Theologie zum Tanzen bringen

 

Klaas Huizing, Lebenslehre.

Eine Theologie für das 21. Jahrhundert

Gütersloh 2022

 

 

Situierung I

Als rigorosen Aufräumer inszeniert sich Klaas Huizing mit seinem 775 Seiten dicken Buch. Aufgeräumt werden soll nicht bloß mit der „Theologie“ des – als inzwischen doch (wirklich!) vergangen gelten dürfenden – 20. Jahrhunderts. Und etlicher Vorgängerversionen, bis zum Apostel Paulus zurück. Ganz pluralismusfähig mit dem unbestimmten Artikel „Eine…“ untertitelt seine „…Theologie für das 21. Jahrhundert“: „Lebenslehre“ nennt er sie.

Dass „Theologien“ bislang als „buch“gewordene Reflexionsgestalten „religiös“ artikulierten Da-seins verkörpert sind, könnte als solches schon als irreführende Perspektive wahrgenommen werden, im Rückblick. (Durchaus ohne dass Huizing stiekum in die Nachfolge Platons sortiert werden soll, dem zuzeiten zugeschrieben wurde, nur seine „ungeschriebene Lehre“ erschließe den Zugang zur „Idee“! wirklich nicht) Obwohl phänotypisch dickes Buch, stellt sich Huizings prononciert ‚alternativ‘ gemeinter Entwurf einer Systematischen Theologie dem Leser als zu Druckbuchstaben geronnene mündliche „Lehre“ dar, zur ‚Print-Version‘ unverkennbar intensiv nachbearbeitet, aber eben doch Verschriftung in Würzburg vorgetragener „Vorlesungen“ (Notabene an den Verlag: die scheints kostensparende Verschiebung teils gehaltvoller Fußnoten in ein ca. 130 S. dickes Konvolut von Endnoten: richtig leserunfreundlich!). Evangelisch-theologische Vorlesungen in Würzburg, ein für leserseitige Projektionen aufschlussreicher Kontext: keine Studis aus dem Milieu artiger Pfarramts-Adepten, aber reichlich „Reli-“Lehramts-studierende „Weltkinder“ – Huizing pflegt forciert einen flapsigen Sprachgebrauch, dessen assoziative Pfiffigkeit im 20. Jahrhundert beheimatete Leser bisweilen erheitern kann, aber auch eine Drift ins WG-Kumpelige aufweist und auf Dauer eher nervt: ob der mit diesem Kontext zu tun hat?

 

Situierung II

Auch selbsternannte Aufräumer fangen nicht bei Null an, eben gerade nicht. Was ‚hinter ihm‘ treibt Huizing zu seinem Rigorismus? Über seinen lebensgeschichtlichen Drang zur Emanzipation von den Folgen seiner alt-reformierten Sozialisation im niederländischen Platten Land hat er sich selber immer mal geäußert, gedruckt und medien-mündlich. „Schluss mit Sünde!“: der Titel seines Hamburg 2017 erschienenen Buches ist sprechend genug. Weniger bekannt als mentales ‚Mistbeet‘ seines Impulses ist eine intellektuelle Initiative zum „neu anfangen!“ an der heidelberger Theologischen Fakultät der 1960er/1970er Jahre, in die sich Huizing seinerzeit hat verwickeln lassen.

Dort lehrte Gerhard von Rad. Hatte 1957/1960 seine 2-bändige „Theologie des Alten Testaments“ [im Folgenden: ThAT] publiziert. Wie er v.a. in Bd. I hermeneutisch, ganz innovativ, aufs Narrative gesetzt hatte, beeindruckte die Fachwelt. Erst später fiel auf, dass von Rad in der ThAT der Auseinandersetzung mit dem (kaum narrativisch einzufangenden) Teil des AT ausgewichen war. Jahre später wurde „Weisheit in Israel“ (Neukirchen 1970) „nachgeliefert“, auch ein hermeneutischer Abschied vom Paradigma des Erzählbaren. – In all der Zeit studierte ein gewisser Hermann Timm in Heidelberg Theologie, aufstrebend genug (seine Antrittsvorlesung über gerade diesen ‚späten‘ G.v.Rad druckte 1977 die ZThK, seinerzeit fraglos professionelles Leitmedium). In seiner Habil-Schrift „Geist der Liebe“ (publiziert Gütersloh 1978) schiebt Timm das „neu-anfangen“ energisch an: das jahrzehntelang theologisch-argumentativ leitende transitive Paradigma („Glauben an…“) gehöre ersetzt durch das, johanneisch inspiriert, intransitive „Leben in und mit…“). Und es kündigt sich an eine Auswechslung des basalen Theorieformats der Theologie: an die Stelle geschichtsphilosophischer, gar „heilsgeschichtlicher“ Denke solle eine Phänomenologie des (Alltags-)Lebens treten.

Wer den neuen „Huizing“ schon gelesen hat, Widmung und Danksagungen inklusive, wird sich über diese sehr ‚akademische‘ Genealogisierung nicht wundern. Hermann Timm, seit 1987 Professor an der evangelisch-theologischen Fakultät München, suchte sich den schon damals extravaganten Klaas Huizing als Assistenten aus (der der für 7 Jahre blieb und anschließend, nach Timms Emeritierung, die Lehrstuhlvertretung übernahm) – kein Wunder: da gab’s Affinitäten, die auch im jetzigen dicken Buch noch spürbar sind, nicht bloß in der Aufnahme ausgefallener (Timmscher) Redensarten wie „Posto fassen“ oder der Neigung zu „Dichtertheologien“ (die Timm in den 1980ern in den ProfiTheologen-Diskurs einstreute, „Zimt zur Speise“, wenngleich ohne große Resonanz). Unübersehbar: Timm als Großer Bruder an der Wand. Huizings Emanzipation sucht sich den Weg, Timms phänomenologische Obsession durchs Ästhetische zu kontern durch die prononciert ethische Inklination seiner „Lebenslehre“; und auch durch die Vorliebe für die anthropologischen ‚Botschaften‘ des sog. Alten Testaments pflegt er diesen Abstand.

 

Der spin

‚Neu anfangen!‘ Das benennt nicht bloß Huizings wissenschaftsliterarischen Impuls im „dicken Buch“ zur Systematischen Theologie, sondern auch in der Sache das treibende Motiv. Schwer auseinanderzuhalten. Aufgeräumt werden muss schließlich vor allem im wirklichen Leben – und um dessentwillen dann auch in der buchgedruckten Theologie.

Also ein „dickes Buch“, in dem sogutsgeht alle Traditionsbestände der Systematischen Theologie durchzumustern sind daraufhin, wie sie das (Selbst-)Verständnis von (Christen-)Menschen „schief gewickelt“ haben: der Huizingsche T[heologie]ÜV. Auch in Büchern mit Kontrollabsicht empfiehlt sich die Management-Regel, die ‚nötigen Grausamkeiten gleich zu Anfang‘ zu begehen. – Drum auch beginnt Huizing mit dem Komplex „Sünde“, der ihn erklärtermaßen seit seiner Sozialisation in einer niederländisch-altreformierten Familie belagert, fromme Großmutter inklusive (vgl. 220f., mit mündlicher Lebhaftigkeit geschildert in https://www.deutschlandfunk.de/fastenzeit-tugendcoaching-statt-askese-100.html, Abruf 20.03.2023), gefühlt ausweglos. Also reichen keine Schönheitsreparaturen, es muss eine Generalsanierung her (vgl. 109). Dass dabei auch der Grundsatz, „den üblichen Aufbau einer Dogmatik weitgehend bei[zubehalten]“ (34), teilweise auf der Strecke bleiben muss, ist halt den Realitäten des „Lebens“ zuzuschreiben.

Vom Strukturkonservatismus, den er an der „Glaubenslehre“ des ‚Kirchenvaters des 19. Jh.‘ dezent kritisiert (469), abzuweichen meint sich der [Er]Finder des „zentralen Themas für eine Theologie des 21. Jahrhunderts“ (34) leisten zu müssen – es geht ja um „Lebenslehre“ (s. die beiläufige Abgrenzung: 21).

Schluss mit Sünde“ (so der Titel von Huizings Büchlein, das der herold-artig der „Lebenslehre“ hat vorangehen lassen: Hamburg 2017) machen geht nur, indem „Sünde“ von Anfang an dazu verdonnert wird, in der Textur theologischer Dogmatiken ihre maß-gebende Stellung zu räumen und sie ans „Leben“ abzutreten, unverdorben „geschaffen“ wie’s laut diverser biblischer Darstellungen sei (die konjunktivische Artikulation hier mag exemplarisch darauf stoßen, dass auch der Aufräumer Huizing kein An-sich sehen lassen kann, sondern selber nur als Darsteller von Darstellungen operiert!).

In der unaufgeräumten Tradition christlich-theologischer Dogmatiken ist der ‚locus Von der Sünde‘ zumeist versteckt untergebracht: Unterabteilung der Unterabteilung ‚Anthropologie‘ in der Abteilung ‚Von der Schöpfung‘. Und sorgt aus diesem Versteck ungestört dafür, dass die „heilsgeschichtliche“ ‚Operation Jesus‘ dogmatisch in einer gesonderten Abteilung „Christologie“ reflektiert und mit einer Nachbar-Abteilung „Soteriologie“ vernetzt werden muss (vgl. 329!). Überhaupt ‚Soteriologie‘: schon der Ausdruck (dt. Heil[and]slehre) gibt zu verstehen, dass mit dem schlichten Mensch-Sein etwas ‚nicht in Ordnung‘ ist, von Anfang an und überhaupt, ‚generell‘! Eine einseitige Leseweise der Bibel habe dafür den Ausdruck „Erbsünde“ hervorgebracht, christentumsgeschichtlich überaus folgenreich (dass die römisch-katholische Spielart mit gutem Grund bei Huizing besser wegkommt als die protestantische, sei nur beiläufig erwähnt; vgl. nur 120).

Dementsprechend folgenorientiert arbeitet sich Huizing im „dicken Buch“ vornehmlich an den Varianten bisherigen dogmatischen Denkens über „Sünde“ ab (107-131). Besonders kritisch focussiert er diejenigen, die „Sünde“ anthropologisch universalisieren (wie, im Extremfall, Tillich, der allein schon das Da-Sein des Menschen, die Wirklichkeit seines Erschaffenseins, durch seinen „Sünden“-Begriff ‚Entfremdung“ qualifiziert; 209). So übernimmt er, kaum verwunderlich, beifällig das pointierte Urteil Laubes, die „völlige Unfähigkeit des Menschen zum Guten [gehöre] zum Markenkern des Protestantismus“ (119). Letzteres ‚verdanke‘ sich eben der Paulus-Lesart Luthers, und so empfiehlt er der Systematischen Theologie die stärkere Aufmerksamkeit auf die weniger „winterdunkel eingeschwärzte Anthropologie“ (120) des Alten Testaments, die sein eigenes dickes Buch einfärbt. Außer Schwarz erkenne das Alte Testament eben auch Grautöne (und sogar andere Farben!) am Menschen (trotz „Gottes“ depressiven Gen 8,21!), und namentlich dessen weisheitliche Lehre sei „schlechterdings untragisch“ (so, mit v.Rad, 299). In diesem Sinne bietet Huizing im Vorübergehen „eine gegenwartstüchtige Beschreibung von Sünde“ an: sie müsse „verstanden werden als Petrifizierung des eigenen Selbstbildes, als gewollte Immunisierung vor Hinterfragungen durch Dritte“ (114). Das klingt alles andere als ‚wesensmäßig‘, stattdessen: bedingungsweise, situationsabhängig.

Wird doch diese thematische Focussierung begleitet (vielleicht gar: getragen) von Huizings Grunddisposition durchs Komparativische. Von Anfang an outet er sein faible fürs „ziemlich Gute“ (16ff.37ff). In gängigen Schulnoten-Definitionen etwas zwischen „2“ und „3“ – schließlich soll das dicke Buch „für das 21. Jahrhundert“ auf eine „Lebenslehre“ hinauslaufen, und auch das gelebte Leben mag sich – mal im Ganzen genommen und ‚ehrlichgemacht!‘ – wie ‚etwas zwischen „2“ und „3“‘ anfühlen (vgl. die konfessorische Anmerkung 13 [569f]). Perfektionistische Bestrebungen zerschellen zumeist an den Umständen. Kein Wunder, dass Huizing Beate Rösslers Begriffs-Studie „Autonomie. Ein Versuch über das gelungene Leben“ [Berlin 2017] übern grünen Klee preist (121.256). – Das dazu passende theologie-literarische Format entleiht Huizing der AT-exegetisch eingeführten Typologie priesterlicher / prophetischer / weisheitlicher Denk- und Schreibstile (separat charakterisiert als Differenz von „Heiligkeitsatmosphären“ 148-158 – die eigentümliche Terminologie soll bemerken lassen, dass es nicht ums intellektuell Handwerkliche eines „-stils“ geht, sondern ums Profil von Welt-Haltungen); und er optiert entschlossen fürs Weisheitliche. Klar, dass er die Haltung des „Weisheitslehrers“ mit kommunikativ sympathischeren Attributen auszeichnet (19)! Aber darüber hinaus hört er im dicken Buch auch noch sachliche Gründe fürs Weisheitliche sprechen: es korrespondiere der Chance des Menschen, Entwicklungs- und Lernprozesse zu durchleben, ja gar der Unfertigkeit der Schöpfung (vgl. 224f!). Das dürfte in der von theologischen Lehramtsstudierenden bevölkerten Würzburger Vorlesung die zustimmende Resonanz befördert haben.

 

Die Fäden

Soviel zur Grund-Intuition, die von Anfang an gegeben sein muss, um für die Texturierung eines ‚dicken Buches‘ Auswahl und Anordnung der Argumentationslinien zu steuern, die dessen ‚Botschaft‘ begründen können. (Der Wissenschaftlichkeits-Nachweis durch ausgeführte Positionierung in der professionellen Diskussion ist demgegenüber sekundär. Allein schon darin hat Hermann Schmitz mit seiner These vom systemischen Vorrang der „subjektiven Tatsachen“ vor den „objektiven“ Recht…) Nennen wir die „-linien“, „text“-metapher-getreu, „Fäden“. Zu entdecken sind etwa:

  • Das durchgängige Menschen- und Welt-Bild (das Huizing selber „milde“ optimistisch nennt: 19)
  • Immer wiederkehrend betont Huizing, dass der sound einer „Theologie für das 21. Jahrhundert“ auf Natalogie statt auf Thanatologie gestimmt werden müsse (z.B. 334), ganz Timmsche Schule (das ist auch die Pointe von Morgenroths „Weihnachtschristentum“): Hannah Arendts Denke solle Martin Heideggers systematisch ersetzen (wobei Huizing, thematisch eros-affin, selten versäumt, derer beider erotische Affäre aus den 1920ern ‚mitzuerwähnen‘). Geburtlichkeit statt „Vorlaufen zum Tod“, Krippe statt Kreuz, in-Freiheit-Anfangen statt Scheitern.
  • Im Einleitungskapitel über „ziemlich gute Theologie“ setzt Huizing eine durchgängige Spur, indem er sich Dirk Evers‘ „Neuere Tendenzen in der deutschsprachigen evangelischen Dogmatik“ (ThLZ 140, 2015) anschließt, der eine Dreier-Typologie aufmacht. Mit keinem der drei Typen müht sich Huizing so nachhaltig und differenziert ab wie mit der – von ihm so etikettierten – „Widerfahrnis-Hermeneutik“ (47-52), die alles Da-Sein vom Grund einer ur-, geradezu vor-anfänglichen Passivität her zu begreifen lehren will (vgl. auch 329). Ist doch diese Denke Huizings eigener „liberale[r] Tendenz[], [Freiheit und Aktivität [zu] feier[n] (47), am striktesten entgegengesetzt.
  • Entgegen auch Neigungen, „die Systematische Theologie von der Schriftgebundenheit emanzipieren [zu] wollen“, für die er mit Recht Falk Wagner als „Stimmführer“ namhaft macht (76), wirbt Huizing durchweg für die und mit der Bibel. Dabei fällt indes auf, wie er ausgewählte Passagen im dicken Buch in einem Ausmaß in Anspruch nimmt, das denn doch von einem systematischen Vorurteil fürs gerade Passende zu sprechen veranlasst. Prov 8,22-31 bebildert sprachlich die Vorstellung der am schlechthinnigen „Anfang“ vor und mit Gott „spielenden“ Frau Weisheit so, dass Huizing diesem Schöpfungsgedicht den weisheitlichen Vorrang vor den wirkungsgeschichtlich prominenteren Kapiteln Gen 1 und 2 einräumt; spürbar vergnügt zitiert er den spielerischen Vorschlag von Schipper, Prov 8,24 als „Gen 1, Vers Null“ aufzufassen (187). Und die Kain-und-Abel-Novelle Gen 4,3-16, Ersterwähnung von „Sünde“ in der „Hl. Schrift“, wird in allem Detail zur biblisch-legitimierenden Referenz für Huizings pädagogische Moderation der Hamartiologie zur Sündenvermeidungs-Lehre. – Neben diesen Lieblingsstellen erwähnt werden muss noch der wiederholte Hinweis auf die Kapitel-Sequenz Gen 1 bis 9 (vgl. 209.284): diese – nun mal kanonisierte! – Sequenz rechtfertige den systematisch-theologischen Ausgangspunkt bei der Ambivalenz des „Lebens“.

Dass Huizing seine biblischen Bezugsstellen mit Vorliebe dem Alten Testament entlehnt, ist dem Leser leicht ersichtlich und in Huizings Überzeugung begründet, das Alte Testament spreche halt anthropologisch farbenreicher als das Neue. Umso auffälliger die Ausnahme von dieser Präferenz: Die 346-348 extensiv interpretierte „Geschichte von Jesu Begegnung mit der kanaanäischen Frau“ (ausdrücklich vorzugsweise in der Variante Mt 15,21-28!) nennt er 343 „Augenöffner für meinen anthropologischen Optimismus [, weil Demonstration] menschliche[r] Entwicklungsfähigkeit“ (vgl. auch schon 25). Argumentationsstrategisch vorteilhaft ist diese Referenz freilich auch, weil sie eine der – eher selten christologisch konnotierten – Stützen für Huizings ethische Idealbegriffe „Statusverzicht“ und „Selbstzurücknahme“ (26 u.ö. – bisweilen bevorzugt der Terminus „Selbstbildkorrektur“) bietet.

  • „Sie tanzte vor Gott“ – so übertitelt Huizing, auf Prov 8 anspielend, sein Kapitel zur „weisheitlichen Schöpfungslehre“ (178-235). Die Idëation des Tanzens der „Frau Weisheit“ importiert in „Gottes“ Weltbeziehung eine expressiv erotisch aufgeladene Komponente, die vor orgastischen Verschmelzungsfantasien nicht zurückscheut. Überhaupt steht die Rede vom Tanz symbolisch für die Momente des Spielerischen, Experimentellen, Heiter-Gelösten, ja Interaktiven im Schaffen „Gottes“.
  • Apropos Anführungszeichen um „Gott“. Durchweg legt Huizing Wert darauf, seine Leser:innen resp. Hörer:innen zu Achtsamkeit auf die „Lebens“-Wahrheit des (vermeintlich ‚nur‘) Fiktionalen heranzubilden. Oder, im Originalton: „Wenn ich von Gott spreche, dann meine ich keine metaphysische Wesenheit, sondern die Deutung und Versprachlichung der Heiligkeitserfahrungen, die als Gefühlsmächte oder Atmosphären anmuten und sich zu einem Bild verdichten“ (180). Nicht von ungefähr widmet er Werken bildender Kunst oder sog. Schöner Literatur, die er als „Wege und Realisationsformen des Heiligen“ (132ff u.ö.) in Anspruch nimmt, umfangreiche Kapitel.

 

Das Texten

Klar spielt die Zwischenüberschrift „Texten“ erneut auf Huizings Vorliebe für Prov 8 an, wo die „Figur Gott“ (eine hier und öfters in erkennbar provokativer Absicht eingesetzte Formel!) in der Generierung seines ersten Werks, der singulären „Frau Weisheit“ als „Weber“ (187) auftritt. Zu welchen Stoffen also webt Huizing sein dickes Buch? Dass er mit seiner Machart hinter dem Berge halte, wird man ihm nicht gut vorwerfen können. Schon vorneweg „ordnet“ er – sein Buch und „[s]ich“ – „in die Denktradition“ Rudolf Ottos ein, der – in Worten Jörg Lausters (eines späten marburger Lehrstuhl-Nachfolgers von Otto) – „Dogmatik als notwendigen Rationalisierungsmodus religiöser Erfahrung des Numinosen“ beschrieben habe (20). Noch Fragen? Dass dieses Evidenzerlebnis – so wird man’s, leicht unvorsichtig, nennen dürfen – für Huizing, zunächst „in den Niederlanden, […]uneinnehmbare[r] Festung des Barthianismus“ studiert (17), eine Art Anfechtung gewesen sein muss, wird man sich dazudenken dürfen.

Es ist hier weder Ort noch Platz, Huizings Restrukturierung der traditionellen dogmatischen Traktate zu rekapitulieren. Aber eins verlangt noch Würdigung bei der Frage nach den ‚Stoffen‘: So intensiv und überzeugt wie bislang unbekannt rezipiert Huizing das Denken von Hermann Schmitz für die Theologie – diese Entdeckung ein ‚Fündlein‘ zu nennen, wäre angesichts dessen binnen eines Gelehrtenlebens auf 10 Bände angewachsenen „Systems der Philosophie“ allzu diminutiv. Doch schon eine solche Anspielung auf quantitative Missverhältnisse könnte despektierlich wirken. Im Sinne von Schmitz breitet Huizings Gewebe die ‚Stoffe‘ aus, die er mit seinen Farben bedruckt – um seine alternative Erfahrungstheologie zu artikulieren, bedient sich Huizing durchweg des „Alphabet[s] der Leiblichkeit“, wie er ein (dankenswerterweise separat zusammengestelltes: 260-279) Vokabularium Schmitzscher Lehrstücke (treffsicherer müsste es Denkstil heißen) überschreibt. Im Folgenden seien ausgewählte exemplarisch vorgestellt, via Huizing-Zitate zumeist in Schmitz‘ Originalton:

Zuletzt im Kontext der Erforschung der „COVID-19“-Pandemie ist der Terminus „Evidenzbasierung“ als Formel für die Legitimation ‚wissenschaftlich wahrer‘ Erkenntnisse prominent geworden: Sicherstellung intersubjektiver Überprüfbarkeit. Schon hier setzt der Alternativitätsanspruch der Schmitzschen Denke an: die „Evidenzbasierung“ fürs Wissen vom „Leben“ ist gegeben in „subjektiven Tatsachen“, die Vorrang verdienen gegenüber den ‚wissenschaftlich‘ hergestellten „objektiven Tatsachen“ (66. Vgl. auch 61f). „Ursprung und Herd der subjektiven Tatsachen“ sei „affektives Betroffensein“, und dies nicht in dem Sinne, sie [sc. die Tatsachen; FS] einfach passieren zu lassen, sondern „erst dadurch, dass ich […] mich auf sie einlasse, mich in sie verstricke“ werden Tatsachen „subjektive“ (127). Erfasst werden Menschen (um nur von ihnen sprechen) von der „Macht der Gefühle“, durch die Bewegungssuggestionen, mit denen es [sic!FS] selbst den eigenen Impuls dem Ergriffenen eingibt. Hier zeigt sich die besondere Macht der Atmosphären als Induktoren, als Einführer von Gefühlen in den Leib“ (64). (Merke dabei: „Leib“ bezeichnet nicht das mit sog. naturwissenschaftlichen Methoden abmessbare Etwas eines Körpers, sondern „Resonanzkörper in seiner Umgebung“ [260; Kursivierung aufgelöstFS], die Präsenz der Person! Huizing benutzt zur Qualifizierung dieser Schmitz-Überzeugung Henrichs strategisches Fichte-Interpretament „ursprüngliche Einsicht“, sicher [nach dem fan-Gedicht auf die „personale Inkarnation des Weltgeistes“ 22] nicht gedankenlos… .) „Gefühle“ sind – ein entscheidendes Spezifikum von Schmitz‘ Neuer Phänomenologie! – „Atmosphären“, „Verhältnisse, die nicht gerichtet sind[…]In diesem Verhältnis ist [der Mensch, K.H.] gewissermaßen hilflos[, …] ihm ausgeliefert“ (64).

So abgekürzt, dürfte Neue Phänomenologie irreführend statisch, geradezu stationär klingen. Aber nicht zu vergessen: Das Da-Sein des Menschen als „Leib“ ist ein Beziehungs-, ein Austausch-Geschehen, ist „leibliche Kommunikation“ (268). Angefangen beim Ein-und-Aus-Atmen – Goethes berühmte Strophe aus dem „West-Östlichen Divan“ wird, Schmitz folgend, 57 (und im Weiteren öfter) zitiert. Und noch mit weiteren prozessualen Begriffen aus dem Schmitzschen Repertoire einer „Leib-Theologie“ hantiert Huizing: der idiosynkratischen Metapher der „Einleibung“ (268) oder, argumentationsstrategisch noch wichtiger, der „spielerischen Identifizierung“ (236ff)

Vgl. zu Letzterem die quasi-definitorischen Passagen 273f und 195f! Das Attribut des „Spielerischen“ in diesem Terminus stifte Referenzen weniger zur kierkegaardschen Idee des existenziellen Un-Ernstes denn zum Paradigma des „Spiels“, wie es in den 1970er/1980er Jahren, lange her, Georg Picht als Platon-Interpret oder Manfred Eigen als Evolutionsbiologe hantiert haben: schon immer habe die – geistesgeschichtlich weitgehend verschollene – Rede vom „Spiel“ die Vorstellung einer Welt-Ordnung (des κοσμος) gepflegt, die nicht vom kantischen transzendentalen „Ich“ definiert wird, sondern in der das menschliche „Ich“ eben nur mit„spielt“.

 

Die Schreibe

Die ‚Machart‘ des dicken Buches verdient ein paar eigene Sätze. Aufs Ganze gesehen „pädagogisch“, durchaus absichtlich (vgl. nur 21.34). (Okay, dem typisch vorangestellten Inhaltsverzeichnis hätte verlagsseitig ein wenig mehr formale Struktur gut getan!).

Die Kapitel sind in etwa gleich strukturiert. Ein sog. „Stimulus“ soll für Aufmerksamkeit (im vermutlich: Hörsaal) sorgen – später gibt’s eine „Kleine Rekapitulation“ (eine für selbsternannte Rezensenten dankenswerte Verdichtung des zuvor Gemeinten!) – am Ende, für Leser eher überflüssig, jeweils Antworten auf E-Mail-Fragen von Vorlesungshörer:innen. Locker übers Ganze verteilt, „Wege und Realisationsformen des Heiligen“ (durchnummeriert von 1 bis 6, versprachlichte Eindrücke von Kunstwerken), zum Schluss des Ganzen, angeblich Resonanz auf eine Studierenden-E-Mail, das „Reader’s Digest einer weisheitlichen Leib-Theologie“ (560).

Huizing neigt, wie schon oben erwähnt, zu flapsiger Diktion. Für Leser:innen unterhaltsam genug, aber ab irgendwann auch nur: genug… XY wird der „Geschäftsführerposten für Deutungstheorie“ (46) zugeschrieben oder die Funktion des „CEO der Passivitätsfraktion“ (47). Andernorts wird das „Niveau der Debatte“ leise-ironisch „prächtig“ genannt und als von der Kollegin XY „professionell bewirtschaftet“, der [sc. Heilige; FS] „Geist“ kriegt eine „Arbeitsplatzbeschreibung“ (420), ein AT-licher Text werde später im NT „gecovert“ (421). Zumal eingangs des „dicken Buches‘ wird mit Vorliebe Bezug genommen auf die um die Jahrtausendwende gängigen zeitgeschichtlichen Selbstbeschreibungsformeln der Praktischen Theologie wie „emotional turn“ oder „body turn“ (z.B. 37), „iconic turn“ (48f). Die Belege wären fast beliebig vermehrbar. Eine Schreibe von doch sehr begrenzter Halbwertszeit. Mag sein als ‚Spreche‘ in einem Würzburger Hörsaal, die auf beifallklappernde Pultdeckel spekuliert. Aber als ‚dickes Buch‘, das „das 21. Jahrhundert“ in Augenschein nehmen soll? Ist’s nicht eher so zu deuten: Der Macher einer „Lebenslehre“ inszeniert sich als Macher eines transitorischen Mach-Werks, das auf überhaupt kein „Jahrhundert“ setzen darf? Das aber wäre „echt schade drum“.

 

„im Auge des Betrachters“

Ums wirkliche „Leben“ geht es Huizing in seinem ‚dicken Buch‘ (das er auch schon mal ungeniert un-„woke“ „fett“ nennen kann [35] – okay, out of records, gegenüber dem Verlagslektor, der seine Mühe damit hat). Ums wirkliche „Leben“: es sein zu lassen wie es ist, die damit gegebenen Möglichkeiten entschlossen zugunsten anderer auszugestalten, es zu genießen in Tanz, Humor, dem Miteinander mit gesucht-und-gefundenen Anderen, es auch (in extremis) in der vergehenden Zeit bleiben zu lassen – unter all dem: etwas davon zu begreifen. Zum Begreifen muss man nicht „Schmitzsch“ sprechen können „Philosophie [ist] Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung“ (69). Es könnte genügen, Huizing im „deutschlandfunk“ am 14.02.2018 zugehört zu haben (s.o), wo er seinem Impuls Leine gelassen hat: „[…] Sünder sein, das ist, wenn es überhaupt Sinn macht, diese Vokabel zu gebrauchen, wirklich so etwas wie Aufstand gegen Gott, aber das machen wir im Alltag doch nicht. Wir sind ja froh, wenn wir morgens überhaupt aus dem Bett kommen. […D]ie biblischen Texte sind ziemlich eindeutig. Sie sind realistischer, als der Sündenbegriff vermuten lässt. Sie wissen, dass Menschen fehlbar sind, wer würde das bestreiten? Aber sie sind doch optimistisch, dass man das Leben durchaus auch gut in den Griff kriegen kann, wenn man sich Mühe gibt.

Das klingt alles überaus realitätstüchtig und dabei schonsam menschenfreundlich.

Praktische Theologen hören, liturgiesensibel, freilich auch Erinnerungen an programmatische Thesen von Wilfried Engemann heraus. Der anhand der Semantik von GottesdienstAgenden mit dem Finger auf die bei „kirchens“ allzu gängige Schwarze Anthropologie zeigt und stattdessen eine theologische Pflege von „Lebenskunst“ einfordert. Ein Programm indes, das das Rüchlein einer Schönwetter-Theologie mit sich führt und die Grundsatzfrage an Engemann hinterlässt (die auch an Huizing durchgereicht werden muss!): wer kann sich das leisten?

Huizing schlägt eine sich sehr milde normativ gerierende „Lebenslehre“ vor: Das „tob meod“ (Gen 1,31: Luther 2017 „sehr gut“) wird von ihm demonstrativ zum „ziemlich gut“ (16ff) heruntermoderiert. Mehr könne eh nicht verlangt werden. Nagut.

Aber wie überzeugend ist das alles? Für seine ‚Sicht der Dinge‘ im ‚dicken Buch‘ spricht vor allem der gebotene Respekt für die gewagte Schmitz-Rezeption: ohne zentrale Aufmerksamkeit auf den „Leib“ wird’s dem theologischen Denken „im 21. Jahrhundert“ nicht gut gehen, noch nicht mal „ziemlich gut“.

Indes bleiben noch kritische Fragen übrig. Huizing beruft sich nicht bloß auf seinen „Phänomenologie“-Inspirator „Hermann Timm“ (22 u.ö.), sondern auch auf den münchner Fakultätsflur-Kollegen Trutz Rendtorff; dessen Konzept von „Theologie als Theorie der menschlichen Lebensführung“ (22; Kursivierung aufgehobenFS) bleibe „Orientierungspunkt“. Jedenfalls wirken die Inklination von Huizings „Lebenslehre“ zum Ethischen und die Formulierung der eigenen Idealbegriffe „Statusverzicht“ und „Selbstzurücknahme“ (26 u.ö.) ganz rendtorffisch. Was nicht eo ipso vorwerfbar wäre. Nur tut die Formulierung bloß so, als sei sie aus Gen 4 er„lesen“ – defacto ist Huizings Reklamation der Bibel-Sym- oder Empathie in speziell diesem Argumentations-Kontext eher schöner Schein; statt dessen dürfte man sie auch einfach zeitgerechtes Kommunikationsangebot an die FFF-Generation nennen. Was, für sich genommen, auch nicht vorwerfbar ist. Aber.

 

27.03.2023

© Frithard Scholz