Die "Hirtin" und der "Hütehund"

 

Liebe Studierende, Professorinnen und Professoren, Freunde der ESG, liebe Gäste, namentlich: liebe Pfarrerin Schubert!

 

„Einführung eines Pfarrers in einen besonderen Dienst” steht über dem Kapitel der Gottesdienst-Agende, nach dem sich der heutige Ablauf des Semestereröffnungsgottesdienstes richtet. Als „besonderes” Wort zu Ihrem Dienstantritt, liebe Frau Schubert, reiche ich Ihnen den Wochenspruch hin - selbst wenn der sehr allgemein klingt. Aber vielleicht fügt sich das Allgemeine doch zum Besonderen... (All­gemeines/Besonderes, ein kniffliges philosophisches Thema, das vielleicht Ihren einschlägig bewanderten Ehemann [ebenfalls ‘besonders’ begrüßt!] extra reizt) Wir werden sehen. Doch zunächst hören wir:

Christus spricht: Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben.

Mißverständnisse liegen auf der Hand, die ich erstmal beiseite räumen muss. Es soll eine Studentenpfarrerin werden. Eine, die im Oldenburgischen aufgewachsen ist, wo die Pfarrer von Amts wegen Pastoren heißen: „Hirten” zu deutsch. Freilich: kaum anzunehmen, dass Dorothée Schubert die Studierenden, für die sie nunmehr da sein will, betrachten sollte als meine Schafe, die ihre Stimme hören und ihr folgen. Da lohnt sich gar keine Widerlegung, noch nicht einmal ein Dementi, ein schwaches. Das ist es also nicht, was ich meine.

Etwas anderes aber ist mir aufgefallen an diesem Hirtenwort, das der Evangelist Johannes Jesus dem Christus zuschreibt - dreierlei:

Zum einen: Christus stellt sich hier dar in einer klassischen biblischen Rolle. Gott, der Israel aus Ägypten, aus dem Sklavenhause, geführt hat - wir kennen ja die Wendung aus den zehn Geboten: ihn nennt das Alte Testament den Hirten Israels: Er geht seiner Herde voran und führt sie, zu den Weideplätzen und den Rastplätzen am Wasser; er hat Werkzeuge - Stecken und Stab - und weiß sie zu benutzen, um die Schafe zu schützen vor Gefahren, in die andere sie bringen und nicht zuletzt sie selber sich; er ruft die Verlaufenen zurück und sammelt sie wieder daheim. Eine farbige Bilderwelt tut sich da auf. Ganz wenig von der Farbe des Niedlichen und Idyllischen, mit der spätere Jahrhunderte das Bild vom Hirten übermalt haben: da war wohl eher das Unbehagen an der Kultur am Werke als die satte Lebenserfahrung, die aus den Psalmen des AT auch zu uns noch spricht. Ihren Worten trauen auch wir heute noch zu, dass sie die wirkliche Welt in sich aufgenommen haben (statt aus ihr in eine Utopie zu flüchten), wenn sie menschliches Grundvertrauen in der Bilderwelt von Hirten und Scha­fen zur Sprache bringen. Mit der Vorstellung von ESG als „Herberge” am Wege ließe sich das freilich zusammenbringen. Christus der Hirte - dem wir unsere Wege befehlen [können, damit] er es wohl macht.

Eine zweite Beobachtung am Wochenspruch: Zwar drängt sich das Bildwort vom Hirten monumental in den Vordergrund. Aber sieht man hin, bemerkt man die Wechselbeziehungen, von denen es lebt.

            Ohne Schafe keine Hirte. Christus ist was er ist, um anderer willen. Seine Mensch­lichkeit macht es wahr: Gott, der in ihm ist, ist nicht für sich (wie der „Gott der Philosophen”), sondern er ist für uns. Nicht abgehobene Allmacht, sondern hingebungsvolle Liebe verkörpert Jesus, der darum auch der Christus genannt wird - der Christus, der Messi­as, den auch schon die Propheten den „Hirten” nannten.

            Er redet, und die Schafe hören. Ja, indem sie hören, erweisen sie sich als „seine” Schafe. „Seine”, ein besitzanzeigendes Fürwort - aber nicht, dass sie sein Besitz wären, macht die Beziehung aus. Vielmehr ist es andersherum: sie sind seine Nutznießer, sie behalten ihr Leben, wie er auf das seine nicht versessen ist.

            Er kennt sie, und sie folgen ihm - und sie tun es deswegen. Bei einem Ausleger dieser Worte fand ich eine Ferienreminiszenz: Bergwanderung in den Tauern. Tief drunten ein Schaf­hirte mit Herde. Geschätzte 200, nein 600. Beim Rückweg nach unten den Hirten gefragt. Tatsächlich waren‘s 3.000. „Der Hirte versicherte uns [so dann wörtlich], er kenne sie alle, [...]Besitzer, [...]Eigentümlichkeiten. Ja, wie das denn? ‘Ich kenne sie eben [so der Hirte].’ Ich glaube, er hätte nicht mehr sagen können, auch wenn er es gewollt hätte; denn dieses ‘Ken­nen’ ist ein Geheimnis, das sich nicht in Gründe und Merkmale auflösen läßt.”

Lassen Sie mich die „hessenschau” vom 17. August 2009 zitieren, die von einem Gottesdienst berichtet hat, den Sie auf der Wasserkuppe mit 300 Harley-Davidson-bikern gefeiert haben: „Gottesdienst mal anders - kein Problem für Pfarrerin Dorothée Schubert. Sie lässt sich bei ihren Vorbereitungen nicht aus der Ruhe bringen, auch wenn ihre Schäfchen heute mit Lederkombi und Sonnenbrille zum Gottesdienst kommen. ‘Motorrad und Kirche, das passt doch prima zusammen’ findet sie.” Gottesdienst für Kirchenferne, heißt der insider-Begriff dafür. Ob Sie die 300 Harley-fans bei der Gelegenheit haben „kennen” lernen können, lasse ich mal offen.

Aber es ist doch eine Brücke zu der Frage: Wie viele Studierende hat die Uni Marburg, Frau Schubert? „Man sieht nur mit dem Herzen gut”, bringt es der Fuchs dem „Kleinen Prinzen” bei, in jenem Buch voller Predigtzitate. Ich denke, das ist es - jedenfalls hier. Solches „Kennen” ist keine Gedächtnisleistung, sondern eine Frucht der Liebe. Wie heißt das flockig klingende „Lebensmotto”, das Sie im Semesterprogramm geoutet haben? „live well, laugh often, love much”. Passt doch, tiefsinniger als es womöglich an der Quelle gemeint war.

            Und ich gebe ihnen das ewige Leben: da hat es einen Geber, und es hat Empfänger. Die Schafe nehmen teil an dem, was der Hirte schon ist. Ein bißchen weniger rätselhaft redet wenig später der 1. Johannesbrief: ...[wir heißen] Gottes Kinder, und wir sind es auch... Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden; wenn es aber erscheinen wird, werden wir ihm gleich sein, werden ihn sehen, wie er ist. So steht es zwischen ihm und uns, dem Hirten und den Schafen: ganz gleich.

Schließlich die dritte Beobachtung: Eröffnet wird das Hirtenwort mit einem großen Ich: Ich bin der gute Hirte. Womit wir nochmal beim Thema Allgemeines/Besonderes wäre, den anspruchsvollen Reflexionen übers „Ich”, von Fichte bis Strawson - „Hochschulpfarrerin”, die Sie auch sein sollen, können Sie diesen Bibel-Satz ja mal den Philosophen im Fachbereich 03 vorlegen, oder mit Ihrem Philosophen am Küchentisch bereden. Mit dem Ich, das hier von sich selber redet, ist es sowieso nochmal anders: dieses Ich gibt es schlecht­hin nur einmal - ein Singulare tantum.

So ein ganz Einziger - er ist verwechselbar, wenn er sich bemerkbar macht. Um in Beziehung zu ihm zu leben: um seine Schafe zu sein, seine Stimme zu hören, ihm zu folgen, bedarf es eines klaren Unterscheidungsvermögens. Das aber, das haben wir nicht aus uns selbst, von Natur aus sozusagen. Aber wie? Ein Lied drückt es aus, das schon die Gesangbuch-Revisionen der letzten Generation nicht überstanden hat (von wegen „rosarot”...) - ich hab’s noch mal nachgelesen im westfälischen Gesangbuch meiner Konfirmandenzeit, wo’s auch schon im zweiten Anhang stand, unter „Geistliche Volkslieder”: „Weil ich Jesu Schäflein bin...” - die wenigsten von Ihnen erinnern sich wohl noch, wie es dort weiter heißt „der mich liebet, der mich kennt und bei meinem Namen nennt”. Jesus Christus: Ehrenname eines Beziehungstäters...

   Weil er mich „bei meinem Namen genannt” hat und gesagt ...du bist mein - klingt nach Tauf-Spruch, nicht unpassend zu einer Einführung. Weil er „mich kennt und bei meinem Namen nennt”, werde auch ich ihn wiedererkennen können trotz alles Stimmengewirrs im Zeichen des Multikulturellen.

Das werden Sie gelernt und geübt und erfahren haben, liebe Frau Schubert, als Sie - junge Theologin noch, ohne Aussicht auf den Pastorenberuf in Ihrer Heimatkirche - sich in der Geschäftsführung von sued­deutsche.de verdingt haben: ich will ja nicht gerade sagen wie ein Schaf unter den Wölfen, aber doch im hektisch-coolen Klima der internet-Publizisten unterwegs waren wie eine Arbeiterpriesterin. Oder danach als Predigerin der „Sonntagabendkirche” an St.Matthäus mitten in München... Sie werden es selber am besten wissen.

Ich komme zum Schluss: Sein großes Ich geht vor, mein kleines Ich folgt. Das ist eine Folge, die nicht umzukehren ist, und es ist nicht bloß eine zeitliche Folge. Sie und nur sie führt zwanglos zu dem, was unsere Bekenntnisse die „con-gregatio sanctorum” nennen (wörtlich ja: die ‘Zusammen-Herd’ung’...) - sprich: die Kirche, an der die ESG ja eine sehr besondere Abteilung ist.

Summa: Nicht wir Pastorinnen und Pastoren, mit unseren (womöglich) Schwerpunktsetzungen in Poimenik (wörtlich: Hirtenkunst; fachsprachlich: Seelsorge) - nicht wir müssen guter Hirte sein. Mag sein, dass wir im Schäferspiel des Lebens auch mal in der Chargenrolle des Hütehunds gebraucht werden. Aber für einen Stammplatz im Ensemble genügt es, sich auf den Andern zu verlassen, der der gute Hirte wirklich ist, sein Schaf zu sein, ihn zu hören, ihm zu folgen - und so an seinem ewigen Leben teilzuhaben, das jetzt schon beginnt.

Das ist überhaupt nicht idyllisch, sondern es ist schön und anstrengend und in allem bewahrt: wie im wirklichen Leben. Das, liebe Frau Schubert, beginnt nicht erst jetzt, aber es findet in einem neuen Kontext statt. Amen.