Anmerkungen von...

 

Frithard Scholz zu

 

Christian Grethlein, Kirchentheorie. Kommunikation des Evangeliums im Kontext, Berlin/Boston 2018

 

Spätestens durch sein Lehrbuch „Praktische Theologie“ (Berlin/Boston 2012) hat Christian Grethlein die Etablierung des Paradigmas „Kommunikation des Evangeliums“ im evangelischen Kirchenwesens erfolgreich betrieben – dass es die „Elf Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche“ der EKD 2020 bestimmt, mag als Beleg genügen. Dass und wie der sich abzeichnende Paradigmenwechsel das Verständnis von „Kirche“ und deren Praxis im Kern berührt, muss sich der/die interessierte Leser*in nicht mehr aus Andeutungen zusammensuchen. Grethleins nachgeschobenes Buch „Kirchentheorie“ lässt nur wenige Fragen offen.

 

1.Das Buch

 

Gleichwohl: eins nach dem andern. Das Buch ist grethleinmäßig übersichtlich gegliedert: Der Titel „Einführung: von der dogmatische Ekklesiologie zur praktisch-theologischen Kirchentheorie“ (§§ 1 bis 4) ist selbsterklärend: „Kirchentheorie“ unterscheidet sich von „Ekklesiologie“ v.a. dadurch, dass die religiöse Praxis der Menschen ‚einen Unterschied macht‘, der theologie-begrifflich gefasst werden muss – aber eben ‚empirisch‘, in Distanz von „dogmatischen“ sog. Vorgaben. Der „1.Teil“ („Grundlagen: biblische Perspektiven und methodologische Konsequenzen“) liefert Prämissen des Buches, der „2.Teil“ dessen umfangreiche Bezugs-Daten, nicht ohne erkennbare Akzentuierung. Der „3.Teil“ wendet sich zur Wahrnehmung zeitgenössischen Kirchentums unter dem Titel „Bestandsaufnahme: Kirchenmitgliedschaft als Option“, im „4.Teil“ werden „Konsequenzen: Herausforderungen und Chancen“ (§§ 21 bis 25) begründet. § 26 („Zusammenfassung und Ausblick: Christsein in und jenseits von Kirche“) liefert Konklusionen des 300-seitigen, überaus dankenswerten Buches.

Die religionspädagogische Imprägnierung des Vf. macht sich in der formalen Gliederungbemerkbar. In praktisch allen §§ - mit Ausnahme von §§ 1, 6, 21 (in § 25.1 bis 3 übernehmen die jeweils letzten Unterabschnitte diese Funktion) – finden sich als letzte UnterPunkte „Zusammenfassung [und Ausblick]“, darüber hinaus zu allen Hauptteilen „Zusammenfassung und Ausblick“, schließlich auch zum Ganzen. Als Absicht des Vf. ist eine größtmögliche Transparenz der Argumentation zu unterstellen, der seinen darstellerischen Prozess der Selektion von Aussagen (vom Wichtigen [sc. indem überhaupt zum Druck Gegebenen] das Wichtigste und dann das Allerwichtigste!) mehrstufig offenlegt. Als Nebeneffekt („Nebenfolgen“ gehört zu den bevorzugten heuristischen Argumentationsinstrumenten; dazu unten mehr!) ergibt sich freilich eine offenkundige Leser-Lenkung – mit all den Wirkungen der Ab-Lenkung von dem zu Lesenden querständigen eigenen Wahrnehmungen und Einschätzungen.

Die „Einführungs“-§§ 1 und 2 plausibilisieren die Ab-Differenzierung der „Kirchentheorie“ gegenüber der „Ekklesiologie“ – ein Versuch zur Demonstration gegenwartsgerechter ‚Augenhöhe‘ von „Dogmatik“ und „Praktischer Theologie“ – und dienen der Positionierung des Vf. unter als gegenwärtig relevant anerkannten „Kirchentheorie“-Anbietern (wie Rendtorff/Rössler, Hermelink, Hauschildt/Pohl-Patalong). Jenes Spezifikum von „Kirchentheorie“ bildet Grethlein auch im Inhaltsverzeichnis ab: Die §§ 8 bis 15 des „2. Teils“ (der die „Problemgeschichte: von der Bewegung zur staatsanalogen Institution“ präsentiert) sind, wie von der „Praktischen Theologie“ her geläufig, formal schematisch untergliedert und bieten Ausführungen zu den sinnenfälligen Formaten der Kommunikation des Evangeliums, „Taufe“ und „Abendmahl“, die aber programmatisch, dogmatik-relativierend, als „…spraxis“ (!) übertitelt werden.

 

2.Die Logik

 

Der „2. Teil“ soll die Behauptung der qualitativen Differenz von „Kirchentheorie“ zur „Ekklesiologie“ einlösen, nämlich die konstitutive Bedeutung der empirischen Gestalt von Kirche für ihren Begriff: Das Wesen der Kirche ist ihr Werden – und deren Werden vollzieht sich immer in Auseinandersetzung mit Nicht-Kirche, dem unter dem Zauberwort „Kontext“ Subsumierten. Grethlein legt seine „Kirchentheorie“ als Theorie mit fachuniversalem Weltdeutungs-Anspruch an, und die bekannten ‚Anfangsprobleme‘ derartiger Theorien zeigen sich auch hier, die Grenzen der sprachlichen Artikulationsfähigkeit des Gedachten. Hegels „Phänomenologie des Geistes“ muss mit der „sinnlichen Gewissheit“ und deren momentanen Evidenzen beginnen, Hartmut Rosas „Soziologie der Weltbeziehung“ mit Merleau-Pontys Anmutungs-Formel „Etwas ist da, etwas ist gegenwärtig“ – und beim anarchistischen Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend ist zu lesen „der Erfinder einer neuen Weltanschauung muss fähig sein, Unsinn zu reden, bis der Unsinn, den er und seine Freunde geschaffen haben, groß genug ist, seinen eigenen Bestandteilen Sinn zu verleihen“ (Niklas Luhmann, Inaugurator des Konzepts „Supertheorie“, hätte dem zugestimmt).

 

Naklar werden Theorien ‚gemacht‘. Wie macht es Grethlein? Wenn schon mit dieser Frage auf der Ebene der Wissenschaftstheorie angekommen, erscheint die Unterscheidung von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang nicht abwegig. Grethlein rekonstruiert das Wesen der Kirche aus ihrem Gewordensein (inklusive dessen Verzerrungen im challenge-and-response-Prozessieren mit dem „Kontext“ der Kirche). Dabei geht er – Entdeckungszusammenhang! - aus von deren zeitgenössischer Gestalt, hangelt sich durch die faktisch 7 Perioden (nach Martin Stringer) des Gewordenseins zurück zum Ursprung – und stellt’s (Begründungszusammenhang!) literarisch in chronologischer Sequenz dar. Aber am ‚Ursprung‘ kommen die ‚Anfangsprobleme‘ zum Vorschein.

Während die Stringer-induzierten „Perioden“ in der [Argumentations-]Kette gemäß der Logik des „Kommunikation des Evangeliums“-Paradigmas zweiseitig verklinkt sind, bedarf’s am ‚Ursprung‘ eines einseitigen Schluss- oder Anfangs-Gliedes, des – aristotelisch anmutend – grundlosen Grundes eines sich im Werden entfaltenden Wesens, der „Kommunikation des Evangeliums“.

Hierfür wird „Jesus“ reklamiert, der das „[Berührtsein einer Gemeinschaft] durch sein Auftreten, Wirken und Geschick“ (36 u.ö.) ausgelöst habe, das sich in der „Kommunikation des Evangeliums“ äußert. „Berührtsein“: Grethleins Terminus (vgl. XIV mit Anm. 6) für die Auslösung der Verbreiterung der „Kommunikation des Evangeliums“ durch die „Jesus“ Nachfolgenden. Ein Begriff nicht ohne Raffinesse: an der logischen Position des ‚einseitigen Schluss- oder Anfangs-Gliedes‘ verankert er die Zweiseitigkeit von „Af←fizierung und E→motion“, durch die Rosa sein „Resonanz“-Konzept definiert.

 

3.Der spin

 

Ganz lutherisch reformationspositivistisch legitimiert Grethlein die materialen Unhintergehbarkeiten seines Paradigmas durch Rekurs auf die Bibel. Es fängt an – diese Faktizität ist nicht ohne Belang – mit dem kontingenten „Auftreten“ „Jesu“. Dessen Wirksamkeit wird aus neutestamentlichen Narrationen für Theoriezwecke des 21. Jh. umcodiert zur „Kommunikation des Evangeliums“, die nicht erst seit, sondern schon durch „Jesus“ erfolge (40: „Jesus vertrat also kein feststehendes Lehrgebäude, sondern entwickelte den Inhalt des Evangeliums in kommunikativen Prozessen“) – ein valenzenreicher Terminus, dem argumentationsstrategische Merkmale zugeschrieben werden:

  • Die Schematisierung auf „drei Kommunikationsmodi“ (37), die die bisherige Grethlein-Rezeption dominiert, ist gar nicht das Wichtigste; ist die doch eher sekundärliterarische Abstraktion (für die sich Grethlein so regelmäßig wie lediglich auf ein Kapitel in Jürgen Beckers „Jesus von Nazareth“-Buch beruft)
  • „Kommunikation des Evangeliums“ sei von Anfang an nur als prozessual zu verstehen. Hierfür wird die wortstatistische Beobachtung geltend gemacht, dass im Text-corpus des NT das terminologieprägende „euangelizesthai“ als grammatikalisches Medium vorherrsche.
  • Ergebnisoffenheit“ (z.B. 38) – systemtheoretisch artikuliert: „doppelte Kontingenz“ – gehöre von Anfang an zu den Konstitutiva der Kommunikation auch des Evangeliums.
  • Dem „Evangelium“ eigne, im biblischen Sprachgebrauch schon vor „Jesus“, ein „herrschaftskritischer Unterton“ (37)
  • und, damit in der Sache verschmolzen, das Momentum des radikal Inklusiven.

In die Position einer maßgeblichen Tradition (obwohl es die im Sinne des Ursprünglichkeits-Primats gar nicht geben dürfte… J) rückt Grethlein (41f) eine Verlautbarung der LWB-VV von Nairobi 1996, die das Zugleich des Bedientwerdens von vier – quer zu den „Modi“ fungierenden – kommunikativen Dimensionen („kulturübergreifend, kontextuell, kontrakulturell, kulturell wechselwirksam“) zur benchmark der Evangeliums-Gemäßheit von Kommunikationen macht.

 

4.Das Gerüst, oder: Was zum „…theorie“-Bau dienlich ist

 

Grethlein ist nicht der Erste und nicht der Einzige, der sich gebundene Gedanken macht über die Differenz von gelebtem Leben der Menschen und der „Kirchen“-Gestalt der „Kommunikation des Evangeliums“. Trivial genug festzustellen – aber doch aufschlussreich zu registrieren, wie dessen eigenen Empfehlungen (auf die’s hinausläuft) mit der community der Mit-Denker verklinkt sind.

In § 18 resumiert Grethlein einige der chronologisch nächstliegenden gegenwartskirchen-kritischen und -reformerisch gesonnenen Diagnosen: Sprungbrett zu eigenen Schlüssen, auffällig zurückhaltend kommentiert.

  • „Kirche für andere“ signalisiert die Rezeption Bonhoeffers und der als Vorbild angenommenen „East Harlem Protestant Church“ in Ernst Langes Spandauer „Ladenkirchen“-Projekt (in den frühen 1960ern): „Kirche“ als „Spielraum“ des Lebens „bei Gott und den Brüdern“ – die Invention der „Kommunikation des Evangeliums“ mit ihrer wesentlichen Dialogizität zwischen „Tradition“ und „Lebenswelt“ – die Vorstellung einer parochie- (d.h. milieu-)überschreitenden Lebensweltorientierung (Zu Zitaten vgl. 163-168).
  • Die „Missionarische Doppelstrategie“ der VELKD der 1980er Jahre habe einen, auch konfessions- und global-ökumenisch, weiten Horizont in ihren praktischen Realisierungen, bleibe aber ihrem Fix- und Zielpunkt ‚Erhaltung der Volkskirche‘ verpflichtet (für den die „Christentumstheorie“ Rendtorffs und Rösslers den ekklesiologischen Rahmen formuliert haben); auch die Weiterentwicklung zum „Projektorientierten Gemeindeaufbau“ habe diese Fixierung nicht gelockert (Zu Zitaten vgl. 168-172).
  • Die „Missionarische Offensive“ gehe auf Schwarz/Schwarz (1984) mit deren kategorischer, bewertungsgeladener Unterscheidung zwischen „Kirche“ und „Ekklesia“ zurück, die die Vorhandenheit von „Kirche“ als (lediglich) Instrument zur Förderung der Aktivitäten eines Engeren Kreises (Pfarrer und „Mitarbeiter“) aufzufassen erlaube – den freilich zu vergrößern oberstes Ziel sei! Als ‚Parteigänger‘ werden Manfred Seitz und Michael Herbst benannt; insbesondere die „Greifswalder“ Modifikationen des Programms setzen auf Verstärkung der „geistlichen Erneuerung“ der Pfarrerschaft, wörtlich: „des Pfarrerstandes“, und der Gemeinschaftlichkeit mit Ehrenamtlichen. Aktivierung der Charismen „vor Ort“ und Eingemeindung Fernerstehender stehe obenan (Zu Zitaten vgl.172-176).
  • Herbert Lindners Programm setze ebenfalls auf „Kirche am Ort“. Es konzipiere sie indes konsequent als „Organisation“ (um den Preis einer Nichtbefassung mit dem organisatorisch unverfügbaren „Glauben“), deren Operationen Mitgliedergewinnung und Sicherung der „Finanzbasis“ als Randbedingungen beachten sowie dem Zweckprogramm einer Lebenswelt-Orientierung folgen (individuell adressiert durch ein „kasuell-lebensbegleitendes Angebot“ und öffentlich durch offensive Nutzung der Valenzen des „Kirchenjahres“). Zwei auffällige Eigenheiten verdienen (für Grethlein) explizite Erwähnung: der (schon 2000 ausgesprochene!) Aufruf, die bevorstehenden „tiefgreifend[en V]eränder[ungen]“ der evangelischen Kirchen ins Auge zu fassen, sowie die Priorisierung der Lebensdienlichkeit der „Verkündigung des Evangeliums“ vor dem Erhalt der Organisation“ (Zu Zitaten vgl. 176-178).
  • Ab 2006 breitest diskutiert, das EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“: durchgängig betriebswirtschaftlich instrumentiert, mit einer auf ‚Kirchlichkeit‘ konzentrierten Christentumstheorie als programmatischem Hintergrund nach dem Motto, „gegen den Trend wachsen zu wollen“. Etliche zentralisierende organisatorische Konsequenzen (wie vier sog. Kompetenzzentren), die Streuung praktischer Impulse durch ‚Best-practice‘-Tagungen und spezielle websites sowie eine aufwändige „Reformations-Dekade“ als PR-Maßnahme seien zu verzeichnen. Aber auch nicht zu leugnen eine strategische Rezeptions-Resistenz (zu schweigen von der Widerlegung des o.a. Mottos durch die sozialen Realitäten) – von vielen Beobachter*innen auf das Akzeptanz-Defizit des „top-down“-Modus der Verbreitung des „Impulses“ zurückgeführt (Zu Zitaten vgl. 179-182).
  • „Gemeinwesenorientierte Gemeinde“ propagiert der in Theorie-Diskursen außenseiterische westfälische Landpfarrer Ralf Kötter. In explizitem Rückgriff auf den Reformator Johannes Bugenhagen entwirft er das Verständnis einer Kirche, die sich auf dem religiösen Boden des Heilsereignisses „Inkarnation“ für „konkrete lebensweltliche Anforderungen“ öffnet, statt „selbstreferentiellen Traditionsbezug“ (oder die Intaktheit „kirchlicher Organisationsstrukturen“) zu pflegen: Vernetzung der lokal-bezogenen „Institutionen und Akteure“. „‚Kirche für Andere‘ wird ergänzt durch ‚Andere für Kirche‘“. (Zu Zitaten vgl. 182f)– NBFS: Ganz ohne Bugenhagen, stattdessen inspiriert durch Hermann Timm, kommt Matthias Morgenroths reichhaltige Phänomenologie und frömmigkeitsgeschichtliche Reflexion des „Weihnachtschristentums“ (so der Titel dessen München 2003 erschienenen, längst vergriffenen Buches) zum Schluss eines kulturgeschichtlichen switching von der Priorität der „Auferstehung“ zu der der „Inkarnation“.

Dieses Resumé ausgewählter kirchenreformerischer Entwürfe soll nichts vorwegnehmen – darum auch die auffällig zurückhaltende Kommentierung durch Grethlein; wer Augen hat  zu lesen, findet sie auch zwischen den Zeilen.

Ein Gegenstück bildet die Skizzierung von „Theorien zum heutigen Kontext“ (§ 22) – hier modifizieren sowohl die Selektion wie auch erkennbare Sympathie-Äußerungen des Vf. das bloße Referat. [Wobei in der folgenden, gleichsam potenzierten, Verdichtung von Theorien Dritter Grethleins Les-Art ‚gilt‘, unter Verzicht auf bisweilen kritische Kommentierung.]

  • „Risikogesellschaft“: Unter diesem Titel hat – welch schwarzhumoriges Zusammentreffen! – unmittelbar vor Eintreten des GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl 1986 Ulrich Beck „ein Stück[…]projektiver Gesellschaftstheorie“ publiziert, die um die sozialen Folgen der Präsenz neuartiger, nämlich „technisch produzierter, global wirksamer, sinnlich nicht wahrnehmbarer“, Risiken kreist. Risiken, die nicht nur Menschen tief verunsichern, sondern in die Möglichkeit einer „Solidarität der lebendigen Dinge“ einzukehren nahelegen. – Grethlein sieht Anschlussmöglichkeiten an die von Luther theologisch differenzierte „Sicherheits-Sehnsucht“ sowie an „Schöpfungsglauben“ (Zu Zitaten vgl. 210-212).
  • Ebenso entwickle Beck hier eine „Theorie der Individualisierung“: Menschen der sog. reflexiven Moderne erleben sich „aus traditionellen Klassenbedingungen und Versorgungsbezüge der Familie herausgelöst und verstärkt auf sich selbst und ihr individuelles Arbeitsmarktschicksal[…] verwiesen“. Konsequenzen im „Bereich religiöser Kommunikation“ zeige Armin Nassehi: religiöse Chiffren wie die Gottes-Idee seien jenseits „kirchlicher Lehren – oder gar dogmatischen Standards“ zunehmend „am eigenen Erleben orientiert“. – Hier knüpft Grethlein seine plakative Formel „von Autorität zu Authentizität“ (s. dazu mehr unten; FS)an, die den drive der sog. Optionsgesellschaft charakterisiere (Zu Zitaten vgl. 212-214).
  • Gerhard Schulzes „Theorie der Erlebnisgesellschaft“ sehe durch in der „Wohlstandsgesellschaft“ für die Meisten die Grundfrage des Überlebens gelöst – und verschoben zur Frage nach dem „schönen Leben“. Diese werde individuell mit Hilfe „alltagsästhetischer Schemata“ beantwortet, deren Wirksamkeit „milieu“-spezifisch sei und „Fragmentierung und Segmentierung der Gesellschaft“ fördere. – Erneut sieht Grethlein das religiöse Motiv des Sicherheitsstrebens berührt (Zu Zitaten vgl. 214f).
  • Auf Werner Faulstich bezieht Grethlein Ausführungen zur „Mediengesellschaft“: „Netz-Kommunikation“ entdifferenziere neuestens Privates und Öffentliches. Das disponiere auf der Rezipientenseite zu Misstrauen gegenüber Institutionen und Organisationen, komplementär dazu, „Äußerungen von Einzelnen“ Authentizität zugute zu halten. Über die „Relevanz“ von Kommunikationen entscheide zunehmend faktisch die Empfängerseite; öffentliche Kommunikation wandle sich zum „Kampf um Aufmerksamkeit“. – Grethlein sieht infolge dessen die Figur des Allgemeinen Priestertums im Aufwind, sondiert darüber hinaus, in Analogie zur digital in Ansätzen ermöglichten „personalized medicine“, die Idee einer „personalized theology“ (Zu Zitaten vgl. 216-219).
  • Hartmut Rosa habe – in vielbeachteten Untersuchungen – „Beschleunigung“ als „Signatur der Moderne und der mit ihr verbundenen Entfremdungsprozesse“ ausgemacht und dem als „Problem“ Erlebten, Jahre später, eine Theorie der „Resonanz“ (Rosa programmatisch: „vielleicht die Lösung“) gegenübergestellt. Deren (phänomenologisch-philosophisch ausgewiesene) Grundlage sei die „Vorstellung einer der Trennung von Subjekt und Objekt vorausgehenden Grundbezogenheit als dem Urgrund für Weltpräsenz und subjektive Erfahrung“. „Resonanz“ also eine Kategorie von weitreichender deskriptiver Leistungsfähigkeit und normativer Valenz! – Grethlein registriert – darf man von leichtem Erstaunen reden? – als kirchentheoretische Anschlussstellen, wie diese Gesellschaftstheorie „in kontrakultureller Perspektive“ (ein im Buch bislang der „Kommunikation des Evangeliums“ vorbehaltener Terminus!) „Religion“ als „Resonanzoase“ oder (die in der Bibel durch Jesus hervorgehobenen) „Kinder“ als „Resonanzwesen“ qualifiziert. Dabei lässt er sogar noch fundamentaltheologische Kontaktangebote wie Rosas Descartes-kritischen Ansatz unerwähnt (Zu Zitaten vgl. 219f).
  • Die „Theorie der Generationen“ (v.a. Klaus Hurrelmann wird nominiert) wird gelesen als Versuch, „eine Form der Vergemeinschaftung [innerhalb der Individualisierung]“ zu fassen. Die sog. Y-Generation zeichne sich aus durch Ansprüche – Ansprüche an die „Arbeit“ als Medium individuellen Selbstausdrucks, und, für die Arbeitsorganisation, auf Liquidierung von Allgemein-Regeln; beharrlich werde „die Frage: ‚Why?‘“ gestellt. – Grethlein nimmt das auf als Herausforderung der Kirche als Arbeitgeber bei der Acquisition künftigen Personals; Bedenken gegen’s „Generationen“-Schema äußert er im Blick auf mögliche „Abschottung“ (Zu Zitaten vgl.221f).
  • Die posthume Publikation Ulrichs Becks („Metamorphose“, Berlin 2017) reflektiere das aktuelle „Grundgefühl vieler Menschen[…]: ‚die Welt ist aus den Fugen‘“. Angesonnen werde eine „kosmopolitanische Perspektive“, die „bisher verwendete Schlüsselbegriffe“ als sog „Zombie-Kategorien“ erkennen lasse („die einen vergangenen Kontext implizieren und so das Wahrnehmen und Verstehen der Gegenwart behindern bzw. verfälschen“). So gesehen, werde das real folgenreiche Paradox „d[e]s gleichzeitige[n] Funktionieren[s] und Versagen[s] von Institutionen“ zumindest benennbar; hierfür spiele die Kategorie „Nebenfolgen“ eine nützliche Rolle [hierzu mehr unten; FS]. – Mit deutlicher Zustimmung quittiert Grethlein diese gesellschaftstheoretische Imagination: besonders im Blick auf den von ihm angeprangerten Anachronismus landeskirchlicher Partikularitäten und die – empirisch nachweislich – wachsende Differenz zwischen deren institutioneller Form und dem „Alltag der Menschen“ (Zu Zitaten vgl. 222-224).
  • Das (auch gegenüber dem Letztgenannten!) noch einmal ganz andere Format einer „Theorie zum heutigen Kontext“ zeigt Yuval Noah Hararis „Homo Deus. A Brief History of Tomorrow“ (New York 2017, dt. München 15!!2018), eine Fortschreibung „sich heute anbahnende[r] technischer Innovationen im Bereich der Daten-Kommunikation in die Zukunft, die bisherige Selbstverständlichkeiten umstürzen“. Der jüngst vielbeachtete „Jerusalemer Historiker“ sehe die Überwindung von „Hungersnöte[n], Seuchen und Krieg“ als statistisch nachweislich erfolgreich an [indes lässt schon diese Ausgangsannahme Skepsis des Rezensenten keimen] – und insoweit, menschheitsgeschichtlich, die Bahn frei für weitergehende „Ziele[…]: ‚immortality, bliss and divinity‘“. Die technische Integration von ‚Menschen‘ und digitalen ‚Maschinen‘ stehe nahe bevor, das „Ende der Vorstellung vom Individualismus“ sei angesagt – konzeptionell einzufangen durch Subsumtion auch der Organismen (incl. der ‚Menschen‘) unter der Dachmarke „Algorithmen“: ein Mega-Prozess, dem als Orientierungswissen (M.Schelers old-fashioned Terminus) allenfalls ein „Dataism“ [Grethlein überträgt: „DataReligion“] korrespondiere. – Grethleins selbstkritische Anmerkung zu seiner bisherigen „positive[n] Sicht auf die neue Medien-Entwicklung“ lässt noch in der Schwebe, als wie zustimmungsfähig er Hararis Projektion beurteilt. Aber ein normatives Programm der Ent-Endlichung des ‚Menschen‘ erscheint ihm am Ende doch theologisch unheimlich. Es scheint noch viel zu tun zu geben, nicht nur für Kirchentheoretiker (Zu Zitaten vgl. 224-226).

 

 

5.Programmatische Versuchungen des Begriffs, oder: Was es auszusetzen gibt

 

Kein gutes Buch, das einer Logik folgt und einen spin erkennen lässt, ist gefeit vor der Immigration ‚freier Elemente‘, die wegen ihrer vermeintlichen Passung nur zu gerne aufgenommen werden, um die Darstellung zu schönen (gleichsam: ‚Fugen‘ zu glätten), denen aber sicherheitshalber keine argumentationstragende Funktion zugetraut werden sollte. Einige Exempel aus Grethleins „Kirchentheorie“:

  • Nahezu mantra-artig wird der Transformation der „Kommunikation des Evangeliums“ im Laufe der „Geschichte“ der Dreh „von Autorität zu Authentizität“ zugeschrieben (§ 22.2). Weil’s so schön die poetische Anmutung des „Leg deine Rüstung ab“ (v. 3 von „Die Erde ist des Herrn“, in diversen EG-Anhängen) durch sozialtheoretische Anschlussfähigkeit verstärkt; und der aktuelle Religionssoziologie-Guru Armin Nassehi als Zitat-Quelle soll Qualität verbürgen. Aber „Authentizität“ ist ein toxischer Begriff mit Sucht-Potential, nur proteus-artig ‚täuschend echt‘: bloß mit Pandemie-Schutzkleidung hantierbar (wie Reckwitz-Leser wissen). Und Nassehi, der vorsichtiger von „authentischer Haltung (oder wenigstens ihrer Inszenierung)“ (213; Kursivierung FS) spricht, weiß es auch.
  • Gerne hantiert Grethlein mit dem Hinweis auf „Nebenfolgen“, deren „besondere Beachtung“ er ein „weiterführendes heuristisches Instrument“ nennt (programmatisch 43). Darin drückt sich seine Sympathie mit Ulrich Becks gesellschaftsdiagnostischen Entwürfen, namentlich der posthumen „Metamorphose“-Version, aus; praktischerweise kann er sich auf eine kleine, von Beck inaugurierte, Monographie des Historikers Benjamin Steiner berufen (43 Anm. 6). Indes hält Steiners Essay weniger als er verspricht, mindestens: als ihm zugetraut wird. Der Terminus „Nebenfolgen“ setzt strenggenommen das soziologische Konzept sinnverstehenden Handelns (incl. eines subjektive Zwecke verfolgenden Akteurs) voraus, für dessen vom Intendierten abweichende Wirkungen er einen Sammelbegriff vorschlägt – um es krass vergröbernd auszudrücken. Aber Steiner will’s ja nicht streng nehmen, sondern „Nebenfolgen in der Geschichte“ bedenken. Nur wird bis zum Schluss nicht deutlich, ob es eigentlich „Nebenfolgen“ „gibt“ oder ‚nur‘ die subjektiven Korrelate verschiedener (‚perspektivischer‘) Selektion aus der Komplexität historischer Emergenzen – nur, was heißt schon ‚nur‘? für Radikale Konstruktivisten sind die ja ohnehin das Einzige, was „es gibt“… Im Ruf, Wirklichkeit in konstruktivistischem Horizont zu denken, standen bislang weder Beck noch Grethlein, im Gegenteil. Allerdings soll wohl, wie Beck sein Steiner-Geleitwort schließt, zu denken geben: „Von Benjamin Steiners Buch lässt sich dieses lernen: dass sich vielleicht gar nicht die Welt auf den Abgrund zu bewegt, sondern unser Denken über sie.“ – „Heuristische“ Dienlichkeit ist unter diesen Umständen das Äußerste, was der Identifikation von Etwas als „Nebenfolge“ zuzutrauen ist.
  • Nicht in die Dimension theoretischer Distinktionen, sondern in die Handfestigkeit kirchenpolitischer Kontroverse gehört eine andere Versuchung der Urteilsbildung durchs allzu Zeitgemäße, der Grethlein nachgibt. In § 17, bes. 152f. 160ff, übt Grethlein mit theologisch schwerem Geschütz (162: „Missbrauch der Taufe“) Kritik am organisationskirchlichen Instrument der sog. „Loyalitätsrichtlinie“. Diese Positionierung fügt sich zwar fugengenau in sowohl den Bogen der historischen „Informalisierung“, den er im „2. Teil: von der Bewegung zur staatsanalogen Institution“ (und, wie im Sinne des „3. Teils“ zu ergänzen wäre: jüngstens wieder zurück! – sowie, im Sinne des „4. Teils“ verschärft: künftig möglichst zurück!) als auch in die individualschutzrechtlich beherrschte, kirchenautonomie-unfreundliche Tendenz oberstgerichtlicher Arbeitsrechtsprechung von EU und BRD. Aber andererseits verfolgt Grethlein durchgängig die Tendenz, der organisierten Kirche (soweit und solange es sie noch gibt) eine geschmeidigere Einbettung in lebensweltliche Selbstverständlichkeiten des „Kontextes“ abzuverlangen. Dessen unvoreingenommene Wahrnehmung dürfte anerkennen lassen: die Erwartung einer öffentlichen Identifikation mit dem Arbeitgeber gibt’s auch anderswo in der Zivilgesellschaft – wer etwa auf dem Mitarbeiterparkplatz des VW-Werks Baunatal bei Kassel seinen „Ford Focus“ abstellt, wird mit ‚Schwierigkeiten‘ rechnen können, und nicht unbedingt nur von der Betriebsleitung. – Zurück zur „Kirchentheorie“: anstelle die kirchenjuristischen Balance-Bemühungen um die Aktualisierung der „Loyalitätsrichtlinie“ anzuprangern (152f) wäre ein fairerer – eben: kirchentheoriegemäßer – Umgang mit dem, als praktisches Problem unbestrittenen, Sachverhalt gewesen, den ebd. gegebenen Hinweis auf die „binäre Kodierung der Kirchenmitgliedschaftsregel“ in Richtung einer historischen Wiedergewinnung von „Formen der gestuften Mitgliedschaft“ auszubauen.

 

6.Petitessen, oder: Was noch zu bemerken ist

 

  • „2. Teil“ unternimmt den anregenden Versuch, „Kirchengeschichte“ als „Problemgeschichte“, nämlich der „Kommunikation des Evangeliums“, darzustellen, weil unter systematischer Hintanstellung der „Kirche“; man mag ihn rezipieren ‚in der Liga‘ von Lucian Hölschers „Geschichte der protestantischen Frömmigkeit“ (München 2005). Die (aus nur pragmatischen Gründen?) von Martin Stringer übernommene Periodisierung – wie zwingend ist sie? Denn ganz ohne „Kirche“ geht die „Problemgeschichte“ nicht, und „die Kirche“ war für die von den §§ 8 bis 12 (teilweise auch § 13) abgedeckten Perioden im sog. Westen des sog. christlichen Abendlands die römisch-katholische. Einen Evolutionssprung, die Mutation dieses ‚kollektiven Autors‘, aber reklamiert neuerdings Hubert Wolf in seiner „Pius IX.“-Biografie, untertitelt mit „die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert“ (München 2018) – eine wohlbegründete These, die auch Folgen für die kirchentheoretisch-systematische Lozierung der „autoritären“ Pluralismus-Aversion in „Rom“ haben könnte.
  • § 14.3 hätte im Sinne des Buches auch von der „Arbeiterpriesterbewegung“ die Rede sein können und sollen, ebenso von ‚Symbolfiguren‘ wie Albert Schweitzer und Mutter Teresa, u.U. auch von der globalen Sichtbarkeit der Kirche im ‚Medienstar‘ Johannes Paul II. – aber dazu hätte die Beschränkung einerseits aufs Protestantische, andererseits das Interesse an der Demonstration der Leistungsfähigkeit des Allgemeinen Priestertums und deren institutionskirchlicher Missachtung ausgesetzt werden müssen.
  • 120 heißt es „Die Umstellung von den Tauffragen[…]auf die vom Priester gesprochene Taufformel führte zu einer erheblichen Veränderung der Feiergestalt. Aus einer kommunikativen Interaktion wurde die Spendung eines Sakraments“ – eine kirchentheoretische These, die die bedauerliche Mutation „zweiseitiger“ zu „einseitigen“ liturgischen Handlungen (i.S. von Ebertz) historisch dingfest machen soll. Indes zeigt die (durchgehaltene oder wieder eingeholte?) Präsenz von „Tauffragen“ in aktuellen Agenden (auch der deutsch-römisch-katholischen: vgl. Gotteslob, Stuttgart 2013, Nr. 571), dass jene These ‚historisch‘ schwächer gedeckt ist als behauptet.
  • „Reden wir über Geld“ lautet die ‚Dachmarke‘ einer beliebten Serie von Interviews in der „Süddeutschen Zeitung“. In einer ausgeführten „Kirchentheorie“, zumal einer am Leitfaden der „Kommunikation des Evangeliums“, darf Konkludentes zur Finanzierung der (wohl auch künftig z.T. organisationell formatierten!) Kontinuierung dieser „Kommunikation“ eigentlich nicht fehlen. Schließlich ist von „Geld“ – laut Luthers (von Grethlein hoch gepriesener Kontextualisierung des Evangeliums!; 93f) Auslegung der Vierten Bitte im Kleinen Katechismus – sogar im Vaterunser implizit die Rede… Doch da lässt Grethlein an Kantenschärfe zu wünschen übrig. Zu erfahren ist zwar punktgenau, was s.E. im zeitgenössischen Kontext der weltanschaulich pluralen Zivilgesellschaft nicht mehr als „evangeliums“gerecht ‚durchgehen‘ kann: das Format „…steuer“ (wg. seiner intransparenten „Allgemeinheit“ und „Staatsanalogie“ [232] bzw. Nicht-Optionalität [233]), der undifferenzierte Konnex von Taufe, Mitgliedschaft und „Kirchensteuer“-Pflicht (234), u.a.m. Aber konstruktive Alternativen bleiben blass („Fundraising“; 234) oder, eine „Mandatssteuer“ nach internationalem Muster etwa, ganz unerwähnt – wie auch die Frage der Kompatibilität mit dem Staatskirchenverbot des GG (gemäß Art. 137 Abs. 1 WRV).
  • Überhaupt das Rechtliche. Immer mal wird römisch-katholischen (Kirchen-)Reform-Plädoyers Wortkargheit in Sachen Kirchenrecht vorgehalten – so 23.189f.194f (hier unter Marginalisierung der weltkirchlichen Provinzialität der nachaufklärerisch-protestantischen Imprägnierung dieser Perspektive!). Aber dazu bleibt auch Grethlein beim allenfalls ‚Pflichtprogramm‘ zu Nennenden (§ 17); hält er doch spürbar das deutsche „Staatskirchenrecht“ für eine Art Lehrbeispiel dessen, was (weil nicht-kontext-sensitiv) der „Kommunikation des Evangeliums“ eher im Wege stehe. In diesem Sinne beschränkt er sich auf – nicht unbegründete! – Mäkelei an administrativen Versuchen der ‚Bewältigung‘ der Differenz zwischen gelebtem Leben und Rechtslage (im Blick auf die Konfessionsbindung des RU an staatlichen Schulen) und die selektive Repetition der „Empfehlungen [sc. des Wissenschaftsrates] zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften“ von 2010, die die „Herausforderungen einer religiös pluralisierten Welt“ apostrophieren (158ff). – Leider ist Grethleins separate Publikation (ders., Evangelisches Kirchenrecht, Leipzig 2015) schon vergriffen.

 

 

7.Schluss – und ein deliberativer Nachtrag

 

Der Schluss:

Im Hintergrund des Buches west eine Vorliebe für ‚Visionen‘, wissenschaftssoziologisch: ‚Grand Theories‘, die nach dem Vorstehenden nur noch angedeutet zu werden braucht. Grethlein outet sie selbst im „Vorwort“ mit dem Michel Serres entlehnten Quasi-Motto „Ich sehe unsere Institutionen in einem Glanz erstrahlen, der dem jener Sternbilder gleicht, von denen Astronomen uns berichten, dass sie längst erloschen sind“ (XIII). Sie setzt sich fort in den gelegentlichen Referenzen auf Charles Taylor (v.a. 205) und der erkennbaren Affinität zu Ulrich Becks „Metamorphose“-Vorstellung ( = ‚kein Stein mehr auf dem anderen‘); 202 wird einiges davon explizit zur Sprache gebracht. Wer Grethleins Narrativ der „Kommunikation des Evangeliums im Kontext“ bis zum letzten Satz („Kirche wird[…]zu einem Assistenzsystem für die Kommunikationen der ‚Allgemeinen Priesterinnen und Priester‘, also zu einer diakonischen Kirche für andere“; 298) liest, der nimmt den Vf. wahr im Modus der  ‚Kippfigur‘ aus einem unaufhörlichen Ulrich Beck und Greta Thunberg, milde im Ton („das ganz normale Chaos…“) und streng in der Sache („how dare You…“).

 

Der Nachtrag:

§ 25, der letzte des Buches, breitet „Praxisbeispiele kontextbezogener Kommunikation des Evangeliums“ aus – wie es einem Praktischen Theologen wohl ansteht. Konsequenterweise wird in diesen lebenspraktischen Konklusionen einer innovativen „Kirchentheorie“ die „Kommunikation des Evangeliums“ begrifflich auf deren drei Modi reduziert und (d.h. auch) abstrahiert von deren historisch gewachsener, „dogmatisch“ differenzierter Bestimmtheit. Um die Evangeliumsgemäßheit jener Kommunikationsformen zu ‚retten‘, wird immer wieder die dem Evangelium Jesu zugeschriebene fundamentale Inklusivität (in ‚Nairobi‘-Diktion: das „transcultural“; 42 deutsch „kulturell wechselwirksam“) betont – um den Preis, dass das (dito mit Nairobi erhobene) Postulat eines Zugleich der vier Dimensionen mehr und mehr verdunstet.

Freundliche Erwähnung finden, wenngleich in der Formulierung gleichsam mit spitzen Fingern angefasst, „um Orthodoxie Bemühte“ (254), die Bedenken gegen „religiöse Feiern für alle“ (so ein Terminus der Liturgischen Konferenz; 256) artikulieren – mag sein im Respekt vor der Reserve des Großen Alten zeitgemäß-weltoffener liturgischer Theorie und Praxis, auf den die (mit dem Geist Ernst Langes verbundene) „Liturgische Nacht“ beim DEKT Düsseldorf 1973 zurückgeht, der take-off der jüngsten ‚Abendmahlsbewegung‘ in der Geschichte der deutschen evangelischen Kirche: Peter Cornehls zurückhaltendem Urteil über den spektakulären Gebetsgottesdienst nach NineEleven wird eingeräumt, dass u.U. (256: „wahrscheinlich“) „die Grenze vieler zivilreligiöser Feiern“ im Vergessen der „countercultural“-Dimension liege. Indes hält Grethlein die mainline seiner Argumentation durch, und sei’s (hier bezogen auf „Weiterentwicklungen des Helfens zum Leben im Internet“) im Gestus trotzigen Behauptens „Theologisch gesehen wird hier aber in dichter, unmittelbar kontextbezogener Weise Evangelium kommuniziert, ereignet sich also im strikt theologischen Sinn ‚Kirche‘“ (260).

 

Grethleins „Kirchentheorie“ konjugiert das Paradigma der „Kommunikation des Evangeliums“, an dem nicht zuletzt die radikale Inklusivität geschätzt wird – nur ein einziges Mal wird es mit der „Möglichkeit der Selbstexklusion“ (44) verbunden, obwohl zu dieser 50/50-„Ergebnisoffenheit“ nicht nur die prägnante Episode von „Jesu“ (ganz K.Barthisch in die Form des speziellen ‚Gebots‘ gebrachten) Adressierung des „Evangeliums“ an den ‚Reichen Jüngling‘ (Mk 1017-22 parr) Anlass gäbe. So fehlt im Buch die operative Kategorie „Grenzüberschreitung“ für die singuläre Verkörperung des „Evangeliums“ in „Jesus“ (vgl. die sublim ‚grenzgängerisch‘ inszenierte Episode Mt 1521-28!). Aber vielleicht ist das kein Zufall des fehlenden Einfalls. Sie zu verwenden hätte womöglich das „Buch“ selber unmöglich gemacht: um der Menschen willen, für die das „Evangelium“ gegeben ist, Abstand nehmen von theologischen Projekten wie einer „Kirchentheorie“, die sich – mit der Kultivierung von begrifflichen Differenzierungen – unablässig kümmern muss um „De-Finitionen“?

 

© Frithard Scholz

10.10.2020