wunschlos glücklich?

Liebe Freunde!

 

Von einem, der auszog, weil er das Wünschen nicht aufgeben wollte, und einem, der ihm deswegen schon auf Erden den Himmel versprochen hat, soll heute die Rede sein.

Wie bei einem Märchen klingt das, nur ein bißchen anders. Das ist kein Zufall. Die Geschichte, die ich Ihnen heute erzählen möchte, ist alt, wie ein Märchen, nur ein bißchen älter. Die ersten Christen waren es, die angefangen haben, diese Geschichte zu erzählen: nicht Besonderes auf den ersten Blick, diese Geschichte von einem unbekannten Soldaten. Und doch war etwas zum Wundern darin, das die alte Geschichte immer neu sein ließ für sie. Denn die, die nach ihnen kamen, haben die Geschichte wieder erzählt: die alte Geschichte, aber jeder ein bißchen anders. Schließlich gab es da und dort Männer (wir nennen sie Evangelisten) - die haben die Geschichte aufgeschrieben, so wie sie sie verstanden haben: jeder in seinen Lebensumständen, jeder ein bißchen anders.

Und bevor nun ich Ihnen die Geschichte neu erzähle von einem, der das Wünschen nicht aufgeben wollte, und einem, der ihm deswegen schon auf Erden den Himmel versprochen hat - bevor das..., lese ich Ihnen vor, wie der Evangelist Matthäus sie aufgeschrieben hat:

Als aber Jesus nach Kapernaum hineinging, trat ein Hauptmann zu ihm; der bat ihn und sprach: Herr, mein Bursche liegt zu Hause und ist gelähmt und leidet große Qualen. Jesus sprach zu ihm: Ich will kommen und ihn gesund machen. Der Hauptmann antwortete und sprach: Herr, ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach gehst, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Bursche gesund. Denn auch ich bin ein Mensch, der Obrigkeit untertan, und habe Soldaten unter mir; und wenn ich zu einem sage: Geh hin!, so geht er; und zu einem andern: Komm her!, so kommt er; und zu meinem Burschen: Tu das!, so tut er's. Als das Jesus hörte, wunderte er sich und sprach zu denen, die ihm nachfolgten: Wahrlich, ich sage euch: Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden! Aber ich sage euch: Viele werden kommen von Osten und von Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen; aber die Kinder des Reichs werden hinausgestoßen in die Finsternis; da wird sein Heulen und Zähneklappern. Und Jesus sprach zu dem Hauptmann: Geh hin; dir geschehe, wie du geglaubt hast. Und sein Bursche wurde gesund zu derselben Stunde.

Da ist er also, unser unbekannter Soldat, und er kommt uns gleich irgendwie bekannt vor. Zwar steht er nicht gerade im letzten Glied, aber zu denen ganz oben mit dem großen Überblick, die sagen wo‘s lang geht - zu denen gehört er auch nicht. Zum kleinen Offizier hat er es gebracht, immerhin mit Planstelle für einen Burschen: einen der die Schuhe putzt, den Kaffee kocht, Bürokram in Ordnung hält - na eben ein Bursche für alles.

Er lebt in einer kleinen Welt. Wir hörten: Ort der Handlung - Kapernaum. Zollstation, Besatzungskaserne, ein paar Geschäfte. Gewiß: eine Kirchengemeinde gibt es da auch, aber die will mit ihm nichts zu tun haben - in deren Augen ist er ja nur der mit dem falschen Gesangbuch oder, noch schlimmer, mit gar keinem. Ganz zu schweigen davon, daß er für die alteingesessenen Kapernaumer einer von der Besatzung bleibt, und wenn er sich auf den Kopf stellt: man grüßt sich vielleicht, aber man spricht ihn nicht an.

In der Stadt also, bei Menschen andern Schlages fühlt er sich nicht recht zu Hause, und so bleibt er halt in seinen Kreisen. Da hat er seine Arbeit, seine Kameraden und Kollegen, mit denen er auch schon mal über die Stränge schlägt, aber es passiert eigentlich nichts Besonderes, alles geht so seinen Gang, das Leben selbst wird zur gewohnten Ordnung. Seine Kaserne ist ihm dann die Welt im Kleinen, und irgendwie stellt er sich auch die Welt wie eine Kaserne im großen vor. Nichts besonderes auch das: kommt das doch auch bei Professoren und Pastoren vor, daß sie die Welt ansehen, als gäb‘s nur Universität und Kirche.

Ein Durchschnittsmensch also - so wirkt er, unser unbekannter Soldat. Und könnten wir ihn fragen, so würde er uns bestimmt sagen: Nun, mir fehlt nichts, ich hab‘ ja auch keine großen Ansprüche; das Leben ist zwar nicht großartig, aber ich bin‘s zufrieden. Und eigentlich bin ich ja wunschlos glücklich. So kann es bleiben.

Ach. Liebe Freunde, wenn ich das schon höre - und wer von Ihnen kennte das nicht auch: Da wird gefragt ‘Wie geht es Ihnen?‘ - die Antwort ‘Danke, gut, ich kann nicht klagen‘ - und beide wissen: eigentlich doch, da lebt etwas, aber es kann nicht heraus. Eine kleine Regel des Umgangs, wir wissen es alle, und doch: wen von uns hätte sie noch nie um‘s Leben betrogen? Alles in Ordnung und sonst nichts - so sind wir tot und merken es selber nicht. ‘Danke, gut, ich kann nicht klagen‘ sagt der Kopf, doch der Bauch ist unglücklich; aber der Kopf kann nicht klagen, also muß der Bauch wunschlos bleiben - und wer wunschlos ist, der ist doch glücklich, oder?

Aber hören wir weiter zu, wie es unserem unbekannten Soldaten ergeht, der wunschlos glücklich ist - eigentlich - und dem nichts fehlt. Auf einmal fehlt ihm etwas. Das hießt: ihm fehlt nichts, es fehlt ihm ein anderer. Sein Bursche wird krank, er kann sich nicht bewegen, und es wird immer schlimmer damit. Stabsarzt. Oberstabsarzt. Nichts hilft - da müßte schon ein Wunder geschehen, daß der wieder auf die Beine kommt, ist die letzte Auskunft. Ein Zwischenfall im Normalbetrieb: bedauerlich, gewiß (sagen alle, die den Burschen kennen) - er war ein guter Mann, und haben ihn schon abgeschrieben. Unverzügliche Entlassung; Bestellung eines Ersatzmanns: so sieht es die Dienstordnung vor, die das Leben in der Kaserne regelt.

Doch sieh - als der Bursche sich nicht mehr bewegen kann, fängt unser unbekannter Soldat an, sich zu bewegen. Ein bißchen mulmig ist ihm schon dabei; denn was ihn bewegt, paßt nicht in die Ordnung, die doch sein Leben sein sollte: er will, daß der Bursche wieder gesund wird. „Hör mal“, sagen auch die Kameraden, die das natürlich mitbekommen: „du weißt doch, daß das nicht geht. Sei vernünftig und nimm den Ersatzmann, dann ist alles in Ordnung!“ Aber unser Soldat will keinen Ersatzmann und er will sich auch nicht abfinden mit der Ordnung, die einen andern unbeweglich liegen läßt, als wäre er tot. Er will nicht vernünftig sein, sondern er will etwas Verrücktes: er wünscht, daß ihm ein Wunder geschieht. Wie das gehen soll, das weiß er nicht; aber was er sich wünscht, das weiß er: sein Bursche soll wieder gesund werden.

Da mögen die vernünftigen Kameraden von der Kaserne den Kopf schütteln und etwas murmeln von ‘midlife crisis‘ und ‘völlig durchgedreht‘ - er läßt sich bewegen von der Unbeweglichkeit des andern, und geht: aus seiner Kasernenwelt in die Stadt, wo er nicht zu Hause ist. Was ihn da bewegt, ist ihm selber nicht richtig klar, denn sein Wünschen paßt in keine Ordnung, die er kennt. Das macht ihn unsicher, aber bevor er sich‘s zurecht legen kann, ist er schon da - Er, der andere, von dem unser unbekannter Soldat weiß, ohne es zu begreifen: dem kann ich es, dem muß ich es sagen, der kann es. Und so sagt er denn, was er auf dem Herzen hat. Dabei bringt er es nur halb heraus, denn - weil ja, das hat er noch nie gemacht: vor anderen Leuten sagen, daß ihm etwas fehlt, daß er sich etwas wünscht. Herr, sagt er also nur, mein Bursche liegt gelähmt zu Hause und leidet furchtbare Qualen. Als wenn das so selbstverständlich wäre, wenn einer sich das Unmögliche wünscht. Aber Jesus - er ist ja der andere - findet es ganz selbstverständlich: Ich werde kommen und ihn gesund machen.

Alles schient klar für ein happy end: der Zauberdoktor greift ein, der Stabsarzt stellt nachher unerwartete Besserung fest - alles wieder in schönster Ordnung, alle wunschlos glücklich. Aber nun kommt es erst noch, warum die Geschichte immer wieder neu erzählt werden kann. Da bringt es nämlich einer, der mit dem Wünschen nicht vor dem Unmöglichen Halt macht, nicht nur so weit, daß ein Gelähmter sich wieder bewegn kann - nein, die ganze Welt kommt in Bewegung.

Denn Auge in Auge mit dem, der das Unmögliche selbstverständlich machen will, geht unser unbekannter Soldat aufs Ganze: „Soviel Entgegenkommen steht mir gar nicht zu“, sagt er zu dem andern, „ich hab‘ ja keinen Anspruch wie die andern hier - aber ein Wort nur von dir: das würde meinen Burschen schon auf die Beine stellen.“ Wie er dabei Jesus als eine Art oberkommandierenden General von Himmel und Erde anspricht und in aller Bescheidenheit ans Portepee faßt: das könnte einem rechtschaffenen Theologen schon die Haare zu Berge stehen lassen.

Aber Jesus ist kein Anstoßnehmer - im Gegenteil: er ärgert sich nicht, er wundert sich, ja er ist begeistert: „Seht ihn euch an“ ruft er aus der Geschichte heraus uns allen zu: „das ist der Erste! Er weiß es gar nicht, aber er hat es euch vorgemacht, wie Menschen wirklich Unmögliches erfahren werden. ‘Dazwischen liegen Welten‘ sagt ihr und meint: ‘die sitzen nie an einem Tisch‘. Ich sage euch aber: sie werden an einem Tisch sitzen - nicht die Vernünftigen, die wunschlos Glücklichen, die schon im Leben Toten, sondern die sich bewegen lassen von ihren unmöglichen Wünschen zum Leben mit den andern.“ Und unser unbekannter Soldat, der danebensteht? Zu dem sagt Jesus: „Du hast Unmögliches gewünscht, du wirst Unmögliches erfahren.“ Wie es denn auch geschieht.

Das, liebe Freunde, war die Geschichte von einem, der das Wünschen nicht aufgeben wollte, und einem, der ihm deswegen schon auf Erden den Himmel versprochen hat. Die Überschrift klang wie bei einem Märchen, nur ein bißchen anders. „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“. So hört es im Märchen auf. Und weil unsere Geschichte wie im Märchen angefangen hat, nur ein bißchen anders, hört sie auch auf wie im Märchen, nur ein bißchen anders: Obwohl sie schon gestorben sind, leben sie noch heute und wünschen sich nur eins - unsere Gesellschaft. Sie meinen: ‘Wer‘s glaubt, wird selig?‘ Ganz recht, so ist es: Wer‘s glaubt, wird selig - nur eins nicht: wunschlos glücklich.

Amen.