Lese-Notizen zu

 

Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit, [Pantheon] München 342015

 

  • Spektakulärer noch der Buchmarkt-Erfolg Hararis (im folgenden. H.) mit seiner ersten den Anspruch der „Universalgeschichte“ verfolgenden Publikation als der von „Homo Deus“! Der Gestalter hat sich Mühe bei der Visualisierung dessen auf 1 Titelseite gegeben, wofür der Schreiber 508 Seiten braucht: ein Globus-Symbol aus unzählbaren Skizzen von homo-sapiens-Exemplaren, eingestreut SymbolZeichnungen von im Lauf von 70.000 Jahren „Menschheits“-Geschichte emergenten relativen Stabilitäten von Militär (Kriegsschiff, abschussbereite Rakete), Industrie (Amboss und Hammer, Flugzeuge), Religion (Felsendom, Dharma-Rad), Naturgewalt (Großfeuer), landwirtschaftlicher Revolution (einem an den Rand gedrängten Rind) u.a.…
  • Das Spezifikum von H.s „Universalgeschichte“ drückt sich wahrlich nicht nur aus in der Komprimierung ‚registrierter Ereignisse‘ von 70.000 Jahren aufs Format von 508 Seiten Gedrucktem. Erkennbar sind v.a. folgende Leistungen für die kognitive Selbsterfassung der „Menschheit“ – der Sprachgebrauch changiert implizit zwischen Kollektivum und Genus – in einem Quasi-‚Autobiogramm‘:
    • Vergleichsweise auffällig im Kontext von H.s Neigung, konkurrierende Optionen ‚theoretischer‘ Konzeptionierung von „Wirklichkeit“ zu entfalten und sich immer mal für ‚unkonventionelle‘ Varianten zu entscheiden, ist die von Anbeginn des Buches völlig stillschweigende Hantierung der Darwinschen Evolutionstheorie, faktisch der darin implizierten Mechanismen „Variation, Mutation, Selektion“ – als handle es sich um Eigenschaften der „Natur“ und nicht um kognitive Konstrukte zu deren begrifflicher Erfassung, die sich wegen ihrer Leistungsfähigkeit zur (kausalen, wahrscheinlichkeitstheoretisch modifizierten) ‚Erklärung‘ in der scientific community bisher durchgesetzt haben.
    • Ebenso ‚gesetzt‘ ist die Auffassung der „Wirklichkeit“ als eines Kontinuums von „Materie, Energie, Raum und Zeit“ (11), in dem – im Sinne der vorgenannten evolutionären Mechanismen – „Organismen“ genannte Strukturen hervortreten, unter denen „vor gut 70000 Jahren[…]Organismen der Art Homo sapiens mit dem Aufbau von noch komplexeren Strukturen namens Kulturen [begannen]“ (11): take-off der „Universalgeschichte“.
    • Der von H. eingenommene Betrachtungsabstand erlaubt großflächige Periodisierungen: die (1) „kognitive“, die (2) „landwirtschaftliche“, die (3) „wissenschaftliche“ „Revolution“ der „Menschheit“ – wobei H. im Blick auf den, Anfang des 21. Jh. künftigen, Fortgang der „Universalgeschichte“ eine Wiederholung von (2) in Betracht zieht.
  • Die theoretischen Werkzeuge – Basis-Annahme und Grundoperation (De-Komposition und Re-Aggregation) – waren schon aus H.s „Homo Deus“ erkennbar. Deren Verwendung, in variierter Kombination, zeitigt in der „Kurzen Geschichte der Menschheit“ spezifische Folgen, unter denen hervorzuheben ist:
    • Im Unterschied zu „Homo Deus“ billigt H. der Befähigung des homo sapiens zu symbolischer Kommunikation qua Wort-Sprache in der „Kurzen Geschichte…“ qualitativ hohen Rang zu. Was er „fiktive Sprache“ nennt (weil auf zumindest für sinnliche Wahrnehmung nicht Gegebenes deutend), gilt ihm als Schwellenkriterium der ‚Hominisation‘ in der „kognitiven Revolution“. Die wachsende Dominanz des „gar nicht [E]xistieren[den]“ (53 Tabelle), die irreversible Überformung der sog. Natur durch die sog. Kultur, ist der take-off zur Etablierung der strategischen Asymmetrie im Kontinuum des Existierenden zu ‚Gunsten‘ des generischen Elements homo sapiens.
    • Wie in populären paläoanthropologischen Publikationen nicht selten, ist auch in H.s Buch eine stillschweigende Normativierung der ‚ursprünglichen‘ Ranggleichheit zumindest organismisch emergenter Strukturen zu bemerken – ohne dass die rigorose Gegnerschaft zur platonisch-plotinischen Idee der „Großen Kette der Wesen“ (um den Titel von Lovejoys Klassiker zu zitieren) Erwähnung fände. Gelegentlich lässt H. bei aller gepflegten Positionierungs-Askese davon etwas durchblicken: „In den zurückliegenden Jahrzehnten haben wir das ökologische Gleichgewicht des Planeten auf verschiedenste Weise gestört […] im Begriff, in einer Orgie des gedankenlosen Konsums die Grundlage unseres Wohlstands zu verprassen“ (462). Oder, im Zusammenhang der Rekonstruktion der Mnemotechnik „Schrift“: „Freie Assoziation und ganzheitliches Denken mussten Bürokratie und Kästchendenken weichen“ – kaum verhohlenes erkenntnistheoretisches Credo, das den Duft der Blauen Blume des Universalgeschichtlers H. verströmt.
    • Die unvermeidliche Zeitraffer-Methode der Darstellung von Universalgeschichte wird als literarischer Kniff zur Präsentation überraschender An- und Einblicke genutzt. Der Verblüffungseffekt sog. statistischer Daten fürs ‚gefühlte‘ Dabeigewesensein Einzelner wird genutzt; u.a. 113 wird („die Falle war zugeschnappt“) die Reïfikation des zuvor bloß methodisch erkennbar Gemachten festgestellt. Ein weiteres Beispiel jener ‚Methode‘ zeigt die Bewertung der „landwirtschaftlichen Revolution“ als „größter Betrug der Geschichte“: „Die Schuldigen waren eine Handvoll Pflanzenarten, zum Beispiel Weizen, Reis und Kartoffeln. In Wirklichkeit waren es diese Pflanzen, die den Homo sapiens domestizierten, nicht umgekehrt“ (105).
  • Aber auch die Frage nach der perspektiv-bildenden Position des Universalgeschichtlers H. findet in seinem Buch Antwort, zumindest Anhaltspunkte für ein solche. Schließlich wagt er sich zum Schluss des Buches an die zumeist ungestellte „Frage, die wir an die Geschichte stellen sollten“ (459): „welchen Sinn [hat]“ das Alles? (458). Mit dem literarischen Gewicht der Achterlastigkeit wird im Kontext der Erörterung des Meta-Kriteriums „Glück“ der Buddhismus auffällig breit thematisiert (480-482); defacto verweist das zurück aufs Kapitel „Die Anbetung des Menschen“ (277-288), wo auf Grundlage der Kategorie „Naturgesetz-Religionen“ Äquivalenzen von Buddhismus bis Nationalsozialismus illustriert werden.
    • H.s Charakteristik des Buddhismus als Religion des „Naturgesetzes“ (Dharma 275, vgl. parallele Versuche 272) gibt zudem Anlass zur Vermutung, dass diese religiöse Disposition die szientistische Inklination des Vf. selbst komplementiert. Ein einziges Mal erwähnt H. „Geisteswissenschaften“, und das nur ‚mit spitzen Fingern‘ (aber zuviel Verachtung für deren Spezialperspektive würde das Unternehmen der „Universalgeschichte“ unbillig gefährden, selbst wenn H. sich den Hinweis auf die gesellschafts-evolutionäre, quasi pandemische „Verschiebung hin zu den ‚exakten‘ Wissenschaften“ (316) nicht verkneift).
  • Die „Kurze Geschichte…“ ist wie „Homo Deus“ getragen von einem funktionalistischen Grundgestus der Äquidistanz zu Details im Material so wie zu kognitiven Perspektiven darauf. Dieser Gestus legt die, im Kontext explizit buddhistisch motivierte, argumentative Prämiierung des Verzichts des Einzelnen auf „die Jagd nach Gefühlen“ (482) nahe: als Empfehlung H.s zu nehmen, ist dies ein fundamentaler Angriff auf das – von ihm selbst herausgehobene! – hermeneutische Prinzip des „Mensch“-Seins in der Moderne, die Orientierung am ‚Selbstgefühl‘ (478). – Ohne Ahnung von „Harari“ hat Scholz schon vor 40 Jahren in Kritik am luhmannschen Funktionalismus die Figuration der „existenzialen Indifferenz“ in Anschlag gebracht: deren Pate Klaus Heinrich  traktiert in seinem „Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen“ (Frankfurt 1964) u.a. „Buddhismus als Ausweg“.
  • Selbst wenn man im Sinne dieser Figuration H. die Wahrung eines buddhistischen habitus – Neutralisierung der Affektion des Einzelnen durch Phänomene des Erlebens – gutschreibt: lt. Heinrich (ders., ebd. 126) braucht auch der Buddhist „Verkörperungen“. Phänomenologisch korrekt, registriert H. „in ganz Ostasien Buddhas und Bodhisattvas“ (277) – er selber verrät, implizit und beiläufig genug, seine Verehrung für:
    • die Entlarvung der Ideologie vom „Wirtschaftswachstum“ (ein „ebenso gigantischer Betrug […] wie die landwirtschaftliche Revolution“ vor 12000 Jahren): die Einsicht ins, zumindest Vorsicht vor dem künftigen „aufgebraucht“-Sein von „Rohstoffen und[…]Energie des Planeten“ (406f)
    • das Risiko der Gefährdung des „Überleben[s] des Homo sapiens“ durch „Umweltzerstörung“. – In szientistischer Präsupposition kritisiert H. zwar die öffentlichkeitswirksame Rhetorik von „Zerstörung der Natur“ und plädiert für die Rede von „Veränderung“. Aber mit dem Sarkasmus der Vorstellung vom „Goldenen Zeitalter“ für „Ratten und Kakerlaken“ bekräftigt er die Abweichung von seiner konzeptionell nicht-zugelassenen Nicht-Positionalität (428).
    • die „Menschen“-Lebensdienlichkeit der in der Moderne depotenzierten naturwüchsigen „Familien und Gemeinschaften“, gegen deren kapitalistische Dekomposition zum „markt“-kompatiblen ‚Individualismus‘ H. sich sogar zum Argument der Evolutionswidrigkeit versteigt (434-440, hier bes. 440).

 

  • Kap 20 („Das Ende des Homo sapiens“) ist literarisch der cliffhanger, der „Homo Deus“ gespannt erwarten macht.

 

© Frithard Scholz

16.11.2020