Vom Überdauern des Exils

Liebe Hausgemeinde!

 

Am 27. Februar 1933 brennt das Reichstagsgebäude in Berlin. Auftakt zu einer breit angelegten Hetzjagd der Nazis auf Kommunisten und ihre Sympathisanten - wirkliche und angebliche. Einen Tag später flieht Bertolt Brecht ins Ausland; er war schon in den konservativen Niedergangsjahren der Weimarer Republik wegen seiner Theaterstücke politisch verdächtig geworden und hatte nun erst recht um sich zu fürchten. Er geht zuerst nach Wien, dann in die Schweiz, nach Paris; in Dänemark läßt er sich vorläufig nieder. Sein Weg beschreibt auf der Landkarte einen Halbkreis um das nationalsozialistische Deutschland. Jederzeit will er auf die Rückkehr eingerichtet sein. Er glaubt - und das ist eine der wenigen historischen Voraussagen aus seinem Arbeitstagebuch, in denen er sich irrte - daß der Nationalsozialismus in Deutschland sich nicht lange halten würde. In Dänemark schreibt er das Gedicht "Gedanken über die Dauer des Exils":

Schlage keinen Nagel in die Wand,

Wirf den Rock auf den Stuhl!

Warum vorsorgen für vier Tage?

Du kehrst morgen zurück.

Laß den kleinen Baum ohne Wasser!

Wozu noch einen Baum pflanzen?

Bevor er so hoch wie eine Stufe ist

Gehst du froh weg von hier.

Zieh die Mütze ins Gesicht, wenn Leute vorbeigehn!

Wozu in einer fremden Grammatik blättern?

Die Nachricht, die dich heimruft,

Ist in bekannter Sprache geschrieben.

So wie der Kalk vom Gebälk blättert (Tue nichts dagegen!)

Wird der Zaun der Gewalt zermorschen

Der an der Grenze aufgerichtet ist

Gegen die Gerechtigkeit.

Das braucht wohl keine weitere Erläuterung, das ist selber sprechend genug: wie da einer - zumindest innerlich - aus dem Koffer lebt, ständig auf dem Sprunge "Zurück". Wer so in der Vergangenheit zu Hause bleibt, der will sich nicht einleben dort, wo er haust; der muß sich geradezu weigern, die Herausforderungen seiner Gegenwart als Chancen gerade seines einen und einzigen Lebens anzunehmen. Aber was ist mit diesem Leben, wenn die "Nachricht, die dich heimruft, in bekannter Sprache geschrieben" - wenn die ausbleibt, Jahre um Jahre, vielleicht gar überhaupt?

Die fortlaufende Bibellese präsentiert uns heute einen solchen Brief, den Volksgenossen im Exil von einem derer erhielten, die daheim im Reich gebleiben waren (oder richtiger: in seinen traurigen Ruinen). Seinetwegen brauchen die Adressaten in keiner fremden Grammatik zu blättern, aber

er ruft sie nicht heim.

(Jer 29, 1.4-14a)

Ein erstaunlicher Brief, um es vorsichtig auszudrücken. Die Sprache war den Empfängern wohl bekannt: schließlich gehörte zu ihnen die handverlesene Bildungsschicht eines ganzen Volkes - aber die Botschaft war doch befremdlich, geradezu empörend (wenn man sich unter den gegebenen Umständen Empörung hätte leisten dürfen).

"Suchet der Stadt Bestes!" Man muß sich das einmal vorstellen. "Die Stadt": das war Babylon, die Metropole der Siegermacht, die wenige Jahre zuvor praktisch im Handstreich Jerusalem, die Hauptstadt des Reststaates Juda, eingenommen hatte. Selbstverständlich hatten die Sieger in Jerusalem aus Königspalast, Villenvierteln und natürlich Tempelschätzen die wertvollsten transportablen Dinge konfisziert. Und mit ausgesuchter Raffinesse hatten sie dann zerschlagen und entkernt, was wir heute die personelle Infrastruktur des eroberten Landes nennen würden: nicht bloß die Königsfamilie wurde interniert, sondern fast die komplette Führungselite aus Politik, Wirtschaft, Bildung, Staatsreligion wurde festgesetzt und unter schwerer Bewachung nach Babylon deportiert. Und dazu nahm man die technische Intelligenz aus den Bereichen Holz- und Metallbau gleich auch noch mit weg; schließlich waren das Leute, die man im Zentrum des babylonischen Großreiches gut würde brauchen können und die zudem womöglich sonst einen ökonomisch und militärisch unliebsamen Wiederaufbau in der fernen Provinz betreiben würden.

So war das hergegangen; der Rest wurde - fast nur pro forma — einer mit Kollaborateuren besetzten Selbstverwaltung unterstellt und im übrigen sich selbst überlassen. Die armen Bäuerchen auf ihren vom Krieg verwüsteten Äckern würden nicht viel schaden können; die hatten mit der Selbstversorgung genug zu tun. Chancen, jemals wieder zu internationalem Einfluß zu kommen, würde dieses kaputte Land ohnehin nicht haben. So die strategische Kalkulation der Sieger: nicht ganz neu (die Assyrer hatten das, etwas grobklotziger, ein paar Generationen vorher im nördlichen Schwesterstaat von Juda schon einmal vorexerziert), jedenfalls so und (weltgeschichtlich gesehen) vorbildhaft wirkungsvoll, daß um ein Haar uns Deutschen nach '45 es so ähnlich gegangen wäre - eine Art Morgenthau-Plan des Alten Orients.

Das war Babylon damals, "die Stadt"! Wir werden die ohnmächtige Wut derer verstehen können, die in dieser Stadt nun im Exil sein mußten, die Harfen an die Weiden der Vorortkanäle gehängt, disponiert zu Verweigerung und dumpfem Brüten; den 137. Psalm haben wir ja vorhin gehört und mitbedacht; die hemmungslose Bitte am Schluß, Gott möge doch dreinfahren als Rächer der Enterbten, habe ich sogar noch weggelassen: liturgisch für uns kaum erträglich. Ohnmächtige Wut bei denen im Exil, und neben der Klage wohl einzig übrig die vielleicht absurde Hoffnung: die Daheimgebliebenen möchten doch unter dem Schleier der Kollaboration mit dem Sieger Netzwerke des Widerstands knüpfen, bis der Tag des Befreiungskampfes herangereift wäre. Gott würde's dann schon richten. Aber - wo blieb er? So fragten die Exilanten in "der Stadt", die ihnen vorkommen mußte als "Stadt ohne Gott".

Aber war sie das eigentlich? Soviel wir wissen, war Babylon in jenen Jahren eine Stadt, die von Religiosität geradezu summte und brummte - chne daß ich behaupten wollte, daß man die verschiedenen Tempel und Kultstätten nur nach Hunderten hätte zählen können. Die Erde und v.a. der Himmel waren reich bevölkert von den verschiedensten Göttergestalten, Paare und Passanten inklusive - nach ihnen richtete sich Moral, Vorstellung von persönlichem Lebensglück, Staatsräson. Ihre Verehrung unterlag merkwürdigerweise wechselnder Konjunktur - je nach Regierung im Reich und je nach Bedarf für die Gaben, die sie über das Volk ausstreuen sollten. Aber vielleicht ist es doch nicht so merkwürdig, wenn wir daran denken, wie wir heute mit usneren selbstgemachten Idolen umgehen: da haben wir erst den Gott "Fortschritt" verehrt, weil er uns eine goldene Nase und überhaupt ganz unabhängig machen sollte; und seit wir das haben und merken, wie unheimlich kalt uns dabei wird, werden wir ihm -einer nach der andern - untreu und versuchen, mit der Göttin "Umwelt" auf einen grünen Zweig zu kommen.

Wie dem auch sei: Den Juden im Exil jedenfalls mußte dieses Babylon gerade darum, wegen dieser Allgegenwart von Religion, vorkommen als Stadt ohne Gott. Denn Gott - das ist doch Er: den das Volk erfahren hatte als Befreier aus der Sklaverei, der den Bund mit den Vätern geschlossen hatte, der sich herbeigelassen hatte, an der Stätte der Begegnung seinem erwählten Volk nahezukommen - auf dem Zionsberg eben, im Tempel, in Jerusalem, seiner Stadt (wo sonst?). Wie hätte der auch noch hier sein wollen: in der Stadt der herrenlosen Mächte, von denen mal die, mal die an Stelle Gottes gesetzt wurde und dann ihre Opfer an Menschen und Material verlangte und bekam - Mächte, die Menschen sich gemacht hatten, um zu kriegen, was sie wollten, und die dann unversehens selber mit den Menschen machten, was sie wollten.

In deren Mitte Gott? Ihn über alle Dinge fürchten und lieben - aber nur unter anderem? Schon diese Vorstellung allein konnte die Exilanten aufgebracht machen: Unmöglich! Aber es war eher ein unheimliches Gefühl, als daß sie's genau hätten sagen können, warum. Und es brauchte vielleicht

gerade dies Exil mit seinen 70 Jahren, damit... aber ich greife vor.

Wir stehen ja mit den Exilanten am Anfang, und da ist's ausgemachte Sache: Babylon, "die Stadt" - das bedeutet Gewalt, Spott zum Schaden und viel religiösen Nebel ohne irgendeinen Platz für die Klarheit des einen und einzigen Gottes. Folglich gab's nur eines: Ohren anlegen, sich auf nichts einlassen, und im übrigen - "Nächstes Jahr in Jerusalem!"

Das können wir nun wahrlich gut verstehen, daß die dann Gottes Wort hören wollten, wo sie's kriegen konnten, wenn es nur hieß:

Recht habt ihr.

Packt die Koffer nicht ganz aus.

Bleibt in euren Kreisen und haltet euch 'raus.

Schlagt keinen Nagel in die Wand!

Laßt den kleinen Baum ohne Wasser!

Zieht die Mütze ins Gesicht, wenn Leute vorbeigehn!

Die Nachricht, die euch heimruft

- ihr werdet es erleben

ehe zwei Jahre um sind.

Wer der fortlaufenden Bibellese folgt, hat das am Samstag schon lesen können in Kapitel 28, wie das klang.

Und wir können erst recht verstehen, daß der Brief Jeremias aus der Heiligen Stadt Jerusalem einen handfesten Skandal auslöste im Exil - samt nachfolgender Dienstaufsichtsbeschwerde (wie man Ende Kapitel 29 lesen kann). Denn die Exilanten waren nicht bloß gutgläubig gegen alle, die einen Heiligenschein um ihre menschlich allzu verständlichen Wünsche malten. Sie waren wohl auch guten Glaubens, daß Gott ihnen - wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen - eine schwere Aufgabe gestellt hatte: nämlich die Versuchungen Babylons zu ertragen, um dann, wenn der Spuk vorüber sein würde (Gott gebe, bald!) dort weiterzumachen, wo sie hatten aufhören müssen. Wie sollte die Zukunft des alten Gottesglaubens denn anders gesichert werden können als durch sorgfältige und vorausschauende Pflege der Traditionen angesichts der höchst naheliegenden Gefahr, durch synkretistische Aufweichung ihr klar abgegrenztes Profil zu verlieren? Schließlich gab es Erfahrungen aus der Geschichte des Volkes Israel mit so etwas, die wohl erwogen sein wollten, und überhaupt vertrug die ganz neuartige und schwierige Situation einer unfreiwilligen Minderheit alles andere - nur nicht derlei fundamentale Verunsicherungen, wie dieser Jeremia sie in seiner (vielleicht nur gespielten?) Harmlosigkeit vorträgt. 'Prophet will er sein! Wer sagt das nicht von sich, wenn er was erreichen will?'

Das dürfte wohl die offizielle Meinung des Rats der Ältesten im babylonischen Exil gewesen sein. Aber wir müssen ja gerecht sein und zugeben, wie schwer es ist, zwischen hellsichtiger Prophetie und trügerischen Träumen nach vor- und rückwärts zu unterscheiden, wenn sie auftreten. Dazu Prophete links, Prophete rechts - brauchen wir uns nur das Stimmengewirr der Strategen desGemeindeaufbaus in (oder mit oder statt oder für) Volkskirche anzuhören.Was nun Jeremias Brief angeht, so haben wir es leichter: es sind 2500 Jahre her seitdem und lange schon steht er im Buch hier - wir sind die Nachgeborenen und wissen, wie's mit seiner Botschaft ausgegangen ist.

Ob sie's nun gern taten, die Exilanten, oder nicht: gefolgt sind sie seinem Rat de facto schließlich. Denn offenbar lag etwas Zwingendes darin. Sogar Bert Brecht hat sich dazu bequemt; sein Gedicht vom Anfang (ich hab' es erst mal nicht verraten), das geht noch weiter:

"Sieh den Nagel in der Wand,

den du eingeschlagen hast!

Wann, glaubst du, wirst du zurückkehren?

Willst du wissen, was du im Innersten glaubst? Tag um Tag

Arbeitest du an der Befreiung.

Sitzend in der Kammer schreibst du.

Willst du wissen, was du von deiner Arbeit hältst?

Sieh den kleinen Kastanienbaum im Eck des Hofes,

Zu dem du die Kanne voll Wasser schlepptest!"

(Das Apfelbäumchen läßt schön grüßen - von Luther, von Ditfurth oder wem auch sonst).

Jeremia hat recht behalten; wir Nachgeborenen wissen es

und wissen es nicht nur - wir zehren davon mit unserm eigenen Glauben. Allein schon, daß wir hier sitzen, ist der Beweis.

Daß dieser Brief an die Fundamente des alten Gottesglaubens rührte, das hatten schon die Exilanten richtig erkannt. Aber was ist es, das so wahr war, daß es stört? Und mehr noch - der Brief war nicht an uns gerichtet -:

'was lernt das uns?' Ich nenne dreierlei.

Das erste: Gott mutet seinem Volk eine Wachstumskrise im Glauben zu. Sie beginnt mit der desillusionierenden Auskunft "70 Jahre" - das heißt im Klartext: 'ihr, die ihr's hört, ihr werdet's nicht erleben'. Das Spiel, das war schon aus, und Gott eröffnet es von neuem - ein verheißungsvolles Angebot. Aber es gilt Menschen, die ihm dienen, ohne partout Nutznießer der Erfüllung werden zu müssen.

Zum zweiten: Auch die Zwischenzeit, in der Gott seinem Volk nur 'uneigentlich' nahe zu sein scheint - sie ist kein leeres Warten, sondern steht schon unter der Verheißung.

An der will Gott sogar die - menschlich gesehen - feindliche Umwelt seines Volkes teilhaben lassen, und das geht nur durch Menschen, die ihm trauen. Gott rettet sein Volk nicht vor Babylon, wenn er soll - aber er segnet Babylon mit seinem Volk, weil er es will.

Und schließlich: "Alles hat seine Zeit" sagt der Prediger, und wir wissen's und gehen dementsprechend um mit unsrer Zeit - resigniert, zumindest abgeklärt. Aber die Zeit des Lebens ist nicht einfach "unsere Zeit" - sie bleibt von Gott gegeben und bestimmt: "Unsere Zeit in Gottes Händen". Was wir aber als unsere Zeit aus Gottes Händen werden nehmen dürfen, entzieht sich unsrer Kenntnis. Und gar herauszwingen aus Gott können wir's schon gar nicht, daß Gott zu unsrer Zeit seine Zeit für gekommen hält.

In 6 Wochen beginnt die EKD-Synode in Bad Wildungen; sie will zu antworten versuchen auf die Fragen 'Wie wird einer Christ? Wie bleibt einer Christ?' Die Antworten stehen da- hin, wir warten's ab. Die Predigt unsres Bischofs im Eröffnungsgottesdienst aber wird - wenn die Gerüchte stimmen - das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat in den Mittelpunkt rücken. Das uns ja dran erinnert, daß unser Tun nur ganz am Anfang seine Zeit hat, dann: getrostes Lassen. (Derweilen werden wir alle Hände voll damit zu tun haben, "der Stadt Bestes zu suchen und für sie zu beten" - mit unsrem vernünftigen Gottesdienst:) Denn Wachstum und Gedeihen steht in des Andern Hand. Er wird's wohl machen.

Amen.