Offener Brief an eine Nachgeborene

 

Was ist in den letzten fünf Jahrzehnten passiert mit dem "Politischen": dem Gedachten, dem Vermeinten, dem Passierten, und dem neuerlich Gedachten und Vermeinten? Das "lässt sich nur historisch erklären" (Lübbe), solange das kommunikative Gdächtnis reicht (A. und J. Assmann). Mit allem Vorläufigkeitsbewusstsein, aber einstweilen diskutabel.

 

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Frithard Scholz

Zum „Begriff des ‚Politischen‘“ – „1968“ und inzwischen…

Brief an eine Nachgeborene

 

Liebe M.!

 

Angefangen hat es, nicht wahr, mit einem Fach-Gespräch übers „Politische Nachtgebet“, jener liturgischen Revolution, überkonfessionell wie sie unwillkürlich war, die das Duo Sölle/Steffensky landesweit zu einer ‚Marke‘ machte: für die einen weit über Köln hinaus gesuchtes Medium zum Ausdruck religiösen Protests gegen die „Verhältnisse“, bloßes Aufreger-Thema für die anderen. Was sich durch Analyse aus 50 Jahren Abstand für heutige kirchliche Praxis daraus lernen lasse. Und so. Ich fand dabei: Das „Politische“ ist auch nicht mehr, was es einst mal war. Michael Rutschky jedenfalls hat Wahrnehmungs- und Motivationspotential der adoleszenten Zeitgenossen von „1968“ unnachahmlich ausgedrückt:

„Das waren schöne Zeiten, damals. Da war die Welt noch in Ordnung. Da lag man, 20 Jahre alt, halbnackt im Freibad, ließ sich von der Sonne bescheinen, rauchte Peter Stuyvesant, schaute die Mädchen an, las – und wußte ohne jede Anfechtung durch einen Zweifel, daß die Welt vollkommen in Unordnung ist.”[1]

Aber das „1968“-Dabeigewesensein rechtfertigt nicht den Besserwissi-Gestus des eine Generation Älteren. Auch „Zeitzeugen“-schaft stellt kein ruhiges Gewissen sicher, seit Carl-Friedrich von Weizsäcker ernüchternd resümierte:

„Natürlich ist der Zeitzeuge in genau derselben Lage wie das historische Dokument. Auch er kann nur verstanden werden, wenn er etwa auf dem ihm verfügbaren Niveau befragt wird. Auch er hat, zumal wenn er an den Handlungen aktiv teilgenommen hat, fast immer etwas zu verbergen, sei es vor dem Frager, sei es vor seinem eigenen bewußten Erinnerungsvermögen. Wenn ich einen Historiker sagen höre: ‚Zeitzeugen lügen‘, so fürchte ich, dass er weitgehend recht hat. Nur sind Dokumente nicht besser. Auch sie lügen. Und sie sind insofern in einer schlechteren Lage als der lebende Zeitzeuge, als sie sich nicht wehren können, wenn der Historiker sie falsch interpretiert. Schließlich ist der Historiker selbst oft die Quelle des Irrtums. Sein Standesethos gebietet ihm, nicht bewusst zu lügen. Da er aber genau dieselben Motive zur Vereinfachung, zur Stilisierung, zur Unwahrheit angesichts unerwünschter Befunde hat, ist für ihn die Versuchung der Selbsttäuschung sogar besonders groß. Das Motiv der Selbsttäuschung kann dabei die politische Sympathie oder Antipathie sein, aber auch der erhoffte Erfolg einer These in der Zunft oder in der Öffentlichkeit und die Verteidigung eines einmal begangenen Irrtums.”[2]

Vorsicht ist also geboten beim Schreiben und beim Lesen der folgenden Rekapitulation von 50 Jahren Umgang mit dem „Politischen“. Weit entfernt vom Ranke’schen Anspruch darzustellen, „wie es eigentlich gewesen“ sei, folgt sie der Subjektivität des als erlebt Erinnerten, mit aller Modifikation durch den Wandel der zugewachsenen Lebensumstände. Dies narrativ-reflexive Verfahren wirft zwar die grundsätzliche hermeneutische Frage auf, inwieweit je Nicht-Zeitzeugen chronologisch Früheres angemessen versprachlichen können, ja worin überhaupt das Maß jener Angemessenheit zu erkennen sei. Aber das soll hier ‚übersprungen‘ bleiben.

 

Ums Ganze ging es, drunter ging‘s nicht

 

Vom Pariser ‚Mai 1968‘ in Erinnerung geblieben ist die Parole „seid realistisch – verlangt das Unmögliche“ – jener anarchistische (!) Slogan pointierte das Gegenprogramm zur (Bismarck zugeschriebenen) Maxime „Politik ist die Kunst des Möglichen“. Der Slogan deutet auf ein radikal kontrafaktisches Verständnis von Wirklichkeit, das dem bloß Vorfindlichen das Zum-Vorschein-Kommen seiner Wahrheit abtrotzen will. Abtrotzen[3] aber tat not, weil die „Wahrheit“ des Vorfindlichen, immer Komparativischen, Bedingungsweisen, immer nur als von Herrschaftsinteressen (verkörpert, anpranger- und bekämpfbar in „Herrschenden“, dem System, dem establishment) verschleiert ‚zu greifen‘ ist. (Die Rücksichtnahme aufs ‚Bedingungsweise‘ ging allenfalls als taktisches Zugeständnis im Interesse der Verwirklichung der „Wahrheit“ durch…)

Dieses Abtrotzenwollen galt als das ‚wahre Politische‘, als die (umständehalber unvermeidlich ideologiekritische!) gedankliche Analyse des Vorfindlichen, die aber als Analyse erst durch in diesem Sinne kritikgeleitetes Handeln vollständig werde: das meinte die endemische Rede von der Einheit von Theorie-und-Praxis. Das war eine Politik im Sinne des – grundbegrifflich notwendig: Einen – „Wahren“, und deswegen in the long run hinsichtlich Analyse ebenso alternativenlos wie hinsichtlich Handeln kompromisslos; immerhin mussten auch die adhoc-„politischen“ actions aus dem kanonischen Fundus des wissenschaftlichen Historischen Materialismus „abgeleitet“ werden können, und wurden’s bei Bedarf auch (notfalls bei Habermas, dem zugesonnen war, ‚das alles‘ wissenschaftstheoretisch á jour gebracht zu haben). Die Handlungsmotivation der in diesem Sinne „politisch Engagierten“ zehrte von und wurde öffentlich dargestellt als: Leiden, zumeist stellvertretendes Leiden, an der intuitiv als unverdient empfundenen Beeinträchtigung von Lebenschancen Einzelner (in allen nur denkbaren Graden: von den in Vietnam napalm-verbrannten Kindern bis zu den ausgebeuteten Lehrlingen in der – provokativer DDR-Jargon – Beh-Err-Deh). Die Fähigkeit zur Wahrnehmung von derlei Leiden verdankte sich der Rezeption von Schriften beispielsweise von Herbert Marcuse[4], die als prophetisch-desillusionierend angehimmelt waren.

 

Ein Fadenriss in „Ganzen“, und wie sich beides verläpperte

 

Es herrschte eine totalisierende Grundeinstellung, aber es gab einen sensiblen ‚Fadenriss‘ – der verlief übrigens nicht entlang der massenmedial hochgejubelten Frage der „Gewalt“-Anwendung („gegen Sachen“‚ naja, geht schon mal, BILDZeitungs-Auslieferungswagen anzuzünden, aber „gegen Personen“? nee, doch eher nicht… / s. auch Anm 1): Die A sagten „alles ist politisch“, die B fügten hinzu „…aber Politik ist nicht alles“ – eine konzeptionelle reservatio nicht nur mentalis, die weithin gar nichts zu tun hatte mit dem von theologisch imprägnierten Mitdiskutanten hantierten Unterschied zwischen Letztem und Vorletztem… Die B haben darauf Wert gelegt, dem Einzelnen Momente der „privaten“ Lebensführung vorzubehalten, die nicht der Aufsicht irgendeines Orwellschen „Großen Bruders“ (oder dessen abstrakterer Variante: dem endemischen Zwang zur verallgemeinerungsfähigen Begründung auch des ‚ganz Individuellen‘) unterlägen: z.B. den Sex, die Vorlieben bei der Bestückung des Kühlschranks, Auswahl und Zustand der eigenen Klamotten undund…

Der Paradigmenstreit zwischen den A und den B galt der Frage, ob eigentlich die darin wirksame Leitdifferenz „öffentlich/privat“ überhaupt als legitim zu betrachten sei. Und als Grenzkriterium für die Daseins-Parzelle „das Politische“ herhalten dürfe.

Zur Ernüchterung von leicht überschießenden feuilletonistischen Interpretationen eingestreut der stumme Hintergrund der Statistik[5]: er könnte erlauben, an Brechts „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ zu erinnern. War die „68er Protestbewegung“ mit ihrer Entgrenzung des „Politischen“ ein Luxusphänomen [„…verlangt das Unmögliche!“ – s.o.]?? Jedenfalls zeigt sich die wirtschaftliche Saturiertheit der BRD in einem nachkriegshistorischen Tiefststand der Arbeitslosenzahlen von 1962 bis 1970 (um 150.000) – von 1970 bis 1990 stiegen die steil und kontinuierlich auf 2,2 Mio.

Der Streit um jene Leitdifferenz ist hier nicht en détail nachzuzeichnen – er erledigte sich im Zuge der Jahre 1972ff eher ‚in aller Stille‘: Der jahrelang in der „Bewegung“ geltende Imperativ des ‚Ausdiskutierens‘ verdunstete einerseits in den Berufseinstiegen der inzwischen examinierten Demo-Transparente-Träger*innen, die sich auf den „Langen Marsch durch die Institutionen“ aufmachten (wer schon mal einen Pflasterstein geworfen hatte, konnte sich vorstellen, auch mal Außenminister zu werden; frau wurde Lehrerin, um später mal im Kultusministerium die Lehrplanziele regeln zu können (zum Beispiel: Schüler*innen zu ‚liebes-, spiel- und arbeitsfähigen Subjekten heranwachsen lassen‘). Andererseits in den Ermüdungs-Auswegen der „Dezision“[6] – mit dem Ergebnis der sowohl organisatorischen Verfestigung der fluiden ‚öffentlichen‘ „Bewegung“ als auch deren Zersplitterung in mehr oder minder legale „Parteien“ (von DKP bis KPD-AO etcetc) und dem Ausbruch der Depravation des „wahre-Politik“-Idealismus zum Individual-Terrorismus der RAF.

 

Das „Politische“ im symbolischen Klimawandel

 

Aus dem (hier so genannten) Prozess der Selbst-Erledigung jenes Streits ist eine – ‚gefühlt‘ ab 1990 historisch emergente – sehr andersartige Auffassung „des Politischen“ hervorgegangen. Diesem Transformationsprozess sind im Rückblick allerlei wesentliche Elemente abzulesen, die ihn ‚historisch vermittelt‘ haben (von „Vermittlung“ redet man gerne ansprüchlich, wenn man nicht recht sagen kann oder mag, was davon ermöglichende Randbedingung, verursachender Faktor, Anschlussstelle fürs gegenwärtig Wirksame ist J). Benannt seien, immer im Vergleich zu „den 68ern“:

  • Als Erstes und sehr Grundsätzliches: Á la longue deutlich angestiegen ist die Akzeptanz für die gar nicht so neue These von der technokratischen Grundverfassung der Öffentlichen Dinge[7] (für deren menschenlebensverträgliche Ordnung im einzelnen man ja die Experten für „Politik“ habe [und turnusmäßig wähle]).

  • Mag sein, dass die massenmedial publizierten, 1977 an ihr gewaltsames Ende geratenen Angriffe der RAF[8] auf die öffentliche Ordnung der BRD diese Kehre ausgelöst haben. Aber jedenfalls ist eine Rückwendung des ‚Lebensgefühls der Bevölkerung‘ auf das (politikwissenschaftlich ausgedrückt) Gewaltmonopol des Staates festzustellen – ein Zivilisierungsprozess aus kollektiver Ermüdung? (Allerdings hatte der Sozialpsychologe Peter Brückner schon 1966 die These vertreten, dass von den Idealen der bürgerlichen Französischen Revolution unter den Kleinbürgern der Wirtschaftswunder-BRD die „politische“ Hoffnung sich nicht mehr auf „Brüderlichkeit“, sondern „Sicherheit“ richte[9])

  • Der positionelle Antagonismus von „System“ und „Protestbewegung“ (als deren ‚Vorstufe‘ entwickelte sich zu Zeiten der ersten Großen Koalition im Deutschen Bundestag 1966-1969 in die sog. außerparlamentarische Opposition [=APO]) ist transformiert in die Kultivierung des ‚Gegenexperten’tums. Und doch steckte und steckt darin ein hintergründiger Konsens zum rationalen Austrag auch fundamentaler Kontroversen, kompromiss-bildend oder in Tolerierung hartnäckiger Differenzen. – Aber bei diesem Habitus scheint es nicht geblieben. Seit den 2010er Jahren unterwandert, übernational auffällig, ein gesellschaftliches Phänomen, vorläufig hilflos als „Populismus“[10] bezeichnet, jene Konsens-Unterstellung: durch einspruchsresistent vorgebrachte Zweifel an der Legitimation institutionell-politischer Repräsentanten durch den sog. ‚Volkswillen‘ – Auseinanderfallen der gesellschaftlichen „Logiken des Allgemeinen“ bzw. des „Besonderen“[11]. Im sog. Populismus verkörpert sich die Depravation der Orientierung am Einen Wahren – insofern dieses nicht mehr als regulative Idee des Allgemeinen, sondern als verallgemeinerungsbedürftiger Besitzstands-Anspruch aufgefasst wird und dessen unverzügliche Realisierung eingefordert wird.

Und die faktische Instrumentalisierung massenmedialer Kommunikation durch die „Trump“-Administration der USA zur mentalen Etablierung der Kategorie „alternative facts“ seit 2017 trägt das Ihre bei zur Zersetzung der Zustimmungsbereitschaft für öffentliche rationale Kritik.

Aber ich greife vor.

 

Das „Politische“, eine „wirkliche Bewegung“, noch anders als von Marx gedacht

 

Ich schreibe 2019. Inzwischen ist ‚was passiert‘. Zunächst was auf Papier. 1972 publizierte der „Club of Rome“ seinen ersten Bericht „Die Grenzen des Wachstums“, der die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Prozess der Selbstgefährdung der Menschheit durch unkontrollierten Verbrauch der naturalen Ressourcen des Planeten Erde richtete[12]. (Aber davon kam auch in der bundesrepublikanischen Lebenswelt etwas an: die von der Brandt-Bundesregierung angeordneten vier „autofreien Sonntage“[13] als demonstrative Reaktion auf die erste „Ölpreiskrise“[14].) Das war der Startschuss für die „Umweltschutz“-Bewegung, die ‚öffentlichkeitstechnisch‘ zunächst nur von den Erfahrungen der „68er Protestbewegung“ zehrte und 1980 in die Gründung der Partei „Die GRÜNEN“[15] mündete. – Die „Umweltschutz“-Bewegung eignete sich zu einem nicht identifizierbaren Zeitpunkt in den 1980er Jahren den Slogan „think globally, act locally“ an – ein an sich unerwähnenswerter Vorgang, wenn er nicht (neben der ans Populistische rührenden Form, das Erbe des Theorie/Praxis-Einheits-Postulats der „68er Protestbewegung“ anzutreten!) auf die stillschweigende ‚Beerdigung‘ des ‚Die oder Wir‘-Modells jener Protestbewegung hinweisen würde: keine Berührungsängste mehr vor den ‚ganz Anderen‘! Immerhin stammt dieser Slogan von den bestgehassten Feinden, aus dem Kontext einer PR-Strategie des internationalen industriellen Marketing[16].

‚In aller Stille‘ mit-‚beerdigt‘ war seit Ende der 1970er Jahre die Exklusivität des Einheits-Paradigmas des „Politischen“, dem die „68er“ gefrönt haben. Zwar hatten die auf „politische Beteiligung“ durch turnusmäßiges „Wählen“ konditionierten Bürger von der Protestbewegung gelernt „Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt“, und hatten, weit über die Milieugrenzen der eh als aufmüpfig verschrieenen Studentenschaft hinaus, den Mut zu auch physischem Einsatz im Widerstand gegen „technokratische“ Entscheidungen des ‚Systems‘ gefasst. Aber die ungesuchten Gelegenheiten zur in diesem Sinne konfliktären „politischen Beteiligung“ wurden bunter.

Denn es ‚passierten‘ Anlässe genug: Der Bau der ‚Startbahn West‘ am Frankfurter Flughafen, des AKW Brokdorf, des Atommüll-Lagers Gorleben, der GAU von Tschernobyl, Nine-Eleven und was daraus folgte – undund. Der parlamentarisch-demokratisch-rechtsstaatlich verfasste Tanker“[17] bewegte sich, aufs Sicherheits-Postulat fixiert, mehr denn gemächlich – und um ihn herum kreisten die von „mal schnell die Welt retten“-citoyens besetzten Boote („Greenpeace“ als zeitgemäße Metapher „politischen“ Handelns). – Gleichsam quer dazu die mal spektakulären, oft eher mikrologischen Initiativen der „Frauenbewegung“ (ohne die es weder die Langfrist-Wirksamkeit von UN-Behindertenrechtskonvention noch das gender mainstreaming gäbe). Und darüber hinaus: Das Ende des Kalten Krieges und die Abwicklung der DDR durch die BRD(-„Treuhand“). Die Wieder-Verwicklung ‚der Deutschen‘ ins Kriegführen samt dem Erleben von jungen PTBS- Veteranen. Die Geiselnahme der „Politik“ durch die globalisierte Finanz-Ökonomie. Die gewollte Verdichtung der Europäischen Union (Maastricht, Lissabon, „Euro“) und das aktuell drohende ‚Platzen der Blase‘ des Gutgemeinten an der Wiederkehr des ‚Nationen‘-Partikularismus; die ‚Hautnah-Begegnung‘ mit den Folgen der „Globalisierung“ (ein kleiner Teil der weltweit kursierenden Flüchtlingsströme ante portas). Die Zersetzung des deutschen ‚Parteiensystems‘. „Wer soll das alles ändern?“ hatte schon 1980 ein Buchtitel[18] rhetorisch herumgefragt. Die Gründe, etwas „politisch“ zu finden, waren ‚plural‘ geworden – um nicht gleich zu sagen: arbiträr.

Und unter all dem die Revolution der Kommunikationstechnik durch die Omnipräsenz des Internet, der Smartphones, der sog. Sozialen Medien…

 

Was ist aus „dem Politischen“ über all das hin geworden?

 

  • Was aus der Leitdifferenz „öffentlich/privat“?

 

Die ist gegenwärtig noch wiedererkennbar, wenngleich mit eigentümlichen Verzerrungen. Das von der 68er Protestbewegung provokativ demonstrierte Misstrauen der „Basis“ gegenüber dem „System“ ist geblieben, aber speziell das (auch grundgesetzlich und BVerfG-urteilsförmig gesicherte) Defensiv-Interesse am Schutz von Privatheit vor der als aufsichtlich verdächtigten Dominanz öffentlicher Instanzen ist seit 1990 in ein nachdenkenswertes Zwielicht geraten.

Für 1987 – damals warst Du 12 Jahre alt und allenfalls sujet von Fomularkreuzchen Deiner Eltern in der Zeile ‚Kinder im gemeinsamen Haushalt‘ oder so – war eine „Volkszählung“ in der BRD angesetzt worden. Sie geriet im Vorfeld zu einem ungewöhnlichen „Politikum“[19], in dessen Zusammenhang von den Gegner*innen der als Überwachung diskriminierten Maßnahme sogar – ultimatives Mittel J - Bibelzitate (2. Sam 24, 10ff) geltend gemacht wurden.

Aber ohne dass jenes Misstrauen – „Datenschutz“ bleibt ein Aufreger-Thema in den Massenmedien – grundsätzlich (auch denkbar!!) weggeschmolzen wäre, gibt es gegenwärtig, von der internet-Kommunikation und v.a. den sog. Neuen Sozialen Medien gestützt und gelockt, einen verbreiteten Hang zur öffentlichen Selbstinszenierung von Privatem. (Unter den 1987 noch nicht vorstellbaren Bedingungen des Internet sind es inzwischen nicht nur die ‚öffentlichen Instanzen‘ [s.o.], sondern auch marktbeherrschende privatwirtschaftlich interessierte Agenten, die die Differenz „öffentlich/privat“ defacto perforieren: wer immer Waren im Internet erwirbt, ver„öffentlich“t „Privates“ und nimmt die Folgen dieser Ent-Grenzung – zumeist unbedacht – achselzuckend [„was soll ich machen…?“] in Kauf.)

Über die soziale Brücke der Selbstinszenierung wandern in jüngster Zeit bislang ins Private gehörige Lebensausdrücke auf die Seite des Öffentlichen…: Wie und was ich esse – omnivor, vegan, paleo, fruitarisch etcetc – wird via Etablierung der Sozialform ‚Lebensstilbewegung‘ u.U. zum „Politikum“. Und seit der globalen Resonanz auf „Greta Thunberg“ gerät auch der smalltalk am kleinbürgerlichen Kaffeetisch zum normativ aufgeladenen Beichtstuhl: wie hole ich die Frühstücksbrötchen? welches Urlaubsziel ziehe ich überhaupt in Betracht? Wo ich doch, wie ‚alle Welt‘, die Wahl meiner Mobilitäts-Technik ausrichten muss eingedenk der Menschen auf den vom definitiven Untergang bedrohten Malediven (um nur dies von vielen Beispielen perniziöser Klimawandel-Folgen der Gedankenlosigkeit von Nordhalbkugel-Industriegesellschaftler*innen zu nennen).

 

  • Und was aus dem Ideal des Einen Wahren?

 

Es hätte nicht der Distanz eines mehr als halben Lebensalters bedurft, um rückblickend festzustellen: Dies Ideal der „68er“ Jahre gehörte in eine Weltsicht, die die Differenz von Moralität und Legalität (um es in der Spreche von Kant und Hegel auszudrücken) meinte einplanieren zu dürfen – das aber (wie Leser seit Hegel hätten wissen können[20]) hatte nicht gut gehen können. Aber all das ‚Passierende‘ hat dafür gesorgt, dass unter den reflecteurs der (lt. Jan Assmann gewaltaffine[21]) Politische ‚Monotheismus‘ des Einen Wahren zumindest in den ‚westlich‘ säkularisierten Ländern zur Dominanz des Politischen Liberalismus[22] mutiert ist.

In der mainstream-Denke gibt es keinerlei Berührungsängste mehr vor dem Deskriptionsanspruch des Terminus „Pluralismus“[23]: das „Politische“ gilt nicht mehr als ganzheitliche Lebensform, ja alternativloser Lebensausdruck, sondern wird argumentativ als teilsystemisches „Medium“ hantiert[24]. Die Orientierung am „Ideal des Einen Wahren“ gilt nicht mehr als „politisch“, sondern als in eher problematischer Weise ‚von gestern‘, vorneuzeitlich; dem Verständnis des Kategorischen Imperativ Kants wird Konsonanz seiner Adressaten nicht mehr in materialen „Idealen“, sondern lediglich im prozeduralen Ideal der unbeschränkten Deliberation unterlegt.

Dieses switching in der Wahrnehmung des (auch auf der gleichsam virtuellen Ebene der Orientierung am „Idealen“ einer Einheit entkleideten) Ganzen – das Da-sein-Dürfen von Vielfalt in der Gesellschaft ist selber „alternativlos“ – verdankt sich ironischerweise der Wahrnehmung von deutlicherer Verkörperung von religiös konkurrierenden „Wahrheiten“ in auch ‚säkularisierten‘ westlichen Gesellschaften. Und da ist nicht nur an die ersichtlich gewalttätigen Islamisten von Nine-Eleven  gedacht, sondern auch an die bisweilen gewaltbereiten, öfters wahl-entscheidenden politischen Protestantismen in den USA. Dieser Umstand hat in Soziologie, Politischer Philosophie und umliegenden Wissenschaftsdisziplinen seit der Jahrtausendwende zu einer – zumindest in einschlägigen ‚Fachkreisen‘ – beachtlichen Kontroverse um die „Legitimität religiöser Argumente in einer pluralistischen Gesellschaft“[25] geführt, deren Rezeption und prozedurale „Kleinarbeitung“ (Luhmann) durch die Institutionen des ‚nur noch‘ teilsystemisch „Politischen“ noch nicht abgeschlossen ist. (Dabei werden die theologischen Reflexionseliten des kirchlich verfassten Christentums hellhörig zu beachten haben: diese Kontroverse re-konsolidiert die – schon aus dem 18. Jh. geläufige – Zuweisung des „Religiösen“ in die Dimension des „Privaten“, individuell oder gruppenkollektiv Vermeinten, in Abgrenzung vom allein „öffentlichkeits“-fähigen, weil ‚weltanschaulich neutralen‘ Leit-Diskurs des Gemeinwesens[26].)

 

Das „Politische“- revisited

 

Vor ‚gefühlt‘ gar nicht so Langem meinte Ulrich Beck „Die Erfindung des Politischen“ neu ausrufen zu sollen[27]. Inwieweit dessen argumentative Aufstellungen dem ‚Passierten‘ nachkommen, wäre gesondert zu prüfen, aber nicht mehr hier (immerhin ist bemerklich, ‚wie schnell die Zeit vergeht‘: der nicht nur chronologische Abstand des Publikationszeitpunkts 1993 zu 2019 ist nicht anders als der zur Hoch-Zeit des „Politischen Nachtgebets“ und dessen Gegenwartskontext).

Beck diagnostiziert Zerfall, Indifferentisierung, Versteinerung der mit der Funktionsweise verfasster Institutionen identifizierten „Politik“ – und zugleich deren faktische Unterwanderung durch „Subpolitiken“, in deren Kollektivgestalt die „Individuen in die Gesellschaft zurück[kehren]“ (149). Seine Empfehlung, anstelle „regelgeleiteter“ eine „regelverändernde Politik“ zu „erfinden“, „Foren und Formen konsensstiftender Zusammenarbeit zwischen Industrie, Politik, Wissenschaft und Bevölkerung“ (190) zu entwickeln und zu kultivieren, werden auch die Kirchen teilnehmend zu beobachten haben – die ersten gesellschaftlichen Großmanöver dieses Typs (z.B. ‚Stuttgart 21‘, ‚Ausstieg aus der Atomenergie‘) sind hinsichtlich Konsensstiftung immer noch „nach oben offen“ wie redensartlich die „Richter-Skala“. Freilich will sich der Politik-Erfinder Beck nicht mit dem Anspruch prozeduraler Punktlandung im Einen Wahren verheben, er kennt noch die Skepsis von Luhmanns Bösem Blick auf die Idealisierungen seines Kontrahenten Habermas[28] und konstatiert prosaisch: „Verhandlungsforen sind beileibe keine Konsensproduktionsmaschinerien mit Erfolgsgarantie Sie können weder Konflikte noch unkontrollierte Gefahren industrieller Expansion aus der Welt schaffen. Sie können aber auf Vermeidung drängen und auf eine Symmetrie unvermeidbarer Opfer hinwirken“ (191) – und plädiert hilfsweise für die Einübung in eine „öffentliche Erfahrungsdiskursivität, die Ziele und Wege, Folgen und Gefahren kontrovers in den Blick hebt“, der „eher eine Art Fragewissenschaft zugrunde“ liege (192). (Noch einmal fast 25 Jahre später hat sich Ulrich Beck zu einem neuerlichen Weckruf an ‚die Politik‘ gedrängt gesehen[29]. Ich komme am Schluss darauf zurück.)

Das „Politische“ nicht mehr das Eine Wahre, sondern das kontrovers Fragliche[30] also – wiederentdeckte Herausforderung auch für die „Politische Theologie“.

 

…und was sagt die „Theologie“?

 

Sosehr das „Politische“ heutzutage anderes ist, als was es einst mal war, sosehr auch die „Politische Theologie“. Auch in der Reflexionsabteilung der Evangelischen Kirche sind seit „1968“ Umarrangements vorgenommen worden: An der Tür zur Abteilung steht nicht mehr „Politische…“, sondern „Öffentliche Theologie“; nachmalige EKD-Ratsvorsitzende haben mit Publikationen dazu beigetragen[31].

Die Agenda folgt nicht mehr dem Angezogensein durch die Vision des „neuen Himmels, der neuen Erde“ samt der „heiligen Stadt, von Gott aus dem Himmel herab“ (in der „kein Tempel“ mehr vorgesehen ist; Apc 211f.2222). sondern der bestgemeinten Empfehlung, sich im Exil einzurichten: „Suchet der Stadt Bestes[…]und betet für sie zum Herrn, denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl“ (Jer 297). Und es gibt einen Paradigmenwechsel in der Selbstwahrnehmung der gesellschaftlichen Funktion der Kirche: An die Stelle der radikalen Relativierung des Vorfindlichen durch die Hantierung der Unterscheidung Letztes/Vorletztes ist die Relationierung der Kirche mit dem gegebenen Gemeinwesen getreten.

Eine Modifikation des Habitus, deren Größenordnung an die sog. ‚Kontinentalverschiebung‘ in geologischer Frühzeit gemahnt – und die sich im auch ‚Kleingedruckten‘ ausdrücken wird. Wer sich mit Administrationen auskennt, wird sich vorstellen können: Wenn beispielsweise ein Amoklauf im Olympiazentrum München 9 Tote hinterlässt (wie am 22.07.2016), braucht ‚die Kirche‘ gar nicht erst darauf zu warten, bis der Krisenstab in der Staatskanzlei seine GroßKatastrophen-Checkliste (von ‚Großeinsatz aller Polizeikräfte [wo bleibt die Bundeswehr?]‘ über ‚bis auf Weiteres Aussetzen des ÖPNV‘ bis ‚unverzügliche Kontaktaufnahme zum Kardinal, wg. ökumenischer Trauerfeier‘) abgearbeitet hat – der Kardinal ‚weiß schon‘ und nimmt von sich aus Kontakt zum Landesbischof (wie medienwirksam: der Ratsvorsitzende…) auf. Nur imaginiert, aber bestimmt nicht nur so aus der Luft gegriffen.

Der Habitus der Beck’schen Vision einer „Fragewissenschaft“ hat den Impuls gefühlten Berufenseins zu stellvertretender prophetischer „Weisung“ überformt. Statt der Flammenschrift „Große Weigerung!!!“ (Marcuse) an der Wand steht jetzt auf Flipcharts ein ‚Leitbild‘-Satz: Solidarität der von „Staat“ oder „Kirche“ berufenen Amtsträger im Dienste an der Zivilgesellschaft (auch so ein Begriff, der in den 50 Jahren seit „1968“ neu zu lernen war)! „Öffentliche Theologie“ in Deutschland[32] folgt, im Unterschied zu ihrem Vorgänger-Format „Politische…“, Vermeidungsimperativen: nicht belehren, nicht verbieten, nicht das Jüngste Gericht vorwegnehmen[33]. Sprecherin – inzwischen nur: „der Kirche“ – einer (zugegeben: besonders traditionsstarken) der NGO’s im Kontinuum der „Zivilgesellschaft“, tut sie gut daran, kein Rede-Vorrecht zu reklamieren.

Kaum ein Versuch historischen Rettungseingriffs, der ohne Kollateralschäden[34] abgeht. „Wo bleibt die Theologie?“ fragte jüngst Jürgen Moltmann, ‚Gründungsmitglied‘ der „1968“er Bewegung „Neue Politische Theologie“, in einem Zwischenruf[35]. Der auch erkennen lässt, wie und in welche Differenzierungen theologischer Spreche sich ‚Passiertes‘durchgeprägt hat. Moltmann fasst seine Defizit-Diagnose in die These „Ohne eine Eschatologie des Reiches Gottes keine ‚Öffentliche Theologie‘ der Kirche!“ (ebd.). Dem Insistieren des Theologen der Hoffnung auf der beharrlichen Vaterunser-Bitte ums Kommen dieses „Reiches“ geht es vor wie nach um die kosmische Universalität der Verheißung des Evangeliums – wider alle Tendenzen zur Privatisierung des erhofften, lebenserneuernden Heils. Nur, wie lässt sich das artikulieren?

Terminologisch nahe liegen könnte die Orientierung an Erik Petersons Modell „eschatologischer Öffentlichkeit“[36] der „Kirche“. Indes ist dies Modell stärker mit der Verdinglichung apokalyptischer Redeweisen der Bibel verflochten als dass es „öffentlich“ resonanzfähig wäre über die ekklesiale Nische der Michaelsbruderschaft hinaus. Immerhin ist der mainstream der deutschsprachigen Evangelischen (‚dogmatischen‘) Theologie ins von Schleiermacher gebahnte Flussbett eingeschwenkt; theologische Grund-Sätze, die auf „öffentliche“ Resonanz setzen, werden das zu berücksichtigen haben. – Ob sog. deutungstheoretische Varianten vergegenwärtigenden Redens vom „Reich Gottes“ die aufs Kosmische ausgreifenden Erwartungen zur Sprache bringen können, ist fast ‚Geschmackssache‘ – z.B. der Spitzensatz „…das Reich Gottes gibt es nur durch Jesu Geschick hindurch – Gottes Kraft wirkt nun ohne Ende in der Geschichte, also für alle Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten“[37]. – Die von Friedrich-Wilhelm Marquardts umstrittener Habil-Schrift[38] ausgelöste Barth-Renaissance der 1970er Jahre hatte für ein Jahrzehnt in Deutschland Bereitschaft generiert zu neuerlicher theologischer Einstimmung in eine Denke, die konfessorische Formulierungen wagt wie die, dass wir „im Großen und im Kleinen, im Ganzen und im Einzelnen, in der Totalität [unserer] Existenz als Menschen leben [dürfen und müssen] mit der Alle und Alles nicht nur neu beleuchtenden, sondern real verändernden Tatsache, daß Gott ist“[39]: Zurückstufung der Subjektivität des Menschen zugunsten der Subjektivität Gottes. Inzwischen dominiert wieder die gesellschaftliche Funktionalisierung ‚religiöser Vorstellungen‘, und nach menschlichem Ermessen ist die Repristination von ‚dogmatischem Realismus‘ auf nähere Sicht nicht zu erwarten. – Zumal man/frau nicht ‚mal so beschließen‘ kann, eine „Theologie“ um eine konfessorische Existenzaussage wie die zitierte aus Barths „Dogmatik“ zu zirkeln; es wäre eine contradictio in adiecto, nämlich ohne Respekt vor dem existenziell Not-Wendigen derer, die in zwischenzeitlich noch weiteren Varianten „Politischer Theologie“ sich aussprechen. Denn die „befreiungs-“, „feministisch“-, auch „ökologisch-“theologisch argumentieren, sind zwar für den analytischen Blick sozial typisierbar, verkörpern aber zugleich eine je individuelle Lebenslage: „sie müssen…“ (um’s mit Hermann Kutters legendärem Titel zur formulieren).

Eine Gratwanderung[40], die Mühe um „Politische“ (und heiße sie auch nun „Öffentliche“…) „Theologie“: Das indisponible Engagement am eigenen Leben mobilisiert die Bereitschaft zur Solidarisierung auch Anderer, und zugleich lähmt dessen Partikularität die Verallgemeinerungsfähigkeit. Das Argumenten-Repertoire der Frühphase der „Neuen Politischen Theologie“ in den 1960/1970er Jahren stellt für die substitutiv nötige Balance von Besonderem und Allgemeinem die Kategorien „Stellvertretung“ (Sölle) oder „Vortrupp“ (Gollwitzer) bereit.

Die narrative Rekapitulation gerät an ihr Ende, und das Ende bleibt fransig offen. – Von Ulrich Becks konzeptioneller Vision einer „Metamorphose der Welt“ war passager die Rede[41]. Ausgeschlossen, die hier nebenbei zu analysieren; aber das ‚fransig Offene‘ ist geradezu deren take-off: Der globale Erlebensgehalt „Klimawandel“ dient Beck als Ansatz, die kategoriale Trennung von „Natur“ und „Gesellschaft“ zu problematisieren. Bislang war Beck, bei aller Rigorosität seiner Gegenwartsdiagnostik, für den Gestus des Entdramatisierens auch radikalen sozialen Wandels eine ‚Marke‘. Diesmal weicht er davon ab. Unter der Zwischenüberschrift „Gott werden“ zeichnet er sich verselbständigende Nebenfolgen der Reproduktionsmedizin nach; und er überführt sie in eine (schon 2017 keineswegs fiktive!) Liste von Fragen existenzieller Tiefenschärfe mit juristischem Operationalisierungsbedarf, die im Rahmen weder der geltenden Rechtslage noch überhaupt des überkommenen Weltverständnisses konsistent beantwortbar sind[42]. Eine Herausforderung an die Theologie, die über die Repräsentanz ‚der Kirche‘ im Deutschen Ethikrat hinaus gehen dürfte[43].– Ob die ‚Vision‘ zureichen wird, das Paradigma des Einen Ganzen (das in meiner Rekapitulation am Anfang stand) zu repristinieren, wenn auch unter soziologischem Respekt vor der globalen Pluralität, wird der Rezeption dieses Beck-Vermächtnisses überlassen bleiben müssen.

Die Emphase des historisch „Neuen“ lässt jedenfalls Beck Zweifel an der Relevanz generationenabstandsüberbrückenwollender Erklärungen Älterer für Jüngere formulieren[44]. Mit diesem ernsthaften Vorbehalt also:

 

Alles Weitere, liebe M.,

steht auf einem noch anderen Blatt. Einem Blatt, das schon imprägniert ist durch ‚Wasserzeichen‘ für Nachgeborene, aus der Schreib-Werkstatt Bert Brechts[45]:

„Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut,

In der wir untergegangen sind,

Gedenkt,

Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht,

Auch der finsteren Zeit,

Der ihr entronnen seid. […]

Auch der Haß gegen die Niedrigkeit

Verzerrt die Züge.

Auch der Zorn über das Unrecht

Macht die Stimme heiser. Ach, wir

Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit,

Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es so weit sein wird,

Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist,

Gedenkt unserer

Mit Nachsicht.“

Deine Generation wird es auf ihre Weise weiter versuchen müssen. Versuchen[46] geht, versprochen.

Dein F.

 


[1] Michael Rutschky, Zur Ethnographie des Inlands, [Suhrkamp] Frankfurt/Main 1984, 182.

[2] Carl-Friedrich von Weizsäcker, Bewußtseinswandel, [Hanser] München 1988, 304f.

[3] Die seinerzeit spektakulär anmutenden konfliktträchtigen Formen dessen, was journalistische Beobachter ‚Studentenunruhen‘ zu nennen pflegten, waren es, die eilfertig (Psycho-)Analytiker veranlassten, zur Normalisierung der „kognitiven Dissonanz“ (Festinger) die Einnahme ihrer „inkongruenten Perspektive“ (Luhmann) vorzuschlagen: es handele sich ‚in Wirklichkeit‘ um die öffentliche Inszenierung eines Söhne-Väter-Konflikts. Exemplarisch genannt sei: Gérard Mendel, Generationskrise. Eine soziopsychoanalytische Studie, [orig. frz. 1969] [Suhrkamp] Frankfurt/Main 1972.

[4] So v.a. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft [1964], dt. [Luchterhand] Neuwied 41968. Weniger massenhaft gelesen wurde, aber kategorial grundlegend war: ders. Triebstruktur und Gesellschaft [1955], dt. [Suhrkamp] Frankfurt/M. 10.-14.Td. 1967; Zitat aus dem Vorwort: „Dieser Essay verwendet psychologische Kategorien, da sie zu politischen Kategorien geworden sind[…]Die Aufgabe besteht[…]darin, die politische und soziologische Substanz der psychologischen Begriffsbildungen zu entwickeln“ (ebd. 7). – Abbreviatur des „Eindimensionalen Menschen“ war der Beitrag: ders. Repressive Toleranz, in: Robert Paul Wolff / Barrington Moore / ders., Kritik der reinen Toleranz [1965], [Suhrkamp] Frankfurt/M. 31967, 91-126; er muss herbeizitiert werden wg. der seinerzeit praktisch folgenreichen Schlusssätze „Ich glaube, daß es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein ‚Naturrecht‘ auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben.[…]Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihren Enthaltung zu predigen.“ (ebd. 125f)

[6] Hinzuweisen ist auf Jürgen Habermas, Dogmatismus, Vernunft und Entscheidung. Zu Theorie und Praxis in der verwissenschaftlichten Zivilisation, in: ders., Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, [Luchterhand] Neuwied/Berlin 21967, 231-257; dort der Schlusssatz „[…]Gefahr einer ausschließlich technischen Zivilisation, die des Zusammenhangs der Theorie mit Praxis enträt, deutlich zu fassen: ihr droht die Spaltung des Bewußtseins und die Aufspaltung der Menschen in zwei Klassen – in Sozialingenieure und Insassen geschlossener Anstalten“ [ebd. 257]), „Dezision“ ist dessen Terminus – das gleichsinnige „Entscheidung“ war durch die Begriffstradition Kierkegaard-Heidegger ‚existentialistisch‘ ‚besetzt‘ bzw. galt als durch Carl Schmitts „Politische Theologie“ ‚von oben‘ politically correct kontaminiert! – für das „un-politische“, weil nur noch (und sei’s ‚parlamentarisch‘ ausgedrückt!) administrative Komplement des, demokratische Aushandlungs-„Politik“ substituierenden, „Sachzwänge“-Konzepts („Technokratie“ war in den 1960ern und frühen 1970ern dafür der politikwissenschaftliche Terminus).

[7] Allein schon dass der – ursprünglich rein ‚experten-perspektivische‘! – Ausdruck „Akzeptanz“ (vgl. vorläufig https://de.wikipedia.org/wiki/Akzeptanz; letzter Abruf 28.11.2019.) Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden hat, ist ein Beweis

[8] Vgl. auf die Schnelle https://de.wikipedia.org/wiki/Rote_Armee_Fraktion; letzter Abruf 28.11.2019.

[9] Vgl. Peter Brückner, Freiheit, Gleichheit, Sicherheit. Von den Widersprüchen des Wohlstands, [Fischer] Frankfurt/M. 1966.

[10] Hierzu bis auf Weiteres am erhellendsten Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, [Suhrkamp] Frankfurt/Main 22016

[11] So die „leitende These“ von Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, [Suhrkamp] Berlin 62018: „In der Spätmoderne findet ein gesellschaftlicher Strukturwandel statt, der darin besteht, dass die soziale Logik des Allgemeinen ihre Vorherrschaft verliert an die soziale Logik des Besonderen“ (ebd. 11); diesen Führungswechsel erkennt Reckwitz in „den 1970er oder 1980er Jahren“ (ebd. 14).

[12] Dennis L. Meadows (Hg.) Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit (201.-250. Tsd.), Reinbek 1974

[14] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96lpreiskrise; letzter Abruf 28.11.2019.

[17] Um die verallgemeinerungsfähige Titelei des SPD-Reformisten Peter Glotz (Die Beweglichkeit des Tankers. Die Sozialdemokratie zwischen Staat und Neuen Sozialen Bewegungen, Gütersloh 1982) aufzunehmen.

[18] Joseph Huber, Wer soll das alles ändern? Die Alternativen der Alternativbewegung, [Rotbuch] Berlin 1980

[20] Zum Beispiel nach Lektüre von dessen „Phänomenologie des Geistes“, wo Hegel (im Kap. VI B III „Die absolute Freiheit und der Schrecken“) das ‚Geist-Phänomen‘ Französische Revolution als „sich selbst zerstörende Wirklichkeit“ benennt (ders. Phänomenologie des Geistes [hg. von Johannes Hoffmeister), [Meiner] Hamburg 61952, 413-422, hier 422)

[21] Vgl. Jan Assmann, Die Mosaische Unterscheidung, oder der Preis des Monotheismus, [Hanser] München 2003.

[22] Vgl. etwa John Rawls, Politischer Liberalismus [engl. 1993], [Suhrkamp] Frankfurt/M. 1998

[23] Der für „die 1968er“ noch Inbegriff des Ideologems institutionell „demokratischer“ Verfasstheit des ‚Bestehenden‘ zulasten heterodoxer Protagonisten des „Gemeinwohls“ war: vgl. Robert Paul Wolff, Jenseits der Toleranz, in: ders. / Barrington Moore / Herbert Marcuse, Kritik der reinen Toleranz [1965], [Suhrkamp] Frankfurt/M. 31967, 7-59.

[24] Nachvollziehbar etwa an den konzeptionellen Umakzentuierungen in der Theorie von Jürgen Habermas, der in jüngeren Publikationen die 1981 mit Aplomb eingeführte distanzierende Rede von der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ durchs „System“ (vgl. ders., Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, [Suhrkamp] Frankfurt/M. 1981, 522 u.ö.) nicht mehr weiterführt.

[25] Vgl., als Stichwortquelle, Thomas M. Schmidt, Glaubensüberzeugungen und säkulare Gründe. Zur Legitimität religiöser Argumente in einer pluralistischen Gesellschaft, in: ZEE 45, 2001, 248-261.

[26] Die „pluralismus“-logische Unter-Anderen-Präsenz von RepräsentantInnen der Kirchen im z.B. Deutschen Ethikrat ist ein sprechendes Beispiel.

Der thematische spine jener Diskussion ist die Forderung der „Übersetzung“ von „religiös“ motivierten und semantisch instrumentierten Beiträgen in die verallgemeinerungsfähige Sprache des ‚weltanschauungs-neutral‘ verfassten Gemeinwesens; die kontroversen Beiträge zur Diskussion erörtern Legitimität, Ausmaß und faire Verteilung dieser „Zumutung“ in der Konzeption des Gemeinwesens.– Als Auslöser der Diskussion ist John Rawls [s.o. Anm 22] anzusehen; als wichtigste Weiterführungen genannt seien (neben Schmidt; s. Anm. 25) Publikationen von Rainer Forst (z.B. ders., Kontexte der Gerechtigkeit, [Suhrkamp] Frankfurt/Main 1994) und Jürgen Habermas (ders., Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den „öffentlichen Vernunftgebrauch“ religiöser und säkularer Bürger, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, [Suhrkamp] Frankfurt/Main [2005] 2009, 119-154 (bes. 132ff). Christiane Tietz (dies., …mit anderen Worten. Zur Übersetzbarkeit religiöser Überzeugungen in politischen Diskursen, in: EvTh 72, 2012, 86-100) nimmt die Diskussion mit Perspektiven für die sog. „Öffentliche Theologie“ auf.

[27] Ulrich Beck, Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, [Suhrkamp] Frankfurt/M. 1993 – hierauf beziehen sich eingeklammerte Seitenzahlen im Text.

[28] „Der Konsens der Vernünftigen [braucht] nach allem, was wir heute über die Logik kollektiver Meinungsbildung wissen, keineswegs es ipso vernünftiger Konsens zu sein“ und „Es gibt keine logische Hierarchie von Gründen. Es besteht demnach auch keine Hoffnung auf ein Ende der Diskussion; sie hört irgendwann nur auf. Für ihre Beendigung muß es soziale, nicht logische oder semantische Regeln geben“ (Niklas Luhmann, Systemtheoretische Argumentationen. Eine Entgegnung auf Jürgen Habermas, in: Jürgen Habermas / ders., Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie  - Was leistet die Systemforschung?, [Suhrkamp] Frankfurt/M. 1971, 327 Anm 61. 337.)

[29] Sein plötzlicherTod am 1.1.2015 hat Ehefrau und Theorie-Partnerin Elisabeth Beck-Gernsheim dazu gebracht, das sichtlich nicht zu Ende ausgearbeitete Manuskript publikationsfertig aufzuarbeiten: Ulrich Beck, Die Metamorphose der Welt, [Suhrkamp] Berlin 2017.

[30] Vgl. schon Eberhard Jüngel, Mit Frieden Staat zu machen. Politische Existenz nach Barmen V, [Chr.Kaiser] München 1984 – im Vorwort zu seiner Gelegenheitsschrift: „Mitunter gibt die Frageform der Erkenntnis sogar eine dringlichere Gestalt als die mir sonst durchaus sympathische Gestalt der These. In der gegenwärtigen Friedens-Diskussion scheint mir jedenfalls das Fragen eher so etwas wie die ‚Frömmigkeit des Denkens‘ zu vollziehen als das vorschnelle Dekretieren“ (ebd. 8).

[31] Genannt seien nur: Wolfgang Huber, Kirche und Öffentlichkeit, [Chr.Kaiser] München21991; ders., Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, [Verlag Bertelsmann Stiftung] Gütersloh 1998, hier bes. 117-121; Heinrich Bedford-Strohm, Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit, Soziale Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft, [Gütersloher Verlagshaus] Gütersloh 1999.

[32] Das globale Spektrum von Varianten fächert auf: Florian Höhne / Frederike van Oorschot (Hg.), Grundtexte Öffentliche Theologie, [Evangelische Verlagsanstalt] Leipzig 2015.

[33] Vgl. nur These 5 bei Heinrich Bedford-Strohm, Öffentliche Kirche in den Herausforderungen der Zeit, in: EvTh 79, 2019, 9-16, hier 16.

[34] Ohne die Wahl dieses massenmedial verbreiteten Militärausdrucks zum „Unwort des Jahres“ 1999 kennen zu können, hatte Carl Schmitt (Ex Captivitate Salus, [Greven Verlag] Köln 1950, 72) die – ceteris paribus! – Säkularisierung der „potestas spiritualis der christlichen Kirche des Mittelalters“ zum „jus publicum Europaeum“ genau so charakterisiert: „Sie [sc. die namhaften Juristen der Frühen Neuzeit; FS] dachten nur an die Bergung kostbaren Gutes. Aber wir wissen ja, wie es bei Bergungen zugeht. Ihre Intention war gut und ehrlich, wenn auch die geschichtlichen Auswirkungen anders verliefen. Sie waren Rationalisten…“ (ebd. 70.72). – Vgl. zum Ganzen, juristisch minutiös Schmitt-kritisch, Volker Neumann, Carl Schmitt als Jurist, [Mohr Siebeck], Tübingen 2015.

[35] Jürgen Moltmann, Politische Theologie und öffentliche Theologie, in: EvTh 79, 2019, 287-290, hier 290. Diesem Impuls verdankt sich die Vorlage dieser subjektiven Rekapitulation.

[36] So überschreibt Roger Mielke (Eschatologische Öffentlichkeit. Öffentlichkeit der Kirche und Politische Theologie im Werk von Erik Peterson, [Vandenhoeck+Ruprecht] Göttingen 2012) seinen modernisierungstheoretisch respektablen Versuch der Rettung eines allzeit unzeitgemäßen Theologen aus der Vergessenheit.

[37] Dietrich Korsch, Antwort auf Grundfragen christlichen Glaubens. Dogmatik als integrative Disziplin, [Mohr Siebeck], Tübingen 2016, 45

[38] Vgl. Friedrich-Wilhelm Marquardt, Theologie und Sozialismus. Das Beispiel Karl Barths, [Kaiser/Grünewald], München/Mainz 1972.

[39] Karl Barth, Kirchliche Dogmatik Bd. II/1, [Evangelischer Verlag] Zollikon 41958, 289. Hierauf verweist Friedrich-Wilhelm Marquardt, Exegese und Dogmatik in Karl Barths Theologie. Was meint: „Kritischer müßten mir die Historisch-Kritischen sein“?, in: Karl Barth, Kirchliche Dogmatik. Registerband (Unter Mitarbeit von Wolfgang Erk und Marcel Pfändler hrsg. von Helmut Krause), [EVZ-Verlag] Zürich 1970, 649-671, hier 670.

[40] Diese Metapher liebte der „dialektische“ Karl Barth. Z.B. in Ders., Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie [1922], zit. nach KarlBarth-Gesamtausgabe. Vorträge und kleinere Arbeiten 1922-1925 (hg. von Holger Finze), [TVZ Verlag] Zürich 1990, 167.

[41] S.o. Anm. 25.

[42] Ebd. 39-52.

[43] Vielleicht hilft die Aufnahme und Weiterentwicklung der „Leitideen“ in: Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, [Chr.Kaiser] München 1985, hier 16-33.

[44] In diesem Sinne entwarf schon Margaret Mead, Der Konflikt der Generationen. Jugend ohne Vorbild, [dtv] München 1974, den Typus der postfigurativen Kultur. Vgl. Ulrich Beck ebd. 242-246.

[45] Bertolt Brecht, An die Nachgeborenen, zit. nach: ders., Gesammelte Werke 9, [Suhrkamp] Frankfurt/Main 1967, 725f.

[46] „Wenn ich mir einen Rest Utopie bewahrt habe, dann ist es allein die Vorstellung, daß Demokratie – und der offene Streit um ihre beste Form – den Gordischen Knoten der schier unlösbaren Probleme zerhauen kann. Ich sage nicht, daß uns das gelingen wird. Wir wissen nicht, ob es uns gelingen könnte. Aber weil wir es nicht wissen, müssen wir es wenigstens versuchen“ (Jürgen Habermas, Vergangenheit als Zukunft, [pendo verlag] Zürich 1990, 128f)