Das Selbstverständliche

Liebe Gemeinde!

 

„Glauben Sie an das Jüngste Gericht?” - - - Nein: das müssen Sie nicht jetzt und hier öffentlich beantworten. Schließlich kann man diese Antworten auch schon lesen: in den Ergebnissen repräsentativer Meinungsumfragen in der Bevölkerung, die sich immer mal wieder danach erkundigen. Die erste Befragung dieser Art, die ich bewusst wahrgenommen habe, ging zum Thema „Was glauben die Deutschen?” - 10 Jahre her. Seit dem hat sich zwar das Bild auch verschoben. Aber die Ergebnisse dieser Umfragen sind bemerkenswert, gerade was diesen einen Punkt angeht. Die weit überwiegende Mehrzahl seinerzeit, neuerdings praktisch die Hälfte der Befragten antwortet mit Ja auf die Frage „Glauben Sie an das Jüngste Gericht?” Das ist ja schon bemerkenswert genug in unserer Zeit, die sich soviel zugute hält auf Aufgeklärtheit und Weltlichkeit, auf selbstverständliche Skepsis gegenüber allem, was man nicht zählen, messen, im Fernsehen dokumentieren kann.

All das kann vom „Jüngsten Gericht” ja kaum behaupten. Denn damit verbinden sich doch weithin sehr bildhafte Vorstellungen, wie wir sie von mittelalterlichen Gemälden kennen. Die Ursprungserzählung jener sprichwörtlich gewordenen Vorstellungen haben wir ja gerade wieder gehört: Schafe werden von den Böcken getrennt (und den etwas drohenden Unterton fühlen wir immer gleich mit); ein Richter spricht absolut unbestechlich ein Urteil, gegen das es keine Berufung gibt, allerletzte Instanz also; die Vorstellung von einem Ende der Welt, vom paradiesischen Himmelreich und vom Höllenfeuer, die beide danach kommen. „Jüngstes Gericht”? Passt alles vielleicht in fantasy- oder Katastrophenfilme - aber in echt??

Wie gesagt: Bemerkenswert genug, dass so viele Menschen unserer Tage davon überzeugt sin, ein solches Ereignis stehe der Welt und irgendwie auch ihnen persönlich wahrhaftig bevor. Bemerkenswerter als diese Antwort ist aber noch etwas anderes: Längst nicht alle von denen, die bei dieser Umfrage ihren Glauben an das Jüngste Gericht bekundeten, hatten von sich auch zu berichten, dass sie an Jesus glauben. Dass sie in ihrem Tun und Denken bestimmt sind von der Überzeugung: in diesem Jesus ist Gott selber zur Welt gekommen, um ein für allemal klar zu machen, er ist ein menschlicher Gott, der uns alle zu Freunden haben will. Das heißt aber auch umgekehrt: wer so einen große Endabrechnung mit den Menschen am Ende der Welt für eine ausgemacht Sache hält, der braucht dabei noch lange kein Mensch zu sein, der mit Recht ein Christ genannt werden kann, weil es in seinem Leben um Jesu willen mit Gott hält. Kurz gesagt: Der Glaube ans Jüngste Gericht hat nicht unbedingt etwas mit dem christlichen Glauben zu tun; er ist letztlich davon unabhängig, und er ist in Wahrheit eine sehr menschliche, eine allzumenschliche Überzeugung. Das, liebe Gemeinde, ist das Bemerkenswerteste an jener Umfrage, von der ich am Anfang sprach. Und wir, die wir hier als Gemeinde Christi zusammengekommen sind, um uns vom Geist Gottes die Wahrheit sagen zu lassen über all die allzumenschlichen Geister, die auch wir immer wieder zu unserem Schaden über unser Leben bestimmen lassen - wir haben Anlass, das nicht für bloße Statistik zu halten, Zahlen auf Papier, sondern wir wollen fragen, wie es mit uns dabei steht und was unser Teil daran ist.

Denn wenn der Glaube an ein Jüngstes Gericht, wenn diese so unzeitgemäßen Vorstellungen sich so hartnäckig festgesetz haben in den Köpfen und Herzen heutiger Menschen, ob sie nun im Ernst Christen sein wollen oder nicht, so muss dieser Glaube Gründe haben, die tief verborgen sind in der Menschenseele: Gründe, die das Licht des Evangeliums scheuen müssen. Diese lichtscheuen Gründe wollen uns nämlich zwingen, zu bleiben, was wir sind: nämlich Menschen, die Gott den Rücken kehren müssen, weil sie ängstlich auf sich selbst bedacht sind, auf materielle Sicherheit, auf ein anständiges Leben, ja gar aufs ewige Seelenheil. Das Evangelium dagegen macht uns frei von derlei eigensüchtigen Bedenklichkeiten, in denen wir Gott unfreundlich den Rücken kehren; es hebt unseren Blick auf und gibt ihm eine neue Richtung, weg von unseren falschen Problemen mit Gott und der Welt; es leuchtet uns wahrhaft heim, indem es uns auf den Weg bringt, auf dem Gott uns schon entgegengekommen ist bis zum Greifen nahe.

„Heimleuchten”, liebe Gemeinde - dieses Wort aus der Zeit der Postkutschen und der Petroleumfunzeln hat einen eigentümlichen Doppelsinn, nicht wahr? ‘Komm, ich leuchte dir heim’ sagt einer und bietet freundliche Begleitung und Wegweisung für den, der im Dunkeln tappt und der nicht mehr findet, wo er hingehört und hin will. ‘Dem werd ich heimleuchten!’ - der drohend veränderte Tonfall macht es, und schon ist die Rede davon, dass einem eine Kritik bevorsteht, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt, dass einem mal endlich der Kopf zurechtgesetzt werden soll, der viel zu lange in die falsche Richtung geguckt und gedacht hat.

So doppelsinnig ist es auch mit dem Evangelium, das uns wahrhaft heimleuchtet: freundlich uns den Weg zeigen zu dem Platz in der Nähe Gottes kann das Evangelium nur, wenn es zugleich auch unverblümt uns die Meinung, nein, die Wahrheit sagt - die Wahrheit, die aufräumt mit dem falschen Glauben, in dem wir allzumenschlichen Vorstellungen über den Umgang Gottes mit uns zuviel Ehre antun. Gott hat für uns in Wahrheit Begnadigung und Freispruch in petto und gerade nicht endgültige Verurteilung zur Höllenstrafe; Gott ist uns freundlich entgegengekommen und reicht uns die Hand, obwohl wir uns von ihm abgewendet haben: das sagt uns das Evangelium von Anfang bis Ende.

Zu diesem Evangelium möchten wir schon gern Ja und Amen sagen. Aber es  wird uns nur dann wahrhaft heimleuchten in die Nähe unseres menschlichen Gottes, wenn wir es zugleich auch unsern allzumenschlichen Vorstellungen vom Jüngsten Gericht heimleuchten lassen. Wenn wir das Evangelium von der Gnade Licht bringen lassen in die lichtscheuen Gründe für unseren Glauben an jenes gnadenlose Gericht.

Was für Gründe zeigen sich da für das hartnäckige Festhalten am Glauben an das Jüngste Gericht, an der Vorstellung, dass da Menschen sortiert werden in zwei Gruppen, dass da ein unanfechtbares Urteil gesprochen wird, das den einen höllische Qualen, den anderen himmlische Wohltaten zuteilt? Ich finde, es sind v.a. drei Gründe.

Zum einen: Da ist ein Mensch, der unbekümmert lebt, wie es ihm gefällt, und der auf moralische Vorstellungen nicht viel gibt. Natürlich ist er ein anständiger Mensch, und so ganz im groben erinnert er sich an die Zehn Gebote aus der Konfirmandenzeit, aber er lässt doch gerne fünfe grade sein und den lieben Gott einen guten Mann.

Er glaubt an das Jüngste Gericht, denn die Angst begleitet sein Leben als unabwerfbarer Schatten. Es ist die Angst davor, dass ihm bei seinem großzügigen Umgang mit allgemeinen Lebensordnungen irgendwie das Leben überhaupt außer Kontrolle geraten könnte und er am Schluss nicht mehr weiß, wer er ist. Gegen diese Angst braucht er ein Mittel, und das ist die andere Angst vor einer unbestechlichen Lebensprüfung, in der mit Mogeln nichts mehr zu machen ist.

Ein zweiter Grund: Da ist ein Mensch, der ein bescheidenes Leben führt. Er stammt - wie wir es sagen - aus einfachen Verhältnissen, und weil er gelernt hat, immer Treu und Redlichkeit zu üben, wird er auch in einfachen Verhältnissen leben bleiben bis an sein kühles Grab. Das weiß er, und er ist es zufrieden - aber nicht ganz; denn er sieht andere, die es zu mehr gebracht haben, weil sie ihre Ellenbogen gebraucht haben und es überhaupt nicht so genau nehmen wie er.

Er glaubt an das Jüngste Gericht; denn tief drinnen sitzt bei ihm der Stachel der Missgunst. Weil er auch ein frommer Mensch sein will, gibt er sich das nicht zu, sondern er verwandelt die Missgunst in seinem Herzen in die Hoffnung, wenigstens nach dem Tode werde es eine ausgleichende Gerechtigkeit geben, die jenen anderen ihre Rücksichtslosigkeit heimzahlen werde.

Und ein Drittes: Da ist ein Mensch, der zwischen Gut und Böse wohl zu unterscheiden weiß und der auch danach handelt, so gut es geht. Er ist ein Mensch der Ordnung, und es geht ihm ganz und gar gegen den Strich, dass in der Welt die Grenzen zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch so selten eindeutig zu erkennen ist, alles scheint immer von der Situation abzuhängen, je nachdem.

Wenn er bloß zu sagen hätte, dann wäre alle viel einfacher... - aber er hat ja nicht zu sagen, und darum glaubt er an das Jüngste Gericht. Um sich herum sieht er nur Unordnung, von der er sich bedroht fühlt, und das Gefühl der Ohnmacht vor dieser Bedrohung verwandelt sich in ihm: es wird zum besessenen Wunsch, es möchte doch einer kommen, der ein Machtwort spricht und diese komplizierten Verhältnisse ganz einfach macht. Koste es was es wolle. Und wenn’s die Hälfte der Menschheit ist.

 

Das, liebe Gemeinde, sind drei wichtige Gründe für den Glauben an das Jüngste Gericht. Allesamt tiefsitzende Gründe, aber allesamt auch allzumenschliche Gründe, die im Lichte des Evangeliums von Jesus Christus keinen Bestand haben. Da ist die heimliche Angst vor der Freiheit: ist es aber nicht Jesus, der uns menschlich nahe gekommene Gott, der die Bedürfnisse des lebendigen Menschen höher stellte als jedes noch so heilige Gebot? Da ist der uneingestandene Wunsch nach Vergeltung: ist es nicht Jesus, der noch am Kreuz Gott um Vergebung für seine Henker bat statt ihnen den Teufel an den hals zu wünschen? Da ist die Sucht nach Ordnung um jeden Preis: ist es nicht Jesus, der sich in Gesellschaft von Moralaposteln ebenso selbstverständlich bewegte wie in der von Ausbeutern und Huren und der zum Schluss - selbst der Gerechte! - wie ein Straßenräuber aufgehängt wurde?

 

Mancher von Ihnen wird aber nun einwenden mögen: Jesus spricht doch selbst vom Jüngsten Gericht, wir haben’s doch vorhin in der Lesung aus dem Matthäus gehört! Wie kann der Pfarrer dann so reden, als hätte der Glauben ans Jüngste Gericht mit dem Evangelium nichts zu tun? Das ist in der Tat merkwürdig, und doch ist es nicht so. Der Glauben ans Jüngste Gericht hat nichts mit dem Evangelium zu tun, vielmehr ist es umgekehrt: das Evangelium (wie Matthäus es ausrichtet) tut etwas mit denen, die ans Jüngste Gericht glauben. Und was es tut, das wissen wir schon: es leuchtet ihnen heim.

 

Gewiss - die anschauliche Szenerie der Gerichtsverhandlung nimmt leicht unseren Blick gefangen: wir meinen alles leicht zu begreifen und wären doch bloß wieder unseren allzumenschlichen Vorstellungen vom Umgang Gottes mit uns auf den Leim gegangen. Aber wir bekommen die Geschichte nicht zu hören, damit wir Gott in die Karten gucken können: damit wir nun fleißig Hungrige speisen und Fremde aufnehmen und Nackte kleiden und was derlei durchaus guter Werke mehr wären - und bei alledem darauf spekulieren, das werde uns bei der großen Abrechnung gutgeschrieben. Von diesem Wunschdenken, das bei jedem Tun und Lassen aufs Jüngste Gericht schielt, können wir getrost ablassen: solcher Halbherzigkeit gerade leuchtet das Evangelium heim, indem es zur Rechten wie zur Linken die Überraschung groß sein lässt über das Urteil, das ergeht. Diese Überraschung ist es! Durch die will das Evangelium auch uns freundlich heimleuchten: in das Land, in dem das Selbstverständliche sich von selbst versteht - schöne Formulierung eines unserer zeitgenössischen Dichter: Hans Magnus Enzensberger.

Wo das Selbstverständliche sich von selbst versteht:

wo uns Mit-Gefühl mit anderen in Fleisch und Blut übergegangen ist;

wo wir selbst daran leiden, andere leiden zu sehen oder zu wissen;

wo wir darum nicht mehr berechnende Zuschauer des Lebens sind, die aufs Ewige spekulieren -

da sind wir unversehens in Tuchfühlung mit Gott geraten, Gott, der selber uneingeschränktes Mit-Gefühl mit seinen Menschen bewiesen hat;

da ist die Angst vor der Hölle ebenso gegenstandslos geworden wie die Lust auf den Himmel;

da werden wir der Vorstellung vom Jüngsten Gericht den Rücken gekehrt haben.

Das Evangelium verlangt uns nicht ab, die Realität des Jüngsten Gerichtes zu leugnen oder die Augen davor zu schließen, dass es auch uns betreffen wird. Nein, das nicht.

Aber wem das Evangelium Herz, Mund und Hände erfüllt, der wird für’s Jüngste Gericht keinen weiteren Gedanken, keine erwähnenswerte Aufmerksamkeit mehr übrighaben.

Dem ist das Licht der Entdeckung aufgegangen: die Selbstverständlichkeit des Selbstverständlichen genügt uns vollauf zu einem Leben, das uns Gott schon nahe sein lässt, ohne dass wir es wissen oder zu wissen brauchten. Genug, dass er es weiß. Amen.