Jesus beim Lernen 

 

Liebe Gemeinde, insbesondere:

liebe Prädikantinnen und Prädikanten!

 

Wie schön, dass wir uns heute nachmittag in der Rodenbacher Kirche versammelt haben und dass wir so viele sind! Viele auch, die gar nicht in Rodenbach zu Hause sind, sondern aus der näheren und etliche durchaus aus weiterer Umgebung hierher gekommen sind anläßlich der Einsegnung von 11 Frauen und Männern zum Prädikantendienst unserer Kirche. Das ist ein Grund zur Freude, nicht nur für Sie hier vorne in der ersten Reihe!

Ein Grund zur Freude auch angesichts der Gerüchte, die “Kirchen würden immer leerer”. Mit diesem Gerücht ist das ja so eine Sache. Zwar kann man wissen, dass das so nicht stimmt, aber seine beharrliche Wiederholung in den Massenmedien kann doch Spuren hinterlassen auch bei denen, die es besser wissen: eine Mischung aus Ärger und schlechter Laune. Irgend so ein ‘absteigender Ast’-Gefühl. Es sind nicht wenige, denen das was ausmacht.

Da ist eine so reich gefüllte Kirche doch ein Gegenargument, mehr noch: ein Erlebnis - egal, ob das die Statistiker wahrnehmen. Überhaupt ‘Erlebnis’: Gewiss haben uns die Statistiker belehrt, dass Menschen hierzulande mehr und mehr ihre Entscheidung zum Gottesdienstbesuch davon abhängig machen, ob da etwas ‘Besonderes los’ ist. Kein Wunder: wir alle haben teil an einer Alltagskultur, in der zum event stilisiert werden muss, zum Außergewöhnlichen, was überhaupt beachtet werden will. Freilich: Das ‘Besondere’, was heute hier ‘los’ ist, besteht darin, dass Menschen mit der “freien Wortverkündigung und der Sakramentsverwaltung” feierlich beauftragt werden - also mit dem Dienst, Glauben zu wecken und zu stärken. Dafür ist die Kirche da, letztlich nur dafür. Wenn so ein event so ‘zieht’, braucht uns um die Kirche nicht bange zu sein. Um es mal ganz äußerlich so auszudrücken.

 

“Freie Wortverkündigung” - sprich ‘Predigen’. Damit sind Sie, liebe Prädikantinnen und Prädikanten, heute nicht dran; heute dürfen Sie hören. Manchmal - das werden Sie schon erlebt haben - macht es uns die Bibel nicht leicht, Glauben zu wecken und zu stärken. Zum Beispiel heute, wenn wir den Evangelienabschnitt nehmen zum heutigen 17. Sonntag nach Trinitatis, wie er aufgezeichnet ist bei Matthäus im 15. Kapitel - wir hören:

Und Jesus ging weg von dort und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon.

Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt.

Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: Laß sie doch gehen, denn sie schreit uns nach.

Er antwortete aber und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.

Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir!

Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, daß man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.

Sie sprach: Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.

Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.

 

Soweit Matthäus. Was für eine Geschichte?!

»Dieser Jesus ist ›quer‹!« war die erste Bemerkung, die fiel, als wir vor ein paar Wochen im Kreis der Prädikanten darüber sprachen.

   Da gibt es einen echten Notfall, und Jesus der Heiland und Menschenfreund rührt sich nicht? Dreht sich weg, und er antwortete ihr kein Wort wie es der Evangelist ausdrückt? Er, der die anrührende Geschichte vom Barmherzigen Samariter erzählt, die mit Tue desgleichen endet, benimmt sich wie der Priester und der Levit, die wortlos vorübergehen an dem, der unter die Räuber gefallen ist und halbtot liegen gelassen wurde? Man stelle sich nur einmal vor, diese Geschichte würde einem unserer religiös unmusikalischen Zeitgenossen als erste und einzige biblische Jesus-Geschichte begegnen: ein Jesus, der religiöse Zuständigkeit - nur die verlorenen Schafe des Hauses Israel - über unmittelbar mensch­liche Not stellt. So ein Heiliger hätte doch verspielt von vornherein. Dogmatisch o.k. - aber menschlich kannste den vergessen. Schlechte PR für die Kirche, die so einem Jesus sich verschrieben hätte.

   Was für eine Geschichte?! Die Jünger spielen ja auch ihre Rolle, hier v.a. diskret im Hintergrund (so wie Matthäus das erzählt). Sie kommen einem vor wie die bodyguards eines Ministerpräsidenten, der mal ein paar Stunden “Mensch sein” will jenseits von Koalitionsstreitigkeiten und ohne Handy [und Jesus ging weg von dort und zog sich zurück...] - und dem dann wie aus dem Nichts eine Demonstration entgegentritt, die irgendwelche dringliche Petitionen anbringen will, penetrant wie nur etwas. Da überschlagen sie sich dann in Servilität, als der Chef sich fürs Ignorieren entschieden hat: Laß sie doch gehen, denn sie schreit uns nach. Auf Deutsch: die Frau macht Ärger, das ist peinlich, lass uns das regeln.

Peinlich allerdings war das in anderer Weise schon den Bibelauslegern der Alten Kirche - sie suchten nach eleganteren Deutungen des Verhaltens der Jünger, immerhin maßgebliche Sendboten des späteren Herrns der Kirche...: Stell sie zufrieden... sollten sie Jesus empfohlen haben statt “Schi­ck sie fort”. Zugegeben: eine mögliche Übersetzung des gleichen Wortes im griechischen Urtext des Evangeliums. Aber m.E. doch eher ein durchsichtiger Versuch zur diplomatischen Schadensbegrenzung.

   Was für eine Geschichte?! Die Hauptrolle spielt ja die kanaanäische Frau. Sie hat ein krankes Kind zu Hause - woran krank, wissen wir nicht so recht. ...von einem bösen Geist übel geplagt kann mancherlei heißen: eine pubertierende Tochter, die zum prinzipiellen Widerspruch geneigt ist (und die Mutter, antiautoritär eingestellt, wird mit den Folgen nicht mehr fertig) - ein Mädchen, das dem Dunkeln in der Welt verfallen ist (Drogen, Spielsucht, falschen Freunden etc.) - wer weiß? Die Frau jedenfalls weiß nicht mehr weiter. Die Hilfestrukturen, die ihr nahe liegen, greifen nicht mehr. Ihre “Götter” bleiben stumm. Was tut sie?

   Den Wunderheiler Jesus angehen. Erster Versuch: Die Ausländerin nimmt alles zusammen, was sie weiß, um erfolgreiche Integration zu beweisen. Redet ihn in dessen Muttersprache an, zitiert einen Psalm, benutzt die israelische Ehrenbezeichnung Sohn Davids. Zweiter Versuch: ein nackter Hilferuf - wie könnte der abgewiesen werden ohne beleidigend zu werden? Aber das kann Jesus, wie wir hören - Brot vor die Hunde werfen.... Dritter Versuch - dass die Frau den überhaupt unternimmt, ist vielleicht das größte Wunder in der Geschichte (aber was hat sie zu verlieren als ihre offenkundige Verzweiflung?) - also dritter Versuch: sie lässt sich nicht beleidigen, sie kriecht gleichsam in die Beschimpfung als Hund hinein, übernimmt die Rolle des letzten Drecks, um unter dieser Tarnung wenigstens Brosamen abzukriegen, die vom Tische fallen... - sollen doch die verlorenen Schafe des Hauses Israel ihren Hirten behalten mitsamt seinen Heilsversprechungen, aber Spurenelemente nur davon würden schon genügen, um ihre, ihre, ihre Verzweiflung zu lösen.

Und siehe da: an diesem äußersten Punkt löst sich in der Tat, was so bedrängend sich verkeilt hatte - löst es sich in dem Wort Jesu: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.

 

Was für eine Geschichte?!

Von diesem überraschend versöhnlichen Ausgang her möchte ich sie verstehen als Geschichte vom Wunder der Grenzüberschreitung, die Segen bewirkt. Dreierlei finde ich besonders bemerkenswert.

Es fängt damit an, wie es anfängt: Jesus ging weg von dort und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon. Ein denkbar unauffälliger Satz, bloße Ortsangabe, scheint’s. Aber nein: verstehen lässt er sich erst, wenn wir die Grenze auch dieser Geschichte überschreiten.

   Jesus außer Landes; er überlässt die verlorenen Schafe des Hauses Israel sich selber. Liest man, was vorgegangen war, ist man versucht, schulterklopfend verständnissinnig zu Jesus zu sagen “kann man verstehen...”

Streit, in dem Jesus sich richtig in Rage redet. Worum ging’s? Pharisäer und Schriftgelehrte - ins Heute übersetzt: theologische Fachleute und ehrenamtlich besonders Engagierte - sie führen Beschwerde, dass die Jesus-Anhänger bestimmte Reinheitsgebote missachten. Ein grober Klotz, ein grober Keil: ‘Na, und ihr? Ihr erlasst gottesdienstliche Ordnungsvorschriften, die (wenn man sie einhält) die Zehn Gebote verletzen’ sagt Jesus. Und dreht richtig auf: Was zum Mund hereingeht, macht den Menschen nicht unrein - wohl aber, was herauskommt. - ‘Oh, Vorsicht, Vorsicht, Herr’, versuchen die Jünger beratend zu vermitteln: ‘mit solchen schlichten Formeln machst du dich mehr als unbeliebt’. Aber es gibt kein Halten, und Jesus schimpft weiter: blinde Blindenführer - sollen sie doch beide in die Grube fallen!

Von diesem Kleinklein an der falschen Stelle (so gibt es der Mt-Evangelist zu verstehen) - davon hat Jesus gewissermaßen die Nase voll und ging weg von dort und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon.

Was würde wohl Jesus sagen zu den Themen, die unsere Kirche beschäftigen und wie sie uns beschäftigen, und wie würde er sich beteiligen an den Diskussionen in Kirchenämtern und Kreissynoden und Kirchenvorständen? Würde er uns noch was ins Stammbuch schreiben - oder sich lieber gleich [zurückziehen] in die Gegend von Tyrus und Sidon? Ausziehen aus den Milieus, die heute bestimmen, was man ‘gefühlte Kirche’ nennen kann - von hier aus ausziehen und Ausschau halten nach anderen?

Fragen wie diese zuzulassen, ist ein erster Schritt der Annäherung ans Wunder der Grenzüberschreitung, auf das uns unsere Geschichte stoßen will.

Ein Zweites: Die bittende Frau geht aufs Ganze. Sie lässt sich nicht fesseln vom bösen Geist, der mit der Tochter auch sie klein machen könnte.

‘Not lehrt beten’ - ja, aber auch: verzweifelt sein, fluchen, sich-verhärten gegen sich und andere.

Ein Wunder, wenn das nicht geschieht. Wenn Not Bewegung freisetzt, die auch Abhilfe in Bewegung bringt. Das ist das Wunder in dieser Wundergeschichte. Das ist der Glaube.

Die Kanaanäerin nennt es nicht so, käme wohl auch selbst nicht drauf. Aber der gute Geist Gottes wirkt auch unter den Menschen von Tyrus und Sidon - unter Menschen, die nicht dazugehören, die deren, die sich der Kirche sehr verbunden fühlen, erstmal als Adressaten missionarischer Verkündigung einfallen, die Ziel von Schritten zur Mitgliedergewinnung für unsere Kirche sind.

Nicht, gar nichts gegen keine Mühen, auf alle Weise Glauben zu wecken und zu stärken - wer wäre ich, hier sowas auch nur anzudeuten. Aber ich denke an die jungen Leute in Leipzig, die bei einer Umfrage - “würden Sie sich eher als religiös oder eher als atheistisch bezeichnen?” - die auf diese Frage nur zu sagen wussten ‘hä? Ja - wie - nein, also wir sind einfach normal”...

Und ich möchte mir von unserer Geschichte die Frage stellen lassen: hältst du’s für möglich, dass dir bei deinen Versuchen, Glauben zu wecken und zu stärken, Glauben schon begegnet, wie und wo du ihn nicht erwartet hättest? Kann doch sein, dass die Fragen und Erwartungen, mit denen Menschen uns begegnen, mehr mit unserer Mission zu tun haben als die perfekten Antworten à la nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel , mit denen wir unterwegs sind.

Und schließlich das Dritte, ganz kurz: Das Wunder des Glaubens hält sich nicht althergebrachte Ordnungen.

Es kann sie gebrauchen, sie in Dienst nehmen: Gesetze und Finanzstrukturen, Ämter und Gremien, Kirchengemeinden und Landeskirchen.

Aber sie brauchen, sie nötig haben? Auf sie angewiesen ist das Wunder des Glaubens nicht.

Es ist die große Überraschung, die im Glauben dieser fremden Frau sogar den Herrn Jesus verwandelt.

Eine Botschaft für alle, denen die Kirche am Herzen liegt und wozu sie da ist in diesen Zeiten spürbarer Wandlung vieler Verhältnisse.

Wenn das keine verheißungsvolle Aussicht ist!

Amen.