Was heißt "geschickt zum Reich Gottes"?

Liebe Hausgemeinde!

Weder Gruben noch Nester - nichts, das müde Haupt hinzulegen; Tote Tote begraben lassen; ...nicht geschickt zum Reich Gottes!

Ganz schön steil abgefertigt werden die drei Möchtegern-Nachfolger, und das Evangelium gibt uns keine Auskunft, was die drei damit wohl an­gefangen haben. Angesichts ihrer Gutwilligkeit liegt es einem doch auf der Zunge zu sagen - in aller Ehrerbietigkeit vielleicht, aber denn doch: "Also, nun - lass aber mal die Kirche im Dorf!" Eine Redensart, die uns geläufig ist, die wir aber selten je beim Wort genommen haben. Tun wir doch das erst mal.

Wir sind daran gewöhnt, dass die Kirche im Dorf steht. Und dass sie da auch hingehört. Das ist vielleicht in Kurhessen-Waldeck noch einmal besonders so.

Die Kirche soll im Dorf bleiben. So sagen die Kirchenvorstände, so sagen's die Bürgermeister und der Sportverein und die Feuerwehr.

Dorf: Das sind die Menschen, die da beieinander wohnen, die sich kennen über dann Gartenzaun und vom Einkaufen und von der Schule, die sich ineinander verlieben und miteinander verheiraten und verwandt sind einer mit dem andern um werweißwieviele Ecken. Dorf: das ist dicke Freundschaft und herzhafte Abneigung, kleine Sticheleien oder seit Generationen vererbte Gegnerschaft hin und her zu denen aus dem Nachbardorf. Und sogar die epidemische Verstädterung kriegt das nur ganz langsam aufgeweicht.

Und Kirche: Der Gottesdienst sonntagsmorgens, der natürlich sein muß und zu dem man hingeht, in der Konfirmandenzeit oder zu Weihnachten oder wenn man das Bedürfnis hat oder weil man das schon immer so gemacht hat. Üb immer treue Kirchenferne. Und dass die Konfirmanden die Zehn Gebote lernen im Unterricht, gehört dazu, und dass der Frauen­kreis sich trifft, und dass es vom Chor ein Konzert gibt dann und wann und der Adventsbasar alle Jahre wieder und der Weltgebetstag. Und ein Pfarrhaus gehört dazu mit einem Pfarrer drin, ganz klar, der weint mit den Weinenden und fröhlich ist mit den Fröhlichen, der tauft und beerdigt und Trauungen hält nach Wunsch, der die Alten und Kranken besucht und für die Jugend was tut und der sich auch mal was Neues einfallen läßt - all das gehört dazu.

Die Kirche soll im Dorf bleiben: so halten es die Leute für selbstverständlich, und so haben wir's auch amtlich von unserer Synode spätestens seit den Erprobungsgesetzen vor ein paar  Jahren. Und auch wenn es nun noch einmal schwieriger zu werden scheint mit den Finanzen (und irgendwann auch mal wieder mit dem Theologennachwuchs) - auch am Knüll und in der Schwalm und am ehemaligen Zonenrand (und wo immer die Dörfer zusammenschrumpfen): So soll es bleiben (hat der Bischof neulich mal signalisiert); einfach da sein und mitleben sollen die Pfarrer, ortsfest und kundig der Alltagssorgen dort. Damit es weiter heißen kann "im Pfarrhaus brennt noch Licht". "Residenzpflicht" heißt das (weniger poetisch) im Dienstrecht, und damit die Pfarrer dieses gute Werk auch tun können, gab's sogar noch ein Sonderbauprogramm für Pfarrhäuser. Die stehen nun da. Womit hinreichend klar wäre: nicht bloß "lassen" tun wir "die Kirche im Dorf", sondern wir lassen uns das auch was kosten.

Unter diesen Umständen ist es nun weder ehrenrührig noch erstaunlich, dass uns bei diesen spröden Worten Jesu erst ein bißchen die Luft weg­bleibt und wir ihm dann gern auf die Schulter klopfen würden wie ein altgedienter Ortsvorsteher einem forschen Hilfspfarrrer "Nun lass aber mal..." (na, Sie wissen schon): Jaja, schon recht, aber alles mit Maßen - neue Besen kehren gut, aber die alten wissen, wo der Dreck sitzt. Es braucht doch alles seine Zeit, und überhaupt: ein vernünftiger Kompromiss ist doch das Beste für alle Seiten.

Aber dann tun wir's doch nicht: so widersprechen - schließlich ist er der Herr, der ja wissen muß wo's lang geht. Wer die Gruben der Füchse schon für unangemessene Bequemlichkeit hält, dürfte für Pfarrhäuser mit Residenzpflicht nur ein verständnisloses Kopfschütteln übrig haben, und die Vorstellung, Tote von Toten begraben zu lassen, ist weder mit dem kirch­lichen Herkommen noch mit dem Pfarrerdienstrecht so ohne weiteres zu vereinbaren.

Hierhin gerät man also, wenn man die Worte beim Wort nimmt: die Schrift und unsere Alltagssprache. Wie sollen wir nun weiterkommen? Nehmen wir ernst, dass es sich hier um das Evangelium handelt, stellt sich doch die Frage: Was ist eigentlich, seit Lukas es aufschrieb, damit passiert, so dass nun eine Kirche wie unsere diesen Worten begegnet - in der peinlichen Wahl zwischen beschämtem Schweigen und Widerrede? Wie wörtlich haben wir Jesus beim Wort zu nehmen - oder wie wenig wörtlich haben wir's gerade zu verstehen, damit es uns überhaupt trifft?

Wenn wir die berufsmäßigen Exegeten fragen, erhalten wir letztendlich die kurze Auskunft: was wir heute als bestürzende Rigorosität empfinden, war auch damals schon so. Und dann halten sie den Erklärungsvorschlag parat, es habe eben in der frühesten Zeiten des Christentums Menschen gegeben, für die sie uns den Ausdruck "radikale Wandercharismatiker" beibringen - also Menschen, die (in heutige Begriffe gefaßt) so eine Mischung von Hippie, Guru und Asozialen waren, ganz und gar ergriffen von der Über­zeugung, das Hereinbrechen des Reiches Gottes stehe unmittelbar bevor und auf die ganze Welt dieser Sekundärtugenden um Erwerb und Eigentum und Frustrationstoleranz müsse man keinen Pfifferling mehr geben. Also das die einen. Und neben denen habe es sog. "Sympathisanten" gegeben, die - seßhaft - in geordneten Lebensverhältnissen blieben, arbeiteten und Geld verdienten, aber zugleich darauf hofften, dass jene grundstürzende Änderung der Lebensverhältnisse eintrat, für die jene Wandercharismatiker leibhaft einstanden (und die sie deswegen auch unterstützten).

Soweit wir sehen, war die Zeit der "Wandercharismatiker" im wesentlichen vorbei, als Lukas sein Evangelium aufschrieb; die Christengemeinde, die er vor Augen hatte, war ein religiöser Verein unter vielen, die es Ende des 1. Jahrhunderts im Osten des Römischen Reiches gab - zumindest von außen betrachtet. Umso erstaunlicher ist es freilich, dass er diese Worte Jesu aufbewahrte, die eigentlich nur jenen extravaganten Figuren als Tages- und Lebenslosung gelten konnten. Annehmen müssen wir, dass er damit für spätere Zeiten einen Fingerzeig des Herrn retten wollte für eine christusgemäße Lebensform, deren Zeit nicht die seine war. Aber ob es die unsere ist? Nach all dem, was wir über uns selbst sagen können, müssen wir im Ernst erwägen: Es könnte sein, dass wir Christen, wie wir uns mit der "Kirche im Dorf" (aus vielleicht sehr guten Gründen) einrichten, gar nicht gemeint sind. Es könnte sein, dass dieser Ruf in die Nachfolge Jesu nur von Leuten wahrgenommen werden kann, denen es etwas kostet - die wissen, was es heißt, kein Dach über dem Kopf und kein Kissen darunter zu haben: Christen in den sog. Basisgemeinden Südamerikas oder auch in unserer südindischen Partnerkirche. Wir dürfen jedenfalls nicht davon ausgehen, dass das Evangelium, das im 1. Jahrhundert Christen in der Situation lebens­gefährlicher Verfolgung Gottes Nähe zusprach - dass das unbesehen auch uns in unserer solide privilegierten Kirche dasselbe zu sagen hat. Wenn überhaupt.

Aber immerhin steht es auch in unserer Bibel. Das gibt zu denken. Die Worte Jesu an die drei Beinahe-Nachfolger machen einen Strich durch deren Vorstellungen vom Nachfolger-Sein; sie machen - ausdrücklich oder unausdrücklich - sehr bestimmte Vorschriften. Wir könnten's uns nun leicht machen und sagen: hier spricht uns gar nicht das Evangelium an - Jesus hin oder her. Das ist "Gesetz", das buchstäblich und nicht 'im Geiste' zu befolgen geradezu in die Irre führen würde. Über den Buchstaben fühlen wir Evangelischen uns ja seit Luther einigermaßen erhaben und überlassen das den Katholischen. Das ist natürlich einen große Versuchung.

Denn wir leben - jeder für sich und wir insgesamt als Kirche - unter Bedingungen, die wir mögen, weil sie bequem und der Erfüllung des kirchlichenAuftrages (wie wir sie verstehen) günstig sind. Wenn Jesus es uns verwehrt, uns daran mit unserem Christsein zu binden - dürfen wir ausschließen, dass es sich um das Evangelium handelt, bloß weil es gebieterischen Tonfall hat? Fragen wird man das schon dürfen. Dietrich Bonhoeffer immerhin hat das den Aberglauben an die "billige Gnade" genannt.

Wir kommen mit unserem Wort zum Montag nicht zu Ende. Dafür ist es zu anspruchsvoll. Soweit wir die Absicht von Lukas verstehen, hatte er mit seinem "Bericht von den Geschichten, die unter uns geschehen sind", seinem Mäzen Theophilus "den sichern Grund der Lehre" geben wollen, in der er unterrichtet war in seinem Erwachsenentaufunterricht - so schreibt er selbst im Vorwort. Hinsichtlich der "Nachfolger Jesu" hat er ihm zu ver­stehen gegeben, dass es da zwei Typen gab: von den sozial-radikalen hat er Jesus selbst gern sprechen lassen, und die eher etablierten, unvermeidlich kompromißgeneigten haben es ihm ermöglicht, das alles aufzuschreiben. Das ist ja heute ebensowenig vorbei wie das andere: die einen stehen in der Gefahr, das Evangelium an das Gesetz des Fortschritts zu verraten, dem sie vermeintlich selbstlos dienen - und die anderen verkennen nur zu leicht die Gewalt der Verhältnisse, die zu begraben sie nicht fertig werden, bevor sie wirklich das Reich Gottes verkündigen.

Das ist schon eine Auskunft, für damals. Aber was bedeutet es für die Nachfolge Jesu, zu der zu unserer Zeit eben wir gerufen sind? Ich denke, dass wir die Antwort auf Jesu gebieterischen Ruf - so oder so - in Gottes Ohr sagen müssen, der dem Sünder gnädig ist. Dabei können wir die Kirche getrost im Dorf lassen. Wir hatten damit angefangen, weil's ohnehin nicht anders ist. Wann es Zeit ist, die Hand an den Pflug zu legen, wird uns schon gesagt werden. Dann aber sollten wir nicht mehr zurücksehen. Amen.