Ernst Axel Knauf / Hermann Michael Niemann, Geschichte Israels und Judas im Altertum, (de Gruyter) Berlin/Boston 2021

Unmaßgebliche Beobachtungen und Bemerkungen eines exegetischen Un-Spezialisten

 

„Dieses Buch sollte idealerweise zweimal gelesen werden“, schreiben die Vff. im Vorwort: „Einmal zu Beginn des theologischen Studiums, auch wenn dann noch nicht alles verständlich sein mag, das zweite Mal am Ende des Studiums (oder später) mit dem im Studium und der eigenen Lektüre Gelernten im Kopf und einem kritischen Geist gegenüber dem hier Niedergeschriebenen […]“ (V; eingeklammerte Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Publikation).

 

Ach hätte ich doch vor mehr als 50 Jahren so ‚ordentlich‘ studiert, wie die Vff-Empfehlung das unterstellt und ich es auch später jahrelang theologischen Studienanfängern angelegen gemacht habe, berufspflichtgemäß und wie das Regelwerk der „Gemischten Kommission für die Reform des Theologiestudiums“ ab 1978 (renoviert 1993) vorgab. (Bevor die ‚Bologna‘-Dampfwalze allem „Humboldtischen“ auch in Theologischen Fakultäten/Fachbereichen den ‚Stecker zog‘, halbwegs zumindest.)

Nur, so waren die Dinge 1966ff nicht. Noch nicht mal in Tübingen. Da habe ich zwar auch im 3. Semester bei Hellmuth Brunner Anfangsgründe der Hieroglyphen gelernt und bei Wolfgang Röllig akkadische Keilschriftsilben – ganz ‚ordentlich‘ (die Vokabelkärtchen sind noch sentimental aufbewahrt): Schnupperkurs ‚Alter Orient‘ also, rund ums „Alte Testament“, werweißwozu es später mal akademisch würde gut sein können … Aber dann passierte der 2. Juni 1967, Benno Ohnesorg, und alles was dann für Jahre unter in Deutschland Studierenden folgte. Subjektive Verschiebung des Aufmerksamkeits-Fokus zur „Gesellschaftstheorie“; das „Alte Testament“ blieb rechts liegen, die Examensfach-„1-2“ am Ende als ‚Pauk‘-Ergebnis willkommen aber langfristig gefühlt ohne Belang.

So bin ich durch 12 Jahre Uni (postgraduate inklusive) und 32 Jahre Kirchendienst als Pfarrer auf diversen Posten durchgekommen. Und kann, inzwischen ruheständlernd, Neues durchschmökern, Nachholbedarf betr. Fachkunde befriedigen.

 

Der narrative Tonfall dieser Vorbemerkungen beansprucht übrigens, nicht von exhibitionistischem Interesse bloß an der privaten [Auto-]Biografie getrieben und drum ‚objektiv‘, in ihrem propositionalen Gehalt, belangfrei zu sein. Nicht nur dass niemand andere „Augen“ als seine eigenen hat zu verstehen, was er/sie liest! Die auf meinem Bildungsweg „eingeatmete“ Hermeneutik, die dazu anhält, die Positionalität von Schreiber:in wie Leser:in statt für ein Hindernis des Verstehens als dessen konstitutive „Bedingung der Möglichkeit“ zu veranschlagen, ist ja so „privat“ nicht mehr – Streit um die propositionalen Gehalte inklusive, naklar. Wird sie doch geteilt auch von denjenigen, die unter dem label „Identitätspolitik“ eintreten für – ganz gegen den nebenbei herzitierten Kant – den sowohl kognitiven wie praktischen Vorrang des Besonderen vor dem Allgemeinen.

 

Ein Glück, dass ich Knauf/Niemanns ‚Lehrbuch“ tatsächlich „zweimal gelesen“ habe (wenn auch unter anderen Umständen, als die Ideation der Vff. vorsieht). Aber diese lernbiografische Zeitverschiebung muss kein Nachteil sein – im Blick aufs vorwortlich genannte „Ende des Studiums“ wusste sich Karl Barth einig mit seinem hundert Jahre voraus gegangenen Freund-Feind Friedrich Schleiermacher: „Man ist stud.theol. bis zu seinem Tode – Schleiermacher soll sich noch im Alter gelegentlich als solcher unterschrieben haben – oder man ist es nie gewesen“ (so in seinem akademischen Schwanengesang: Karl Barth, Einführung in die evangelische Theologie, [EVZ] Zürich 1962, 188).

Die erste Lektüre passierte geradezu, angetrieben wie hingerissen von einem gemischten Gefühl:

  • Faszination von der coolness, mit der die Vff. ihre Leser:innen in ihren Wechsel der Perspektive auf „Geschichte“ hineinziehen: „wissenschaftlich“ genommen, sei „Geschichte“ die falsifikationsfähige Verknüpfung von „Datensätzen“ (vgl. 1) zur Einpassung in möglichst einfache Hypothesen – dankenswerterweise lag der ‚Schlüssel‘ zum Nachvollzug dieser Blick-Einstellung unübersehbar ‚unter der Fußmatte‘: (so 12) die ausdrückliche Erwähnung von Inspirationen durch Harris‘ „Kulturmaterialismus“, Wallersteins „Weltsystemansatz“ und die „Annales“-Schule;
  • Verblüffung durch unerwartete Einschätzungen von ‚Marksteinen‘, die bislang für ‚kritische Bibelleser‘ wie mich Grob-Orientierung boten: Zwar hatte sich auch zu mir – eingestandenermaßen fachdisziplinär Unterbelichtetem – herumgesprochen, dass in den letzten 5, 6 Jahrzehnten unter AT-Exegeten sich eine Neigung zu Spätdatierung biblischer Schriften breitgemacht hat. Aber dass „Lehrbuch“-Vff, wie Knauf/Niemann nassforsch unter den Augen ihrer scientific community als ‚alles ‚aus der Perserzeit‘ (14)!‘ dekretieren (und im Vorbeigehen überhaupt den Schriften des AT „Quellen“-Status“ absprechen; 13) können, wirkt denn doch neu. Abgesehen von prononcierten Einzelurteilen, die sich leicht einprägen, wie: „König Salomo“? dessen seinerzeitige Existenz ein Irrtum der historisch-kritischen Exegese (169.172)! oder: die sog. „Landnahme [Israels]“ (seit Ende des 19. Jh. als klassisch geltender Terminus der AT-Exegese) – wer solle da wann wem was (mehr oder minder konfliktär) weg„genommen“ haben? einen Personenverband mit dem Namen „Israel“ habe es in der in Frage kommenden Phase der „Vergangenheit“ (1) gar nicht gegeben, und: „Land?“, Land sei sowieso in der Region „Kanaan“ ‚genug für alle da‘ gewesen (79)…;
  • Schließlich eine residuale Skepsis gegenüber szientifischen Überzeugungstätern wie den Vff.: Genährt durch den geradezu zur Schau getragenen Rigorismus, mit dem die Vff. konkurrierende Darstellungen der „Geschichte Israels“ ins Archiv des „wissenschaftlich“ Überholten verfügen (Noth und Donner; 13). Was und wieviel an vor-urteils-haltiger ‚Einstellung‘ muss ich teilen, um auch das von ihnen gezeichnete Gesamtbild ‚sehen‘, als „vergangenheits“-repräsentativ anerkennen zu können? Nehmen doch Vff. prononciert Wellhausens (1878) Grundsatz „Konstruiren muß man bekanntlich Geschichte immer…Der Unterschied ist nur, ob man gut oder schlecht konstruirt [sic!FS;]“ (V.13) in Anspruch. – Ob und ggfs. inwiefern sich in derlei Skepsis die von den Vff. animierte Präsenz des „kritischen Geist[es]“ bemerkbar macht, muss sich zeigen.

 

Hinreichend irritiert, vor einer zweiten, bedächtigeren, Lektüre des Buches nach einer „Zweiten Meinung“, professioneller als meine, gesucht – und mit Eckart Ottos differenzierter Rezension (Orientalische Literaturzeitung 116, 2021, 373-375; hierauf beziehen sich im Folgenden eingeklammerte Seitenzahlen) immerhin eine gefunden!

Otto entledigt sich der Aufgabe schulmäßig seriös und fair, wenngleich er von Anfang an durchblicken lässt, dass ihm das Ganze nicht passt. Diversen von ihm als „problematisch“ eingestuften Knauf/Niemann-schen „Thesen zur Interpretation biblischer Texte und zur Ereignisgeschichte Israels und Judas“ (373) hält er s.E. stärker „überzeugende“ andere, im Forschungsdiskurs bewährte, entgegen, gelegentlich sogar „weitgehenden Konsens“ (374; was beabsichtigt, jedenfalls geeignet ist dazu, die Vff. in die Ecke allzu vorlauter Dissidenten zu stellen). Exemplarisch widerspricht er der ‚Salomo-Erfindung!‘-These (s.o.) der Vff. mit Hilfe einer nachgerade komplementären Lesart des „Königs“ Rehabeam – literarische Inszenierung eines Normal-Scharmützels unter historisch-kritisch arbeitenden AT-Exeget:innen, aus dem ich mich inkompetenzhalber heraushalten muss.

Widerspruch findet bei Otto schon der im Buchtitel signalisierte Anspruch. Als, durchaus verdienstliche, „wirtschaftshistorisch orientierte Landeskunde Palästinas“ (374) mag ihm das Buch durchgehen – das unbestrittene Bescheidwissen der Vff. über die „tribale Kupferindustrie der Bronze-Eisen-Zwischenzeit“ (374) wird ironisch hervorgehoben. Aber, bitte: eine „Geschichte Israels…“, die diesen Namen verdiene, müsse auch „zu beschreiben suchen, welche Kraft religiöser Gedanken und Ideen das Schicksal der Menschen in diesem Raum in der Antike politisch beeinflusste“ (375).

Wie gesagt, das Ganze passt Otto nicht; darum nimmt er sich auch einigen Raum für die Begründung dieser Einschätzung. Im rezensierten Buch sieht er die „Verbindung eines extremen Nominalismus mit gleichzeitig einem extremen Materialismus“ (374) zum Ausdruck kommen; das kann man so sagen. Wenn derlei Stichworte aufgerufen werden, genügen aber keine exegetischen ‚Normal-Scharmützel‘ mehr. Darum werde es lt. Otto „Zeit, in der Alttestamentlichen Wissenschaft eine Grundsatzdebatte über die Methodik zur Geschichtsschreibung Israels in der Antike zu führen, die sich auch der Frage annimmt, wie gute von weniger guten ‚Konstruktionen‘ der Geschichte Israels zu unterscheiden sind“ (375) – geneigte Zuhörer wie ich wären gespannt. Genau das ist die Frage! Die sich im 21. Jh., bei allem Respekt vor dem „Historikerstreit des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts“ mit den literarischen Kombattanten Karl Lamprecht, Eduard Meyer, Max Weber, die Otto name-dropping-weise zu Zeugen seiner methodologischen Klage gegen Knauf/Niemann aufruft (vgl. 374), noch einmal neu stellt.

 

Was bleibt einem wie mir, der sich aus erwähnten Gründen vom exegetischen Detail besser fernhält, zu ‚bemerken‘ nach der zweiten Lektüre von Knauf/Niemann (im Folgenden: K/N; einklammerte Seitenzahlen beziehen sich wieder auf ihr Buch)?

 

Beginnen wir „von außen“, mit Beobachtungen an der Darstellung (der Erträge) ihres historisch-methodischen Vorgehens. Von dem übrigens zweifelhaft scheint, ob die Vff. es ein „hermeneutisches“ zu nennen zulassen würden – obwohl sie vielfach Gebrauch machen von der interpretatorischen Wechselbezüglichkeit von „Einzelnem“ und „Ganzem“. Denn mit ihrer terminologischen Entscheidung für die Rede von „Daten[-sätzen]“ (1 u. öfter) demonstrieren sie nicht nur den Erfolg des Versuchs, einen geeigneten ‚Oberbegriff‘ für die formal heterogenen Bezugspunkte anzubieten, die ihre Darstellung der „Geschichte Israels und Judas im Altertum“ stützen (müssen), sondern sie inszenieren sich auch als konsequente Dissidenten der Profession.

Textsortentypisch – es ist ein „Lehrbuch“ beabsichtigt – bieten „Prolegomena“ (1-44) Einblick in die unvermeidlichen Voraus-Setzungen; vieles davon sei hier übersprungen.

Bemerkenswert bleibt die Taxonomie von „Daten“-Sorten, die K/N als Grundlage ihrer „wissenschaftlichen“ Darstellung der „Geschichte uswusw“ reklamieren (11-13): erstens „zeitgenössische Texte und Bilder ( = Dokumente), die aus den Ereignissen selbst herrühren“ und zweitens „Befund[e] der Archäologie des Hl. Landes in der Eisenzeit“. Erst letztens, gleichsam nur der Vollständigkeit halber, werden Texte der „Bibel“ aufgeführt: Als „Quelle“ für ‚wissenschaftliche‘ Erkenntnis der „Geschichte uswusw“ seien die sowieso ungeeignet, da bloß, mit jeweils entstehungszeitlichen Partikular-Interessen imprägniert, „erzählte Vergangenheit“ zwecks „‚Identitätsstiftung‘ und Orientierung“ (7). (Dass Vff. zu verstehen geben (13), der zum historischen Terminus aufgerückter Ausdruck „Quelle“ sei überhaupt ein spätromantisches Erbstück der Geschichtswissenschaft, viel zu selten reflektiert, mag Lesern darüber hinaus intellektuell-folgenloses Vergnügen bereiten…)

In den capp. 1 bis 8 – vom „…Ende der bronzezeitlichen Mittelmeerwelt“ (45ff) bis „Dareios I.“ (334) – halten K/N diesen Duktus der Belegtechnik konsequent durch (ohne dass hier Triftigkeitsprüfungen erfolgen könnten!). Auf fällt freilich, dass K/N ab capp. 9.x dazu übergehen, auch stilistisch erkennbar, ihre „Ernte einzufahren“: Die Reserve gegenüber dem – historisch ‚verabschiedeten‘ (die Entwürfe von Noth, auch Donner kriegen ‚ihr Fett ab‘; 13) – naja, „‚kritischen‘ Nacherzählen“ biblischer Texte nimmt ab, der Impuls, Einzelaussagen aus „Daten“ en détail zu begründen, schmilzt dahin; zuvor als „Hypothesen“ Hantiertes wird als ‚Paradigma‘ exekutiert. Das lässt sich insbesondere erkennen an den Skizzen zur Finalisierung des Textbestandes der Hebräischen Bibel (vgl. nur 356.364.375f.387.411).

 

Erste Vergrößerung des Beobachtungsmaßstabs:

Den Vff. geht es von Anfang an – darum die programmatische Reklamation von Wellhausen! – ums „Konstruiren“ (V. 13 u.ö.). Dass die Trennung von ‚Konstruiren‘ und „Rekonstruiren“ – kaum im Vorwort in aller Schärfe eingeführt (V: „nicht Rekonstruktion, die ist unmöglich“) – alsbald (5) mit der Formel „Die Vergangenheit wird […] (re)konstruiert“ ad libitum gesetzt wird, muss zwar erstaunen. Aber nimmt man die normative Präferenz fürs „Konstruiren“ als programmatischen Ausdruck für die Überzeugung der Vff., dass bei der Generierung einer „wissenschaftlichen“ Darstellung der „Geschichte von XY“ der ‚subjektive‘ Anteil, eben die „Konstruktion“, wichtiger sei als der ‚objektive‘, das als berücksichtigungsbedürftige „Daten“ eingestufte Material, reimt es sich notdürftig zusammen. Die oben bemerkliche Entschärfung des Programm-Rigorismus mag als K/N’s Angst vor der eigenen Courage deuten, wer will.

Immerhin erlauben sie sich für dessen Durchführung „pragmatischen Probabilismus“, expliziter: „Liegen genug sichere Punkte für ein Gesamtbild vor, darf man auch weniger gesicherte Punkte darin einfügen, wenn sie passen“ (16).

 

Zum bei K/N besonders beliebten Handwerkszeug gehört, beobachterisch wie darstellerisch, das sprachliche ‚framing‘ der „Daten“ mit Hilfe aktuell-zeitgenössischer Termini.

(Ein paar Beispiele, die leicht vermehrbar wären: Ägypten habe unter Ramses II. und III. an „Edom“ „Entwicklungs- und Katastrophenhilfe“ geleistet (71) – der biblische Prophet Jeremija habe als „informeller Mitarbeiter [für die schafanidische Opposition gegen König Zidkija]“ und als „Chefideologe“ (vgl. hierzu auch genereller 217f) Gedaljas gearbeitet, dessen biblisch-angeblicher ‚Schreiber‘ Baruch sei in Wirklichkeit Jeremijas „Führungsoffizier“ gewesen (303) – die Vermutung eines „Kulturschocks“ (276) judäischer Zwangsarbeiter durch das Erlebnis der „Weltstadt [Ninive]“ – die Einführung des (luther-übersetzt:) ‚Jobel-Jahres‘ sei als „Schuldenbremse“ zugunsten von Kleinbauern (353) einzuschätzen.)

Derlei ‚framing‘ ist nicht bloß schmunzel-wirksamer ‚gag‘. Und es befördert auch nicht nur die generalisierende Umnutzung von „Daten“, von – nie interpretationsfrei in den Diskurs einführbaren! – Beobachtungen von chronologisch weit Entferntem zwecks Beurteilung aktuell-zeitgenössischer Phänomene.

Vielmehr drückt es en passant den sublimen, aber bestimmenden Zug am Welt- und Geschichtsverständnis aus, den K/N mit dem Verweis auf ihre „theoretischen Grundlagen“ (12) rationalisieren – hier mal ins Umgangssprachliche übersetzt: Was so passiert und gemeinhin ‚Geschichte‘ genannt werde, ändere nichts Wesentliches an der Welt, sei ja bloß ‚Ereignisgeschichte‘. Wesentlich sei das, was man gleichsam von gaaaanz Weitem erkennen könne: vor Augen führt’s das Satellitenfoto der einschlägigen Zone des Vorderen Orients auf dem Buch-cover; daran appelliert der passagere Hinweis auf die Zeit „vor 500 Millionen Jahren“, da das (später sog.) Heilige Land „am Südpol“ gelegen habe (2). So unmissverständlich ausgesprochen in der definitorisch fungierenden Metapher „Im Meer der Geschichte sind die Strukturen die Strömungen, die Konjunkturen die Wellen, und die Ereignisse die Schaumkronen auf den Wellen“ (4; Hervorhebung FS). – Nur aus derlei Grundüberzeugung von der tiefen Konstanz des Ganzen unter allen emergenten Details können die wiederkehrenden Insinuationen erwachsen, mit denen K/N unterstellen, der „nicht ganz so alte Orient“ ihrer eigenen Tage funktioniere nach derselben Logik wie der „Alte“ (so 94 zur „Herrschaftsausübung“ zum Zwecke der „Bereicherung der Herrschenden“, oder 113 „im Orient – bis heute – […] Staatsapparate [als] Fettaugen[…] auf der Suppe der produktiven Schichten“, und Ähnliches 29.114f).

Reinhart Koselleck hat in „‚Historia magistra vitae‘. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte“ (erstmals in: H.Braun / M. Riedel [Hgg.] Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag, [Kohlhammer] Stuttgart 1967, 196-219) 1967 maßgeblich Diskontinuitäten geltend gemacht, die derlei ‚Lehren aus der Geschichte‘ ausschließen. Ob sich „Daten“-Beobachter, die „Ereignisgeschichte“ zum bloßen Oberflächenphänomen (vgl. 4 die „Schaumkronen“!) umdefinieren, davon beeindrucken lassen würden, mag auf einem anderen Blatt stehen.

 

Überhaupt scheint einem hermeneutisch imprägnierten Leser wie mir ein wissenschaftsgeschichtliches ‚Erinnern!‘ geboten. In ihrem methodologischen Grundsatz-cap. 1.4 bezeichnen K/N manche „Daten“ als „primär“ (12). Bei deren Differenzialbestimmung gehen sie extrem vorsichtig vor (besonders was „Daten“körper aus der „Archäologie“ angeht), schließen die meisten Merkmale als nicht dafür erforderlich aus und beschränken sich auf das Kriterium, „dass deren raumzeitliche Koordinaten nicht bereits hypothetisch sind“ (ebd.). Indes: noch nicht einmal diese enge Bestimmung schließt Interpretations-Bedarf aus, wie die Erwägung zu einer möglichen, historisch unwahrscheinlich frühen, Steuererhebung gelegentlich eines sog. „Beleg-‚Zettels‘“ (273f) sogar dem exegetischen Laien erkennen lässt. Kurzum: auch sog. „primäre“ Daten entkommen nicht den Mühlen der „Protokollsatz“-Debatte, die in den 1920ern im „Wiener Kreis“ entbrannte und die defacto – und sei’s infolge Ermüdung der Üblichen Verdächtigen – 1963 Jürgen Habermas mit dem contra Popper gerichteten Beitrag „Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik“ beendete (zuerst in: M.Horkheimer [Hg.]. Zeugnisse. Festschrift für Theodor W. Adorno, [EVA] Frankfurt am Main 1963, 473-501).

 

Zweite Vergrößerung des Beobachtungsmaßstabs.

Neben diesen Grundannahmen spielen im Werkzeugkasten von K/N auch noch Kategorien eine operative Rolle, die sich wie Rote Fäden durchs Ganze ziehen.

So nehmen K/N ihre Lizenzierung für – ganz „gerechte Sprache“ – „die Historikerin“ zur Entleihung von „Theorien zur Organisation ihrer Daten“ bei z.B. der „Sozialanthropologie für vorindustrielle Gesellschaften“ (12) auch für sich selbst in Anspruch. Zusammenhängend erstmals in ihrem Buch skizzieren Vff. 36f ihre ethnologisch inspirierte (Ideal-)Typologie von überfamilialen Sozialformationen, die über die Naturwüchsigkeit von „Clan“ resp. „Sippe“ hinaus reichen: noch, verwandtschaftlich entfernter, familial bzw. sippenmäßig verkörperte „Stämme“ (Häuptlingstümer, darüber hinaus auch hierarchisierte, „komplex“ genannte: 123) – „Staaten“ dürfen Stämme heißen, sofern das Häuptlingstum sich, clan-unabhängig sei’s auch minimaler, formaler Organisation der Sozialformation bedient („Beamte“) – ein weiteres Stadium der Hierarchisierung ist das „Imperium“ (empirisch zumeist nur eines im Horizont des je aktuellen ‚Weltsystems‘). Übergänge von einem zum anderen Stadium werden aggregativ vorgestellt, und als reversibel; als Vergleichsparameter fungieren Grade der Differenzierung zumeist, mit Wallersteins ökonomischer Kategorisierung, nach „Zentrum“ und „Peripherie“ (s.a. 163).

Für die „Geschichte Israels und Judas im Altertum“ spezifischer noch ist das handling der im exegetischen Diskurs schon etablierten Kategorie der „Trägergruppen“ (306) von Traditionssträngen, eben „der ‚stories‘, der politischen und religiösen Mythen, die gesellschaftliche Gruppen zur Versicherung [sic! sollte richtiger ‚Vergewisserung‘ heißen; FS] ihrer Identität wie ihrer Ansprüche und Hoffnungen von sich erzählen“ (5). K/N profilieren diese „Trägergruppen“ anhand unterschiedlicher Merkmals-Typen, dabei Überschneidungen nicht scheuend, und v.a. – auf Anschaulichkeit für ihre zeitgenössischen Leser:innen spekulierend – mit Anleihen vom modernen Parlamentarismus. Systematisch eingeführt wird die Kategorie der „Trägergruppen“ von K/N in einem der Schlüssel-Kapitel ihres Buches, cap. 7.5 mit der vielsagenden Überschrift „Das Ende des Königreichs Juda als [!!FS] Anfang der Geschichte des ‚biblischen Israel‘“ (304-309):

  1. Im Stichjahr 581 vC habe es – gleichsam sozial-geografisch – „drei Kategorien von Judäern“ gegeben, die „Bevölkerung der babylonischen Provinz Judäa (überwiegend Benjaminiter)“, die „Deportierten in Babylonien“, die „Flüchtlinge [sc. und „Arbeitsmigranten“; FS] in Ägypten, dem Ostjordanland, Arabien (vgl. 305)
  2. Zu unterscheiden seien – kriegsfolgen-geografisch – die „Deportierten in Babylonien“ nach Zugehörigen der ersten (597 vC), zweiten (586 vC), dritten (581 vC) Gola; ihnen schreiben die Vff. sehr verschiedene (politische) Restitutions- oder doch Reparations-Erwartungen zu, die sie aus biblischen Textsträngen destillieren (307f)
  3. Primär ideologisch konnotiert ist die Unterscheidung von „Trägergruppen“, geradezu Parteigängern, anhand der Charakteristika von literarischen ‚Stimmlagen‘, die im Gesamt des überlieferten Bestands biblischer Texte voneinander unterschieden werden können.

Diese Unterscheidung ist freilich besonders heikel, weil rein kognitiv-analytisch – muss sie sich doch auf seiten des Differenzierungsmerkmals ‚Stimmlage‘ stützen auf (was nur in seltenen Fällen gegeben sein dürfte!) die ‚Auffindung‘ physisch separater Textträger wie etwa ‚einer‘ Schriftrolle mit dem ‚Buch des Propheten X‘, in aller Regel aber auf literaturwissenschaftliche ‚Isolierung‘ durch hypothetische ‚Rekonstruktion‘ mittels Methoden, die über Jahrhunderte in der scientific community entwickelt worden sind.

Diese Unterscheidung ist besonders reizvoll, gerade weil auch immer begleitet von der Versuchung der Forscher:innen zu kausalen Zurechnungen, ja Rëifizierungen, im Interesse sagen zu können, „wie es eigentlich gewesen“ sei – doch hängt über all dem das Damoklesschwert des „Henne/Ei-Problems“. Die Geschichte der wissenschaftlichen Bibelexegese, namentlich der sog. Penta[/Hexa]teuchkritik, strotzt von Beispielen. Hier genannt seien lediglich die wichtigsten von denen, die K/N für Ihre Darstellung operativ nutzen – und es lässt sich nicht behaupten, dass sie (bei allem „Nominalismus“, den Otto ihnen vorwirft) jener Versuchung durchweg widerstanden hätten…:

Da wird eine Trägergruppe der „Ezechiel-Tradition“ ausgemacht, in der als „ultrakonservativ“ (307) oder auch „Alt-Aristokratie“ (324) bezeichneten ersten Gola. Als dieser „stilistisch“ wenn auch nicht im „Inhalt“ verwandt (277) lesen K/N aus anderen Bibel-Texten die Initiatoren einer „P-Tradition“ (vgl. bes. 345!) heraus, ähnlich wie die Leute, die, „‚Zionisten‘ von 581“, die Worte von „IIJes = Jes 40-48*“ (324) fortgeschrieben hätten (vgl. 308!). Als nicht nur kriegsfolgen-geografisch von all denen unterschieden markieren K/N die unter den in Judäa Zurückgebliebenen agierende „Jeremija-Gruppe“, sondern auch als ideologisch diametral entgegengesetzt auf der ‚Parteilinie‘ „‚Uns gehört das Land, und ihr Exilierten bleibt bitte, wo ihr seid‘ (Jer 29,1-9)“ (308).

Am nachhaltigsten Aufmerksamkeit wenden K/N in der zweiten Hälfte ihrer Darstellung dem ‚dtr Phänomen‘ zu (das mag Vf-psychologisch damit zusammenhängen, dass „D“ den ‚Lieblingsfeind‘ der Vff. darstellt – dazu unten Weiteres). An dessen Geläufigkeit für idëierte Leser:innen appelliert, dass dessen Ersterwähnung im Buch gleich adjektivisch moduliert ist (278: „volles deuteronomistisches Programm“), und noch auf der vorletzten Seite wird es als „D-Doktrin“ (431) problematisiert. Die – so die kategoriale Vorentscheidung – zugeordnete Trägergruppe wird mal als „-Partei“ (292.426), mal als „-Gruppe“ (347.387) etikettiert, gelegentlich sogar nach „Rechts-“ bzw. „Links-Deuteronomisten“ (277.299) differenziert.

 

Abschließend einige Bemerkungen zu K/Ns Praxis der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, mit einem Beispiel:

 

Beginnen wir mit dem schon oben herangezogenen Zitat. „Geschichte als Teil des ‚kollektiven Gedächtnis[sic!]‘ ist immer ein ideologisches Konstrukt, das nach seiner Dekonstruktion durch kritische Geschichtswissenschaft verlangt“ (5). In dieser programmatischen Behauptung steckt alles drin, was sich K/N für ihre Darstellung vorgenommen haben (und darin auch oft explizit vorführen):

  • Engagement für ‚Aufklärung‘ demonstrieren – indem sie an der Aufdeckung spezifischer Differenzen „unter der späteren ‚gesamt-biblischen‘ Übermalung“ (324) arbeiten
  • einen „wissenschaftlichen“ habitus pflegen – der auf seinem eigenen Modus von Rationalität besteht, mitsamt dessen „kosmologischen, anthropologischen und epistemologischen Voraussetzungen“, und imaginierten Kritiker:innen durch das links-populistisch pauschal einherkommende label „Evolutionsleugner, Ursprungsromantiker und Irrationalisten“ vorsorglich die Zulassung entzieht (17)
  • sich im Einzelnen ideologiekritisch gerieren – mit der Standardfrage: was steckt dahinter?

Das kann man ein mutiges Programm nennen – freilich auch „vernagelt“ (wie K/N gelegentlich 277 die von ihnen ‚aufgedeckten‘ „Rechts-Deuteronomisten“ bewerten), weil im Selbstkritik-Modus unterbestimmt.

Jedenfalls bleibt bei K/N eine Reflexion auf die Position ihrer Kritik am mainstream der „Geschichte Israels etcetc“ unartikuliert. Leser wie ich müssen eine Art a-positioneller Positionierung „rekonstruieren“ (!), im Sinne der „freischwebenden Intelligenz“ á la Karl Mannheim – als Symbol dafür stehen mag der auf dem Buch-cover Bild gewordene ‚Blick aus dem All‘.

K/N nehmen sich erklärtermaßen den Versuch vor, „die vorliegenden Daten vollständig, widerspruchsfrei, empirisch überprüfbar und mit dem kleinstmöglichen Theorie-Aufwand in den Griff zu bekommen“ (6) – eben das Programm des „Konstruirens“.

Aber in diesem möglichst ‚neutralen‘ Registrieren und darstellerischen Arrangieren von Fündlein, das allein den epistemischen Vorrang „wissenschaftlicher Erkenntnisse“ gegenüber der partikularinteressengeleiteten Inszenierung „erzählte[r] Vergangenheit“ durch die „religiöse Rede“ biblischer Texte gewährleiste (vgl. 6f), steckt doch auch eine Zweck-Orientierung. Die programmatische A-Positionalität jedenfalls halten K/N nicht durch. Stattdessen ist ihrer „..im Altertum“-spezifizierten Darstellung eine deutliche – auch aktuell-politisch konnotierbare – Präferenz abzulesen.

K/N ‚mögen‘ v.a. (politischen) Pragmatismus: „Prinzipienreiter“ (355) sind ihnen unsympathisch; die Kategorie des „Kompromisses“ gilt ihnen als zukunftsträchtig (vgl. nur die Bezeichnung des „Gemeinsamen Pentateuch“ 256); Alles-oder-nichts-Radikalismen sind ihnen zuwider, von der „deuteronomistischen Illusion“ (287) bis zum „Zerstörungspotential“, das sie den Sympathisanten des „zunehmend apokalyptischen Gedankengut[s]“ zuschreiben (364).

 

An K/Ns Darstellung der sog. Joschijanischen Reform lässt sich das exemplarisch belegen.

  • Sie beginnt mit einer primavista bloß lexikalischen Richtigstellung: das ‚lutherbibeldeutsche‘ Wort „Bund“ (hebr. ברית) bezeichne ‚in Wirklichkeit‘ „einen ‚Unterwerfungsvertrag‘ nach assyrischem Vorbild“ (133. auch 278!). Dieser Hinweis berührt (auch wenn Jan Christian Gertz s.v. „Bund.2.“ [RGG4] die Behauptung von K/N mit Verweis auf andere Belege relativiert) nicht nur eine Übersetzungsfrage, sondern auch die theologische Wirkungsgeschichte: Die Vorstellung vom „Bund“ [sc. zwischen Gott und den Menschen resp. Seinem Volk; FS] hat Pate gestanden für die Tradition der Föderaltheologie der Reformierten – ist, auch dank dieser Vermittlung, zu einem (vielleicht dem?) Paradigma der wirkmächtigen „Kirchlichen Dogmatik“ Karl Barths geworden – stellt jüngstens Anschlussfähigkeit her zwischen ‚augenhöhe-affinen‘ theologischen Konzepten und der als generell ‚autoritär‘ in Verruf geratenden biblischen Tradition. – Für den engeren Kontext von K/Ns Darstellung gilt darüber hinaus: die hier hervorgehobene assyrische Konnotation beim Begriff ברית bildet die willkommene Chance zur Anknüpfung der im Weiteren verschiedentlich konkretisierten These einer vornehmlich assyrischen Prägung des – später durch „‚gesamt-biblische‘ Übermalung“ tendenziell invisibilisierten – Synkretismus in Juda/Israel (vgl. 257.327!): im literarischen Stil (277f), bei der יהוה-Vorstellung (z.B. 285f. auch 279f), auch dem Aufbau des Kern-Deuteronomiums Dt 5-28 (278).
  • Die capp. 6.5 und 6.7 widmen K/N den Regierungszeiten Manasses und Joschijas. Bei allem generellen „aufklärerischen“ Verdacht K/Ns gegenüber den oberflächlichen Einfärbungen der biblischen Textgestalt (vgl. die Entgegensetzung von „rationalem Denkvermögen“ und „‚ehrwürdigen Traditionen‘“ 255) ist das Ausmaß erstaunlich, in dem sie das Bild Manasses (274: „2 Kön 21,1-18[…]eine einzige Verdammung“) zurechtrücken  – und den „von der Tradition über Gebühr und Verdienst verherrlichte[n] König Joschija“ (285) ‚kleinschreiben‘.

An K/Ns ‚Entschuldigung‘ Manasses besonders erwähnenswert ist die gesondert gefertigte tabellarische Aufstellung 275 sowie der Hinweis, Manasse habe nach der Aufhebung des „Tempels in der Festung von Arad[…]die beiden Masseben und Räucheraltäre nicht vandalisiert, sondern sorgsam bestattet“ (279)“…

Von Joschija zeichnen K/N das Bild des als „achtjährige[r] Prinz[…]auf den Thron“ Gekommenen, der „wenigstens die ersten zehn Jahre unter der Vormundschaft der Revolutionäre von 640“ gestanden habe, „wahrscheinlich angeführt von[…]‚Staatsekretär, [Premier-]Minister‘ Schafan ben Atzaljah“ (284), der auch „hauptverantwortlich gewesen sein [dürfte] für das ‚Regierungsprogramm‘, das in den Jahren bis zu Joschijas Volljährigkeit ausgearbeitet wurde“ (285). So dass der Leser ohne weiteres das Epitheton ‚Marionette des Apparats‘ erwarten könnte (das bei K/N freilich ausbleibt). Aber bei aller Marionettenhaftigkeit ist der König der, der am Ende ‚den Kopf hinhalten‘ muss, im Wortsinne („Hinrichtung durch Necho bei Megiddo“ 287).

Und auch das erspart Joschija nicht die drastische Abwertung durch K/N, seine „Politik“ sei „größenwahnsinnig“ gewesen – während Manasse als „Realpolitiker“ geradezu gepriesen wird (274).

  • Damit einher geht, das gesamte weitere Buch durchziehend, eine Grundsatz-Kritik an der Politischen Theologie des Deuteronomiums. Zwar erklären K/N „Faktizität, Umfang und Natur der […] ‚Joschijanischen Reform‘ [für] umstritten“ (286), und selber moderieren sie die Schilderung in 2.Kön 22,3-23.7.13-25 zu einem „lokal auf Jerusalem konzentrierten“ (287) Vorgang herunter: also eher kein für ganz Juda wirksamer Oktroi eines יהוה-Monotheismus, selbst wenn sich die „Uminterpretation des Kultlegitimationsgesetzes Dtn 12* in ein ‚Kultzentralisationsgesetz‘“ (347) á la longue durchgesetzt habe.

Die Inklination der schafanidisch inspirierten Maßnahme zur politischen Durchsetzung der ‚wahren Religion‘ sei nachhaltig gewesen, spätere Radikalisierungen (Links-Pharisäer, Zeloten bis zu Sikariern=Terroristen 426) inklusive. Selbst wenn schon das Ende Joschijas und seiner Nachfolger die Meinung, „Kleinstaaten wie Israel und Juda“ hätten Potential zum Mitspielen im „Konzert der Großmächte[…] – besonders wenn sie auf die rechte Art an den rechten Gott glaubten“, als „deuteronomistische Illusion“ (287) entpuppt hätten. Drum legen K/N ihre Darstellung der „Geschichte Israels und Judas im Altertum“ auch so an, dass sie auf der drittletzten Seite des Buches den „erste[n] und zweite[n] jüdischen Krieg“ kommentieren können als „grauenhafte Widerlegung der D-Doktrin, dass mit Thora-Gehorsam (und Messias-Erwartung) schon die richtige Politik gemacht würde“ (431).

  • Implikation dieser Kritik ist eine sublime Rehabilitierung, zumindest ‚Normalisierung‘, des Polytheismus in Israel/Juda (225ff. 235) – und überhaupt, unerachtet menschheits-universalistischer Aufschwünge wie „Der Rest der Welt hat allen Grund, Israel für die Thora zu danken…“ (358):

Im programmatisch anti-narrativen Duktus der Darstellung K/Ns auffällig, lässt sich das Auftauchen dieser Art ‚Pathosformel‘ erklären in Verknüpfung mit der Entdeckung der Kategorie „Kompromiss“ als Interpretament der in der Zeit Esras ‚fertigen‘ „Thora“ (356). Sie lässt K/N, gleichsam last minute, ihren methodischen Frieden machen mit der Gegebenheit des biblischen Textes.

Seit Odo Marquards Eloge auf die Lebensdienlichkeit des Pluralen („Lob des Polytheismus“ [zuerst 1979], in: ders.; Abschied vom Prinzipiellen, [Reclam] Stuttgart 1981, 91-116) ist derlei intellektuell nicht mehr völlig anachronistisch. Mit ein wenig Freude am Wortspielerischen lässt sich sagen: in eben dem synkretismus-aufgeschlossenen Sinne (vgl. 327: „kreative Neu-Interpretation assyrischer, babylonischer und persischer Theologumena“), in dem K/N Asarhaddon den „erste[n] Deuteronomist[en]“ nennen (277), ist Marquard der – vielleicht letzte? – Anti-Deuteronomist.

So positioniert sich die a-positionell „freischwebende Intelligenz“, denn doch.

 

Ende der Beobachtungen und Bemerkungen an der ‚wissenschaftlichen‘ Darstellung der „Geschichte Israels und Judas im Altertum“ durch K/N, die wie selten eine die/den Leser:in darauf stößt, wie tief imprägniert alles „Passierte“ ist von den Realien des Lebens in einer „Welt“ mit den Dimensionen „Zeit“ und „Raum“ (17-44). Sie können und sollen getrost für sich stehen, ihrerseits Kritik auf sich ziehen etc – wie es zum ‚wissenschaftlichen‘ Diskurs gehört.

Gleichwohl scheint ein knapper Epilog angebracht. Der die Frage ‚Was soll das alles?‘ focussiert. Finden sich doch im Buch von K/N unerwartbar eingestreute Aperçus, die über „Welt“ und „Zeit“ und „Raum“ hinausweisen und die für sich selber stehen mögen. Die Vff. borgen sich ihre Pointen mal von Prosper von Aquitanien, mal von Ludwig Wittgenstein:

Kurz vor Schluss resumieren sie

„Die Psalmen sind ein planmäßig zusammengestelltes Meditations- und Gebetbuch der frühpharisäischen ‚Frommen‘, das durch die Aufnahme und z. T. Umformung so ziemlich aller theologischen Themen und Motive des AT so etwas wie (s)eine eigene ‚Theologie‘ darstellt. […] Zugleich zeigen sie mit einer Eindeutigkeit, wie keine ‚Theologie des AT’ nach ihnen, Ursprung und Ziel von Theologie: lex credendi … lex orandi. Die ‚Thora‘ des mit Ps 1 eingeleiteten Psalters ist die Bibel aus Thora und Propheten“ (411; Hervorhebung FS).

Und ziemlich am Anfang:

„Aufgabe der Theologie, die ihr niemand abnehmen kann, ist es, immer wieder daran zu erinnern, dass die Welt, die alles ist, was der Fall ist, nicht Alles ist“ (6; Hervorhebung FS).“

Überzeugungen wie diese (wenn Leser:innen sie dafür halten dürfen) relativieren freilich alle geübte aufklärerische Kritik der biblischen Narrationen – und die Kritik der Kritik gleich mit.

 

© Frithard Scholz

(15.10.2022)