen, ohne große Empfindlichkeiten für lokale ‚Betroffene‘. Darauf hin wird man (im Rückblick nach 100 Jahren!) die „Balfour-Deklaration“ für einen kurzfristig verpufften diplomatischen ‚Schachzug‘ um Positionsgewinne im 1. Weltkrieg halten; in the long run blieb sie erheblicher Anstoß zur Jahrzehnte währenden Entwicklung, die 1948 zur Gründung des „Staates Israel“ in Palästina geführt hat.

Im Blick auf die ‚politische‘ Verwirklichung der Landverheißung zeigt sich die Kehrseite des auf „Liebmachen“ (151) aus gehenden Geschichtenerzählerischen FWMs:  ist halt eine Neigung zum Weichzeichnerischen á la „right or wrong – my country!“[10]; eine Wendung wie „David hat völkermordartige Strafgerichte an gegnerischen Völkern gehalten“ (59) ist bei FWM noch die weitestgehend erreichte Form der moralischen Relativierung (um nicht gleich an „Erdung“ zu appellieren) des wirklichen „Israel“‘.

 

[1] So der Titel eines (für den Druck „erweiterten“) Vortrags vor der „Arbeitsgemeinschaft ‚Juden und Christen‘ beim Deutschen Evangelischen Kirchentag“; erschienen in der Reihe „Theologische Existenz heute“ (Heft 116), München 1964.

[2] Friedrich-Wilhelm Marquardt, Die Juden und ihr Land, Gütersloh 21978.

[3] So in dem gesondert beachtenswerten „Nachwort“ zu JL; hier artikuliert FWM nicht nur die – in diesem Fall auch sachlich relevanten! – Umstände der Publikation, sondern auch die damit verbundenen kirchenzeitgeschichtlichen und (ja, auch: „politischen“) Absichten.

[4] Man denke an H.W.Wolffs wie-selbstverständliche Verwendung der Kategorie „Kerygma“

[5] Vgl., der Kürze halber, etwa Michaela Bauks (https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/monotheismus-at/ch/6e6b7fc4255d6f71c9cf37c269839bfa/#h1; Abruf 10.06.2015), die einen Kurz-Abriß der Interpretationsgeschichte bietet – und eine eigene, eher vorsichtig vermittelnde, Positionierung.

[6] Vgl. hierzu etwa Manfred Weippert, Jahwe und die anderen Götter. Studien zur Religionsgeschichte das antiken Israel in ihrem syrisch-aramäischen Kontext, Tübingen 1997, 16.

[7] So v.a. Friedrich-Wilhelm Graf, Die Freiheit der Entsprechung zu Gott. Bemerkungen zum theozentrischen Ansatz der Anthropologie Karl Barths, in: Trutz Rendtorff (Hg.), Die Realisierung der Freiheit. Beiträge zur Kritik der Theologie Karl Barths, Gütersloh 1975, 76-118, hier 116.

[8] Vgl. Friedrich-Wilhelm Marquardt, Theologie und Sozialismus. Das Beispiel Karl Barths, München 1972

[10] Der Ursprung dieses Diktums scheint nicht verlässlich ermittelbar. Zum nationalistischen Zug dieses Loyalitäts-habitus passt freilich auch, dass FWM bei seiner Zitation der Balfour-Deklaration (JL 142) den ‚Araber Vorbehalt‘ weglässt (obwohl ‚Platzgründe‘ das kaum rechtfertigen könnten): „mit der Maßgabe, dass nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte.“ (nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Balfour-Deklaration#Deklaration – abgerufen 11.09.2022)