Selbstverwirklichung - oder: Anfang einer wunderbaren Freundschaft

Liebe Hausgemeinde,

Dieser Tage las ich nochmal einen Aufsatz von 1974 aus der Intellektuellen-Zeitschrift "Kursbuch", dessen Titel seiner­zeit aus dem Stand zu einem Schlagwort wurde: "Wegwerfbe­ziehungen". Wie eine Bombe war der hineingeplatzt in unsere Generation: hielten wir doch von uns, als verstünden wir von Beziehungen mehr als jede Generation vor uns, und meinten, kritisch und gefeit zu sein gegen alles, was Überflußgesellschaft, Konsumzwang, Ex-und-hopp-Mentalität hieß.

Und heute? Sicher, in den letzten 10, 15 Jahren hat sich einiges um uns und auch in uns bewegt unter der Fahne "Be­wahrung der Schöpfung": Ressourcenschonung, Recycling - und die grünen Abfalltonnen stehen jetzt überall im Landkreis vor den Haustüren und heißen Wertstoffbehälter.

Also, da hat sich doch ein gewisser Bewußtseinswandel voll­zogen und neue Gewohnheiten bürgern sich ein. Und es klingt auch nicht mehr so verlegen und ertappt, wenn wir's hören und drüber lachen: "Ex und hopp ..., Wegwerfbeziehungen" • • •

Der Aufsatz mit dem sprechenden Titel beschreibt mit einigem theoretischem Aufwand, wie und warum zum ökonomischen Funk­tionieren der Gesellschaft immer weniger zum nützlichen Ge­brauch und immer mehr schlicht zum Wegwerfen produziert wird. Klar: das sind natürlich junge Marxisten, die das so abgeleitet haben, und kritische Rückfragen ob das denn alles wirklich so sei, und überhaupt, ob das denn alles sei, was da zu sagen wäre - sind auch nicht verboten. Aber mit dem Steinwerfen nach linksaußen sollten wir uns doch ein bißchen langsamer tun.

Wenn ich mich in unserem schönen Glas-Haus der Kirche um­schaue und die vielen Schreibmaschinen angucke - je neuer und intelligenter, desto eher scheint an der Diagnose doch was dran zu sein: was da an den praktischen, sauberen Farb­bandcassetten zum Schreiben und was zum Wegwerfen da ist - also, da haben die Proportionen doch früher anders ausge­sehen ...

 

Aber es kommt mir gar nicht auf den ökologisch erhobenen Zeigefinger an; denn das ist auch überhaupt nicht die Pointe des Aufsatzes von den "Wegwerfbeziehungen". Der erklärt nämlich: Unter diesen Umständen, in denen wir uns (ob wir wollen oder nicht) an den Dingen einüben in Beziehungen, die über so kurzen Weg aufs Wegwerfen hinauslaufen, nehmen wir Schaden an unserer Seele. So würde das jedenfalls in biblischer Sprache ausgedrückt heißen. Die beiden Verfasser reden zwar hier von Freiheit und Selbstbestimmung, von ernsthaften Beziehungen und ihrer Notwendigkeit dafür, daß einer ein selbstbewußter Mensch wird, und davon, wie diese hohen Lebensziele uns von den Verhältnissen auf kleinlichste Weise ins Gegenteil verkehrt werden. Aber: Schaden nehmen an unserer Seele - so dürfen wir das getrost rückübersetzen, auch wenn das Neue Testament in diesem Zusammenhang weniger ans Wegwerfen als ans Behalten denkt.

Die Gleichgültigkeit beim Wegwerfen, die wir im Umgang mit den Dingen lernen müssen, wenn wir nicht vor jedem Schritt an den Papierkorb und den Mülleimer kreuzunglücklich und in unserer Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt werden wollen - die macht nämlich nicht halt vor unseren zwischenmenschlichen Beziehungen. Die kriegen in dieser allzu modernen Atmosphäre eben auch so einen Hang zu Beliebigkeit; die gewährt zwar unserem Bedürfnis nach Vergnügen und Unterhaltung allerhand Auslauf, macht's aber schmerzloser, eine Beziehung auch wie­der aufzugeben, wenn's anstrengend wird, beieinander zu bleiben. Schmerzloser deswegen, weil wir so eine Beziehung zu einem anderen Menschen vielleicht lebhaft, aber durchaus ohne innere Beteiligung unterhalten haben; weil ich in die­ser Beziehung genau so wenig bei dem anderen wie bei mir selber war.

Damit stehen wir übrigens ganz dicht vor der kleinen Episode aus dem letzten Kapitel des Johannesevangeliums, aufgrund derer ich heute morgen hier etwas zu sagen versuche. Diese paar Verse erzählen nämlich eine Beziehungsgeschichte ersten Ranges, die uns etwas zu verstehen gibt über Trennung und Versöhnung, über Treue und beschädigte Identität, über Frei­heit und Verläßlichkeit. Aber weil die Geschichte ganz am Ende des Evangeliums steht, hat sie (kein Wunder!) auch noch eine Vorgeschichte, und die muß ich auch erst noch in Erinnerung rufen.

 

Die Bibelfesteren hier vermuten richtig: das ist die Ge­schichte von Jesus und Petrus, die Geschichte einer großen Freundschaft, die jämmerlich scheitert, als es ernst zu wer­den beginnt. Insofern auch eine Geschichte von den Grenzen der Freiheit, von der Schwierigkeit, zur eigenen Entschei­dung zu stehen.

Jesus, der war ja für Petrus das Tor zur Freiheit gewesen. Um mit dem zu gehen, hatte er alles stehen und liegen gelas­sen, seinen Beruf aufgegeben, seine Familie verlassen, als gestandener Mann nochmal völlig von vorn angefangen. Ein klassischer Fall von "Selbstverwirklichung", um es etwas anachronistisch auszudrücken.

Petrus hatte sich befreit von allem, was Sitte und Anstand, Konvention und Pflicht von ihm forderten, und war mit Jesus mitgegangen, diesem mittellosen Wanderprediger; hatte sich entschieden, frei und selbst, daß dessen Weg auch sein Weg sein sollte. "Was auch geschieht, auf mich kannst du zählen, und wenn's mich das Leben kostet!" Eine Freundschaft unter Erwachsenen: die schließt sich nicht so leicht (das wissen wir), und solch großes Wort sagt einer nicht von ungefähr. Aber so hatte er's ausgesprochen und gemeint.

Das erbärmliche Ende seiner tiefen und ernsthaften Bindung an Jesus kennen wir: die nächtlichen Fragen, und daß er's nicht gewesen sein wollte; der Hahnenschrei, und daß er das dann auch nicht gewesen sein wollte, der's nicht gewesen sein wollte. 'Er ging hinaus und weinte bitterlich', lesen wir bei Lukas: Weil Petrus noch vor der Erfindung der Weg­werfbeziehungen lebte, hatte er das Glück, noch richtig un­glücklich sein zu können über dieses Scheitern einer Bezie­hung. Ich denke aber, Petrus war hinterher nicht nur wegen seiner Untreue gegenüber Jesus so elend zumute, sondern auch wegen der Untreue gegenüber sich selbst, die da mit inbe­griffen war:

  • nicht der sein, der man so gerne wäre;
  • nicht schaffen, was man doch so entschieden gewollt hat;
  • nicht den Anspruch erfüllen, den man an sich selber stellt;
  • einsehen müssen, daß man der Freiheit nicht gewachsen war, daß man die eigene Entscheidung nicht durchhalten konnte:

 

 

das ist es, was Petrus erfährt - und daß es ihn so schmerz­lich ergreift, ist ein Zeichen der Menschlichkeit, die in der Epoche der Wegwerfbeziehungen verschütt zu gehen droht. Das ist es, was vermutlich keinem Menschen zu erfahren er­spart bleiben wird oder doch sollte, auch wenn es nicht im­mer so dramatische Züge tragen muß wie hier:

  • daß wir zurückbleiben hinter dem Wunschbild von uns selbst;

-           daß wir zurückstecken müssen in unseren Lebensplänen;

  • daß die Freiheit, die wir uns gewünscht, ja erkämpft ha­ben, als erreichte uns Angst macht, weil sie immer auch ein gefährliches Risiko in sich birgt.

Wie kann sich eigentlich einer noch selber im Spiegel an­sehen, dem so etwas widerfährt wie dem Petrus?

Wie kann der weitermachen, seinen Alltag bestehen, wenn das böse Gefühl, ein Versager zu sein, in ihm brennt?

Wie kann ich leben mit der Erkenntnis, daß ich mit der Frei­heit nicht fertig werde; mit der Erkenntnis, die der Apostel Paulus einmal ganz drastisch so ausgedrückt hat: 'Das Gute, das ich will, das bringe ich nicht zustande. Aber das Böse, das ich nicht will, das tue ich'?

Liebe Hausgemeinde: die Geschichte zwischen Petrus und Jesus ist mit jener schlimmen Nacht des Verrats, der ein noch schlimmerer Tag folgen sollte, nicht zu Ende gewesen. Gott sei Dank!

In gewisser Weise hat sie danach erst richtig begonnen. Nach Ostern begegnen die beiden sich wieder, dort, wo alles ange­fangen hat, am See Genezareth. Der Evangelist Johannes hat uns das Gespräch überliefert, das sich da im Morgengrauen abspielt, nach dem ersten Frühstück sozusagen, als sie da sitzen um das Feuer herum, Jesus, Petrus und noch ein paar aus dem alten Kreis. Da muß jetzt die Sache einfach auf den Tisch, die noch zwischen den beiden steht.

Johannes erzählt das so:

(Joh. 21, 15-19)

Dreimal hat Petrus ihn verleugnet.

Dreimal wird er nun nach seinem Verhältnis zu Jesus gefragt.

Dreimal muß er mit der Antwort heraus.

 

Und da merken wir schon, daß er etwas gelernt hat, der Pe­trus, aus seiner schlimmen Erfahrung mit sich selbst: daß er nämlich nicht mehr so große Worte macht von wegen Leben dransetzen und so fort. "Du weißt alles; dann siehst du auch meine Liebe zu Dir." Das ist alles, was er jetzt noch zu sa­gen sich traut - und gleichzeitig ist es alles, was Jesus je von ihm erwartet hat;

von ihm, wie von jedem von uns, wenn wir denn Jesu Freunde sein wollen: daß wir ihn lieben - und nicht daß wir für ihn sterben oder kämpfen oder und aufopfern oder gar uns aufge­ben wollen oder sonstwelche großen Taten vollbringen.

Daß wir ihn lieben - ich will's mal so übersetzen:

daß wir uns um ihn mühen, gerade wenn er uns fremd vorkommt; daß wir ihn ernst genug nehmen, um ihn an uns 'ran zu las­sen: auch in die Küche sozusagen, wo's ans Eingemachte geht, und nicht bloß in die Kalte Pracht;

daß wir ihm vertrauen.

Nur keine Wegwerfbeziehung! das ist es, was sich Jesus von seinen Freunden wünscht. Große Bekenntnisse, große Taten werden nicht erwartet. Mag sein, daß die sich als Folge dann ergeben, uns über uns hinausführen. Nur: Bedingung sind die nicht.

Das ist das eine, was diese Geschichte uns lehrt. Und das zweite gehört dazu:

Jesus kann einen Menschen brauchen, auch wenn er "wirklich großen Mist gebaut" hat.

Gleich, was mir Schlimmes passiert, gleich, was mir mißraten ist: Ich kann noch einmal neu, noch einmal von vorne anfan­gen. Jedem Menschen steht das zu, von Jesus, von Gott her gesehen: daß er wieder neu anfangen kann, daß er eine neue Chance bekommt, gleich was da war. ‑

Deshalb feiern wir Taufe, deshalb feiern wir Abendmahl, um das immer wieder und immer wieder ins Gedächtnis zu rufen: Das Alte ist vergangen! Alles ist neu geworden!

Wieder neu anfangen können, auch wenn man meint, schon total am Ende zu sein: das ist die große Freiheit, die Gott den Menschen offenhält und gewährt, und die alle Freiheiten, die Menschen sich selbst wünschen und suchen, weit übersteigt.

 

Neu anfangen - das ist freilich etwas anderes als: einfach weitermachen wie bisher. Neu anfangen - das heißt: anders denken, anders entscheiden, anders leben als vorher. Was das für Petrus bedeutet hat, umschreiben die letzten, etwas rät­selhaften Sätze in dem Gespräch mit Jesus, wo der zu ihm sagt: "Als du jünger warst, da hast du deinen Gürtel selbst umgebunden und bist gegangen, wohin du wolltest; wenn du äl­ter wirst, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dir den Gürtel umbinden und dich führen wohin du nicht willst."

Petrus lernt es, durch die Erfahrungen mit sich selbst, sein Leben, seine Entscheidungen, seine Wünsche und Pläne Gott anzuvertrauen, anstatt seines Glückes eigener Schmied sein zu wollen. Das bringt ihm Erfahrungen, Begegnungen, Heraus­forderungen, die er selber sich nicht ausgesucht hat. Das führt ihn auf Wege, die er nicht selbst gewählt hat, die er selbst womöglich bewußt gemieden hätte. "Ein anderer wird dich führen, wohin du nicht willst". Sagt Jesus.

Solche Sätze, liebe Hausgemeinde, sind für uns alle schwer verdauliche Kost. Sie und ich, wir haben gelernt, daß "Selbstbestimmung" eines der höchsten Lebensziele ist. Da leben wir eben alle als Nachkommen der europäischen Aufklä­rungszeit:

  • die eigene Freiheit suchen;
  • die Erfahrungen mit dem Leben selber machen;
  • sich seines eigenen Verstandes bedienen (und sei die Weisheit des Überlieferten und der freundlichen Ratgeber noch so gut gemeint).

Das ist ja auch nicht einfach verkehrt, sondern hat sein Recht überall, wo Menschen über Menschen herrschen wollen. "So soll es unter euch nicht sein" - wir kennen das Wort Jesu. Das ist die eine Seite der Medaille. Die Theologen sagen: das ist das Gesetz. Und das ist nicht nichts - auch im Lichte des Evangeliums nicht nichts, sondern - wie Paulus es ausgedrückt hat - "heilig, gerecht und gut". Also denn. Aber es ist nur die eine Seite.

Unbeirrt behauptet der christliche Glaube, daß es auf der Kehrseite allen Kampfes um Selbstbestimmung und gegen die namhaften wie namenlosen Herrschaften, die ihre Hand auf unser Leben legen wollen, eine Bestimmung des Menschen gibt durch Gott. Und diese Bestimmung durch Gott erschließt uns einen Reichtum an Lebensmöglichkeiten, auf den wir von uns aus gar nicht kämen, ja diese Bestimmung durch Gott läßt uns erst den Menschen sein, der mit seiner menschlichen Bemühung um Selbstbestimmung nicht unglücklich wird.

Ich glaube, daß das wahr ist.

Ich glaube aber auch, daß jeder Mensch zu dieser Einsicht nur durch seine eigene Lebenserfahrung kommt. Die Bibel weiß das am besten - sonst enthielte sie nicht Geschichten wie gerade die des Petrus.

Es läßt sich zum Schluß auch nochmal anders sagen:

Gott geht mit uns keine Wegwerfbeziehungen ein, und er bie­tet uns auch solche nicht an - pflegeleicht und konsumier-bar: ex und hopp. Auch wenn sein Beziehungsangebot den Müh­seligen und Beladenen gilt und ein sanftes Joch, eine leich­te Last verspricht - so ganz ohne ist es doch nicht.

Angeboten wird die Freiheit eines Christenmenschen: ein "freier Herr aller Dinge und niemandem untertan" zu sein, "ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan". Nicht jeder wird sich auf diesen Weg einlassen wollen, der viel und intensiv zu leben verspricht: die christliche Vari­ante von "Selbstverwirklichung".

"Selbstverwirklichung" - das ist ja das Programm derer, die es leid sind, sich aufzuopfern für dies und das, jenen und diese, die sich aus all solchen Beziehungen befreien und was für sich selbst tun wollen.

Die Antwort unserer Verse aus dem Johannesevangelium ist klar: Im Verhältnis von Selbstverwirklichung und Opfer geht das Opfer vor.

Aber bevor wir in der Chor der Kritiker einstimmen, das habe man doch gleich gewußt und das sei doch bloßer Etiketten­schwindel mit der Selbstverwirklichung für Christen, wollen wir noch einen Moment zu den letzten Worten der Episode zu­rückblicken.

"Folge mir nach" - sagt Jesus der Gekreuzigte und Auferstan­dene. ER geht vor, ER war schon das Opfer, das ein für alle­mal genug ist. Nicht Petrus, nicht die Nachfolger brauchen das Opfer zu erbringen, das nötig ist, die Beziehung zu erhalten - und schon gar nicht auf Kosten ihrer Selbstverwirk­lichung.

 

Nachfolger sein heißt:

  • leben von freier Liebe, die angeboten und erwidert wird,
  • leben in einer Aufgabe, an der einer mit Leib und Seele erfahren kann, wer er ist und was seine Bestimmung ist: das ist eine Lebensgestalt, die sich vor keinem Versuch der Selbstverwirklichung, wie er aus eigenem unternommen wird, zu verstecken braucht.
  • Das ist Leben in einer Beziehung, die alles andere ist als eine Wegwerfbeziehung - im Gegenteil. Diese Beziehung hat viel eher eine Beziehung zum Aufheben.

Mag sein, daß in diesem beziehungsstarken Leben einer der Nachfolger in aller Freiheit sagt "Hier stehe ich, ich kann nicht anders" und den Kopf hinhält (oder irgend etwas ande­res) für seine Aufgabe oder auch einfach die Ehre seines lieben Freundes Jesus ... Aber Opfer sind gar nicht gefragt. Und ein Mensch, der sich einläßt auf eine Beziehung dieser Ernsthaftigkeit, der fragt dann auch nichts danach, ob ande­re für ein Opfer halten, was für ihn schlicht er selbst ist: er selbst, der von jener Liebe nicht lassen und seiner Be­stimmung zum Leben nicht untreu werden will - zu dem Leben, aus dem uns das Wort erreicht "Folge mir nach".

Amen.