Regel und Ausnahme. Eine Erinnerung

 

 

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Als Leser von

Thomas Zippert, „Es gibt auch richtiges Leben im falschen.“ Erfahrungen aus einer schwulen ‚Schutzfamilie‘ im Pfarrhaus – zugleich ein Desiderat für weitere Forschung, in: Katrin Burja, Traugott Roser (Hg.), Queer im Pfarrhaus. Gender und Diversität in der evangelischen Kirche, Bielefeld 2024, 195-212,

wo es (199) ganz beiläufig heißt „So oder so spiegelt sich in der Begrifflichkeit die auch lange für die Ehe geltende Heteronormativität“

empfinde ich mich gedrängt, „eine Lanze für die sog. Heteronormativität zu brechen“. Obwohl, um im Bilde zu bleiben, der Beifall auf den sog. gesellschaftlichen Tribünen längst alle Kämpfer*innen (naja, meist doch ohne „*innen“ J) fürs „…-normative“ auf die ‚Verliererstraße‘ schickt. Also das wackere Votum eines Verlierers, ganz subjektiv.

Und es geht im Folgenden kaum ums Pfarrhaus oder auch die evangelische Kirche. Obwohl es mit derlei Interna beginnt und aufhört.

 

  1. In den späten 1990ern erledigte die Theologische Kammer der EKKW ihr Mandat (SO kaum ausgesprochen: Argumentationshilfe zu leisten für die Übernahme homosexuell Lebender ins Pfarramt) mit der Schrift „Was dem Leben dient. Familie – Ehe – andere Lebensformen. Eine Thesenreihe der Theologischen Kammer, (didaskalia 49) Kassel 32001)“, in der sie das Paradigma „Regel und Ausnahme“ etablierte. Ein Paradigma, das eine Zeitlang Anschlussfähigkeit an den in Bewegung befindlichen gesellschaftlichen Meinungs-Diskurs zu versprechen schien.
  2. Nach mehrjähriger Verhandlung lizenziert im Frühjahr 2002 das Bundesverfassungsgericht das Institut „eingetragene Partnerschaft“ als Rechtsform öffentlicher Anerkennung homosexueller Paare – neben der und im Unterschied zur (denen verwehrten, ‚traditionellen‘) „Ehe“; in der Begründung der BVerfG-Entscheidung 2002 spielte jene Differenz (auf das Schlagwort „Abstandsgebot“ gebracht) eine demonstrativ erhebliche Rolle.
    1. Der Umstand, dass, über etliche Zeit hin, in der kommunalen Administration Unschlüssigkeit herrschte über den Modus jener amtlichen „Eintragung“ (bis an die Grenze zur Würdelosigkeit: loziert in der Spannweite von ‚Standesamt‘ bis adhoc-‚Katzentisch vorm Rathausklo‘ L), macht darauf aufmerksam, dass das BVerfG mit jener Entscheidung von 2002 gesellschaftlichen Mehrheitsüberzeugungen, von Konsensen nicht zu reden, ein Stück zu weit vorausgeeilt war.
  3. Hier endet die Konsonanz meiner heteronormativen Überzeugtheit mit der oberstgerichtlichen Rechtsprechung – in der Sache wie auch biografisch.
  4. In einer Reihe von Folge-Verfahren bis ca. 2010 hat das BVerfG das von ihm selber 2002 errichtete „Abstandsgebot“ praktisch abgeräumt: Namensrecht, Adoptionsrecht uswusw – auf die sujets kommt’s mir nicht an.

Mit seiner Folge-Rechtsprechung hat das BVerfG den Rechtsbegriff „Ehe“ in einer Weise zersetzt, dass der spätere Bundestagsbeschluss von 2017 („Ehe für alle“), gleichsam reife Frucht, nur noch ‚abfallen‘ konnte.

  1. Jetzt zum Grundsätzlichen:
    1. Rechtlich relevant sind die einschlägigen GG-Artikel
  • Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Art 1 Satz 1 GG)
  • Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“ (Art 6 Abs. 1 GG)
  • Das BVerfG hat mit seiner Entscheidung 2002 der Reverenz vor dem Schutz der Individualität des menschlichen Daseins (Art 1 Satz 1 GG) den Vorrang eingeräumt gegenüber den Lebensinteressen der Gemeinschaftlichkeit (wie sie Art 6 Abs. 1 GG respektieren). Das zu tun liegt in seiner Kompetenz zur Fortschreibung der Verfassung auf dem Wege der Gesetzesinterpretation – es getan zu haben, zeugt freilich nicht von seiner Weisheit.
  • Vorzuwerfen ist dem BVerfG: Es hat versäumt oder aufgrund politischer Rücksichten unterlassen, vor Eintritt in die 2002ff sich ergebende Sequenz seiner oben sog. Folge-Rechtsprechung den Bundesgesetzgeber ( = Dt. Bundestag) – im Modus einer seiner „Leitentscheidungen“ – zu einer Änderung des GG zu nötigen. Rechtssystematisch hätte in Art 6 Abs. 1 GG die Wendung „Ehe und…“ getilgt werden müssen.
    1. Im überkommenen Wortlaut signalisiert das „und“ – historisch-theologische Interpreten des Neuen Testaments würden von einem ‚epexegetischen και‘ sprechen – eine sächliche Implikation: „Familie“ sei die quasi selbstverständliche, weil ‚natürlich‘-genetische Elargation von „Ehe“. Der kulturelle Gehalt des Rechtsinstituts „Ehe“ gründet im generativen Potential der „Ehe“-Partner; nur dieser Zusammenhang rechtfertigt die GG-Norm „stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung
      • Dass es auch einzelfallweise gewollt oder ungewollt kinderlose „Ehen“ gibt, deutet nicht auf einen ‚logischen Fehler‘ dieses Verständnisses, sondern verkörpert die empirische Ausnahme von der Regel.
    2. Defacto war freilich gesellschaftlich schon 2002 ein Verständnis von „Familie“ etabliert, das an die Stelle ‚genetischer‘ Prägung soziale Imprägnierung setzte: „Familie“ als privates (in gewissem Umfang dauerhaftes) Zusammen von Erwachsenen mit Kindern.
  1. Denn:

Dass „Ehe“ im GG eigens erwähnt wird, bekundet den Respekt der Verfassung[sgeber*innen] von 1949 vor dem Gegebensein defacto staats-konstitutiver, aber (eben darum!) staats-unabhängiger Lebensverhältnisse.

(Auch diesen Zusammenhang meint, was Jahrzehnte später als „Böckenförde-Diktum“ zum Mantra konservativ-liberaler Verfassungsinterpretation gerät: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ [erstmals publiziert in: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Karl Doehring (Hrsg.): Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart u.a. 1967, 75–94, hier 92])

  1. Das Rechtsinstitut „Ehe“ bezieht sich auf den gemeinhin bekannten Sachverhalt, dass die physische Reproduktion von „Menschen“ (wenn denn überhaupt) ausschließlich auf das intime Zusammenkommen eines ‚Mannes‘ und einer ‚Frau‘ folgt.
    1. Ausgesprochen sei, der Klarheit halber, auch: Wie selbstverständlich ist mit „Ehe“ in Art 6 Abs. 1 GG die Lebensform ‚Monogamie‘ gemeint, aus langzeit-verwurzelter europäisch-kultureller Konvention. Aber rechtssystematisch würde auch ‚Polygamie/Polyandrie‘ die so verstandene Funktionsstelle des Verfassungsbegriffs „Ehe“ ausfüllen können. Im Unterschied zur gleichgeschlechtlichen Partnerschaft.
    2. Woraus sich, umgekehrt, ergibt: Da aus dito bekannten Gründen aus dem – ich zitiere nur das Obige – ‚intimen Zusammenkommen‘ gleichgeschlechtlicher Partner*innen keine ‚physische Reproduktion von „Menschen“‘ folgt, ist die Nutzung der Redensart „Ehe für alle“ nur als ‚unfreundliche Übernahme‘ (vulgo: Kaperung) eines an sich kantenscharf definierten ‚Rechtsinstituts‘ aufzufassen.
      1. Weswegen ich auch auf die diesbezügliche Lässigkeit des BVerfG schlecht zu sprechen bin L.
      2. Anekdotisch erwähnt sei vor Schluss: Als Dezernent des Landeskirchenamts der EKKW auch für Liturgica hatte ich im August 2010 zuständigkeitshalber den Entwurf einer Neufassung des „Kirchengesetzes über die kirchliche Trauung“ von 1970 im Kollegium des LKA vorzulegen. Eine an sich un-heikle Angelegenheit, obwohl seinerzeit überraschende ‚Bewegungen‘ im einschlägigen Staat/Kirche-Verhältnis zu spüren waren.

Zur zeitgeschichtlichen Erinnerung: 2010 war das Rechtsinstitut der „eingetragenen Partnerschaft“ in Geltung, ebenso wie (seit 2008) für die Kirchliche Trauung der Verzicht der staatlichen Seite auf das ‚Vorher!‘-Gebot einer standesamtlichen Eheschließung. Staatlich rechtliche Entwicklungen im Sinn (obwohl die ‚Ehe-für-alle‘-Entscheidung des Bundestages 2017 noch unvorstellbar war), hatte der zuständige Dezernent in seinen Gesetzesentwurf als § 1 hineingeschrieben „Die kirchliche Trauung setzt eine rechtsgültige Eheschließung zwischen einem Mann und einer Frau voraus […]“.

Aber schon diesen Versuch einer vorsorglichen Restriktion, das in Frage kommende „Personal“ betreffend, hat das Kollegium des LKA dem Dezernenten damals nicht ‚durchgehen‘ lassen.

Selbstironisch ließe sich kommentieren: römisch-katholisch anmutend, verliert verbohrte Einzelmeinung gegen demonstrativ evangelische Kollegial-Mehrheit eines optionen-offenen, perspektivischen Libertarismus. Oder auch nur, um vorsichtiger mit Motiven zu spekulieren: gegen die strategische Absicht, – eingedenk Luthers ‚Ehe? Weltlich Ding!‘ – dem Staat in Sachen Ehe-Regelungen bedingungslos das „prevenir“ zu überlassen. (Schließlich hielt’s sogar die EKD für geboten, einer öffentlich kaum bemerkten Liberalisierung des Personenstandsrechts 2009 entgegenzutreten: Soll es künftig kirchlich geschlossene Ehen geben, die nicht zugleich Ehen im bürgerlich-rechtlichen Sinne sind? Zum evangelischen Verständnis von Ehe und Eheschließung – eine gutachtliche Äußerung [EKD-Texte 101, Hannover 2009]). – Egal. Kampf um Deutungshoheit verloren.

  1. Apropos verloren. Die obige Vorbemerkung hatte den Ausdruck „Heteronormativität“ schon wohlweislich der „Verliererstraße“ zugewiesen.

Erwachsen aus dem Sprachgebrauch überdurchschnittlich ‚gender-sensibler‘, an gesellschaftlicher „Diversität“ engagierter Milieus, ist der Ausdruck „Heteronormativität“ vorzugsweise als Fremdbezeichnung gängig und typisch mit abwertenden Konnotationen besetzt. In diesem Sinne charakterisiert er Zeitgenoss*innen – zugegebenermaßen: so gut wie ausschließlich ohne dass „*innen“ sachhaltig wäre! – als Personen, die in ihrer Lebensführung und Mentalität strukturkonservativen ‚Rollenmustern‘ zugetan sind, mithin nicht mehr ‚auf der Höhe der Zeit‘ sich bewegen (wenn überhaupt ‚sich bewegen‘ K), und drum als Adressaten gegenwartskultureller Fortbildung gelten müssen.

Was sollte gegen den ‚Zug der Zeit‘ ankommen können?

Also ein geradezu klassischer Fall von ‚Mosaikstein einer Fortschritts-Ideologie‘. Dass es mit dem „Fortschritt“ ‚so eine Sache…‘ ist, könnte sich seit Anfang des 19. Jh. herumgesprochen haben – der geistesgeschichtlich letzte entsprechende Aufschlag (Horkheimer/Adornos „Dialektik der Aufklärung“) ist 2025 auch schon über 70 Jahre her…

Ein allerjüngstes Exempel öffentlicher ‚Meinungsbildung‘ in Sachen „Heteronormativität“ verdient nebenbei Erwähnung – selbst wenn dessen abzuwartende Resonanz vermutlich milieuspezifisch beschränkt bleiben dürfte: Im November 2024 gerät der Spielfilm „Konklave“ (Regie: Edward Berger, nach dem gleichnamigen Roman von Robert Harris) auf den Spielplan deutscher Kinos. Einigermaßen detailkundig zeigt er Verlauf und Ausgang einer fiktiven Papstwahl. Sie läuft hinaus auf den jüngsten Kardinal, einen Mexikaner (vom verstorbenen Papst zum Erzbischof von Kabul [!!] und alsbald im Geheimen [„in petto“, wie das vatikan-italienisch heißt] zum Kardinal ernannt), der sich den programmatischen Namen „Innozenz“ beilegt. Im Schluss-Dialog zwischen dem wahlleitenden Kardinaldekan und dem Gewählten verknüpfen sich die – zuvor dramaturgisch gestreuten – Gerüchte: der neugewählte Papst ist intersexuell.

Mehr „Fortschritt“ – und das in der als ‚Männerdomäne‘ verschrieenen römisch-katholischen Kirche! – lasse sich wohl kaum vorstellen…

Wenn in den hiesigen Bemerkungen der Ausdruck „Heteronormativität“ als Selbstbezeichnung verwendet wird, so mag das signalisieren: Ich gebe’s nicht auf, den sog. „Fortschritt“ zu problematisieren.

Selbst wenn die aktuellen Propagator’innen jenes Ausdrucks individuell-personbezogenes Erleben ‚ins Feld führen‘ (der bisweilen eingestreute Verweis auf z.B. die „große Varianz möglicher Chromosomen-Variationen“ [so Zippert aaO 200f Anm 15] dient nur der ‚Objektivierung‘ subjektiven Überzeugtseins durch ‚Verwissenschaftlichung‘). Es bleibt allemal schwierig, dagegen mit der Produktion von „Texten“ zur Geltung kommen zu wollen.

In „historischer“ Perspektive argumentativ „verloren“, vermutlich.

  1. Aber: Die „Dinge des Lebens“ sind, wie sie sind. Werden auch durch zeitgemäßes ‚labeling‘ nicht anders. Sie zu begreifen (und, ja: lebenspraktisch zu bewältigen) liegt weiterhin das altmodische Paradigma „Regel / Ausnahme“ parat.

 

© Frithard Scholz