Im Wortsinne dieselbe Schule besucht haben Wolfgang Streeck und der Bücherhamster, bis zum Abflug mit dem Abitur 1966, völlig ahnungslos, wie sich in den seinerzeit kommenden Jahrzehnten die weiteren Wege verzweigt haben würden. Ein frisch erschienenes Buch des emeritierten MPI-Direktors...
Wolfgang Streeck, Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus, [Suhrkamp] Berlin 2021
...zu einem Brief nach 55 Jahren, einem Leserbrief, vom 20.08.2021:
Lieber Wolfgang!
Dein neustes Buch hat mich ‚schwer beeindruckt‘. Selbst wenn ich über manche Partien nur, kognitiv achselzuckend, ‚drübergucken‘ konnte. Aber Deine listige Defensiv-Bemerkung (79: „für den sozialwissenschaftlichen Beobachter, der im Streit der Experten über die ‚richtige‘ Theorie und Praxis nicht mithalten kann, …“) denke ich, ceteris paribus, auch für mich reklamieren zu dürfen. Sosehr ‚Zahlen‘ die Risiken eines „Umschlags von Quantität in Qualität“ (Engels) identifizierbar und, wenn denn beabsichtigt, strategisch einhegbar machen können: ‚mein Ding‘ waren sie schon zu Schulzeiten nicht. Stattdessen habe ich mich eher um die ‚lebensmäßigen‘ Folgen von Kategorienbildung durch Vordenker kümmern mögen.
Beeindruckt hat mich das Buch, weil’s im anspruchsvollsten Sinne querdenkerisch ist – dass „querdenkerisch“ ein intellektueller Ehrentitel war, bevor die „Idioten“ mit und ohne AluHüten in CoronaZeiten das Wort gekapert haben, habe ich nicht vergessen. Dass Dir in einschlägigen Meinungsquellen nachgerufen wird, als Advokat populistischer Anti-EU-Demonstranten anzutreten, schreckt mich nicht, Affinitäten zur tagespolitisch eher als versunken zu qualifizierenden ‚Ur-AfD‘ inklusive. Selbst wenn das label „populistisch“ den Möchtegern-„Patrizier“ in mir für einen Moment zusammenzucken lässt.
Aber wie Du – mit begründetem Anspruch auf ‚Augenhöhe‘ – Jürgen Habermas herausforderst (der seit Jahrzehnten „die Deutschen“ zu mehr Engagement für die De-Nationalisierung Europas drängt – und die Volte 430 „den Kapitalismus als Habermas’sche List der historischen Weltvereinigungsvernunft entmachtet“ ist eine kesse Spitze) beeindruckt halt sogar mich.
(Und das will subjektiv was heißen. Als frankfurter-schule-angeheizter 68’er stud.theol. habe ich seinerzeit defacto Habermas‘ „Zur Logik der Sozialwissenschaften“ meine Orientierung in philosophicis und sociologicis für prägende Jahre überlassen. Bis ich dann, via Beschäftigung mit Luhmann, mich aus der Zange des in Frankfurt inszenierten „Positivismusstreits“ herauswinden konnte.)
Im Buch sehe ich Deine argumentativen Mühen auf allerlei Weise darauf zielen, aus dem – nicht zuletzt in den Massenmedien – so gerade noch dominierenden „Globalisierungs“-Narrativ ‚die Luft herauszulassen‘ und strategisch hinzuwirken auf eine „Umkehr“ (der explizit mit biblischer Referenz versehene Ausdruck 483 fällt auf!) zur Wiedergewinnung gesellschaftlicher Verhältnisse, in die die gewerkschafts-bestimmte SPD der, sagen wir, 1960er wieder ‚passen‘ würde (vgl. das energische Kopfschütteln 111 Anm 49). Soweit meine Kürzest-Formel, in politischer Ausdrucksweise. Soziologisch ausgedrückt: Das Buch verkörpert – mir mehr denn sympathisch – einen ‚Anti-Reckwitz‘ (immerhin für Dich unbedeutsam genug, um den Namen noch nicht einmal im Literaturverzeichnis zu verstecken); dessen „Singularitäten“-Paradigma hilft eine ‚Theorie der Oberfläche‘ zu inszenieren, die bloß ‚aufgehen‘ kann, indem sie die Kleinen Leute, die den ganzen Laden am Laufen halten, dessen Erträge (soweit’s sie gibt) die „Eliten“ privatisieren, konzeptionell wegschweigt (das nur mal als Brücke zur gelegentlichen Selbstbezeichnung Deines anti-kapitalistischen Konzepts von „Demokratie“ als „plebejisch“). Und auf einer Nebenspur verfolgt sehe ich das strategische Interesse, den Terminus „Populismus“ von der Schmuddelecken-Anmutung zu befreien und die darunter subsumierten (durchaus diversen!) „Bewegungen“ als Indikatoren für das zu verstehen, was in der seit mehreren Jahrzehnten „h.M.“ über „Demokratie“ zu Unrecht nicht mehr vorgesehen sei.
Ein Gedanke, auf den ich so ohne Weiteres nicht gekommen wäre. Aber bitteschön – wie fragte Lichtenberg „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“
Nicht alles habe ich minutiös mitvollziehen können (s.o.). Dafür habe ich Anderes genauer studiert, namentlich Passagen mit Anschlussfähigkeit an schon zuvor woanders Gelesenes – insoweit hermeneutisch normal. Ein paar Beobachtungen dazu streue ich hier ein:
180-187: Im Kontext einigermaßen unerwartet, findet der Leser ein – umfangsmäßig unscheinbares – fundamental-anthropologisches Kapitelchen, das jedenfalls Theologen wie mich elektrisiert. „Anthropologie“ und, klar, auch „Sozial-Anthropologie“, sind ja Disziplinen, die mit ihrem ‚Ist-nun-mal-so‘-Forschungsinteresse in unserer beider Studienjahre Zeiten, die vom Änderbarkeits-furor besetzt waren, wissenschaftlich in einigen ‚Verschiß‘ geraten waren.
(Immerhin hatte ich stud.theol., bevor ich zum ‚Habermasianer‘ wurde, schon Gehlen gelesen. Aber erst in den letzten Jahren habe ich, durch die Begleitung der Diss‘ der Tochter - https://www.eva-leipzig.de/product_info.php?info=p5131_Name-und-Erinnerung.html - angetrieben, bemerkt, welches kulturgeschichtlich unglückliche Geschick Helmuth Plessners „Stufen des Organischen…“ von 1928 ereilt hat: bei Erscheinen hat ihm Heideggers „Sein und Zeit“ die wissenschaftliche Aufmerksamkeit geklaut, und als dann 1962 eine Neuauflage gewagt wurde, war’s die – avant la lettre – cancel culture der FrankfurterSchule-Mentalität…)
Also – gerne und mit Zustimmung gelesen. Zwei kleine Beobachtungen steuere ich noch bei:
In 482-484 begegnet verblüffend religiöse, ja theologische Artikulation (483: „Umkehr“, „reformierte eigene Identität“) und, wie schon weiter oben vermerkt, ohne spürbare Ironie, ein Rückgriff auf biblische Sprache 483 Anm 83! Mag sein, dass der beiläufige Verweis auf Webers „Wertrationalität“ auch dazu dienen soll, eine Brücke zum mehrheitlich soziologischen Leser*innenpublikum zu schlagen, dem, eben mit Weber, „religiöse Unmusikalität“ nachgesagt wird J. Aber es ist wohl eher die nicht mehr so recht disponible Sorge um das „globale Gemeinschaftsgut“ (479ff) „Klima“, das Dich aus dem Ideal einer „diskretionären Politik“ eine ‚Freiheit des Müssens‘ (483: „könnte man gar nicht anders“) abzweigen lässt, die unversehens von „wirklichen Menschen“ zu reden zwingt (vgl. z.B. 273: „die konkreten Umstände niedergelassener Völker und Nationen“). ‚Freiheit des Müssens‘? das war vor 40 Jahren die Formel, mit der ich mich als Kritiker von Luhmanns „Freiheit als Indifferenz“ versucht habe (https://www.suhrkamp.de/buch/frithard-scholz-freiheit-als-indifferenz-t-9783518575994) – mit, wie ich bald später fand, unzureichenden begrifflichen Mitteln; aber einen neuen Anlauf gab mein seinerzeitiges berufliches setting nicht her.
Mit dem Schlusssatz „Die kläglichen Ergebnisse[…]sollten jedenfalls Grund genug sein, es einmal mit einem Staatensystem zu versuchen, das einer moralisch gestützten, letzten Endes in einem generischen Sinn religiös motivierten Überwindung des Rationalitätsparadoxes eine Chance gibt“ (489) formulierst Du den politiksoziologischen Perspektivpunkt Deines fundamental-anthropologisch begründeten, unversehens theologisch instrumentierten Plädoyers für ein „Staatensystem mit verteilter Kleinstaatlichkeit“ (486). (Dabei kommen Figuren zum Vorschein, die in der globalistisch infizierten Denke tabuisiert werden: „Bevölkerung homogener“ [487], „gemeinsamer Kulturkreis“ [487], „Kleinheit mit relativer Homogenität einher“ [489] – alles normative Momente, die lebensweltlichen Provinzlern wie mir nicht fern liegen. Aber was grenzt das ab gegen die lederbehoste Version der „Leitkultur“-Parole? gegen die migrationsfeindlichen Effekte der „Schweizer“ Kantönli-Demokratie? [siehe auch Etzionis NCS-Merkmal 4 [501].) Aber doch trägt diese Formulierung des Perspektivpunktes, die die Struktur der Pascal’schen Wette trägt (vgl. 504: „vielleicht…ausnahmsweise Glück“) in das Ganze einen religiösen, ja theologischen sound ein, der mich beeindruckt.
Genug. Das fürs argumentative Betriebssystem des Buches besonders wichtige Simon-Kapitel (390ff) werde ich noch wiederholt studieren.
Danke fürden anregenden Lektüre-Stoff, lieber Wolfgang!
F.