Eine Miszelle
2025 ruft’s, ja schreit‘s allenthalben nach „Digitalisierung“, Beispiele erübrigen sich praktisch. Von wegen Vernetzung, Datenaustausch, schlicht: Zeitgemäßheit – und damit alles doch bittebitte ein bißchen fixer geht. Wie man’s schließlich heutzutage erwarten kann.
Ein Schlüsselerlebnis, kurz vor der Jahrtausendwende muss es gewesen sein.
Ohne große Voranmeldung erscheint ein junges Paar am Pfarrhaus Niedervellmar, will den Pfarrer sprechen. Können sie, zumal ich selbst die Haustür geöffnet habe. Ich komplimentiere sie ins Amtszimmer, gleich nebendran, aufs Gästesofa, rolle meinen Arbeitsstuhl gegenüber („KaffeeTeeWasser?“ Neindanke). Auf dem Schreibtisch: PapierePapiere, in der Ecke flimmert weiter ein voluminöser RöhrenMonitor Marke EIZO. Es stellt sich heraus: die beiden wollen ihr erstes Kind zur Taufe anmelden – uups, denke ich; ‚Taufgespräche‘ führe ich sonst gerne bei den Familien zu Hause, aber diesmal ist’s halt so.
Am Ende rückt die junge Frau mit „noch ner Frage“ heraus: ob ich wohl das Konfirmationsdatum und den „Spruch“ vom Opa NN rauskriegen könne. Themenwechsel. „Dochdoch, schaun mer mal“ sage ich und gehe raus – zu den Aktenschränken im Vorflur, wo die historischen Kirchenbücher notdürftig aufbewahrt sind, auch die aktuell fortzuschreibenden. Ziehe den halbleder-gebundenen Folianten für’s ganz frühe 20. Jahrhundert heraus und erscheine damit wieder auf der ‚Bildfläche‘.
„ACH, und wir dachten…“ platzt es aus dem jungen Mann heraus, der dabei per Kopfbewegung hinüber zum EIZO deutet. „Ach NEIN“, erkläre ich, auch ein bißchen stolz auf diese unerwartete Überraschung, „bei uns [und ich meine: die Kirche] geht das noch so“ (und denke mir: diese Art von „Daten“-Verarbeitung – im Stillen froh drum, dass meine Amtsvorgänger auch das Finde-Register am Ende des Folianten punktgenau geführt haben J). Lasse das Paar einen Blick auf die Seite werfen, wo die Konfirmation von Opa NN mit Namen und nötigem DrumundDran, sogar dem „Spruch“, „urkundlich erwähnt“ ist. Zufriedener Abschied des Paars dann. Alles lange her.
Für was war das hier sog. Schlüsselerlebnis dem – seinerzeit schon längst computeraffinen – Niedervellmarer „Herrn Pfarrer“ von ca. 1999 ein „Schlüssel“?
Vor allem für die Erkenntnis: Der datenverarbeiterische ‚Fortschritt‘ des Prozesses, der inzwischen als „Digitalisierung“ gelabelt wird und von jenen Pfarramts-Petenten allzuselbstverständlich unterstellt wurde, kostet einen Preis, dessen Höhe seinerzeit seriös noch nicht mal zu schätzen war.
Um erstmal gleich vom Geld zu reden: Bekanntlich haben inzwischen manche Landeskirchen hierzulande – angeblich oder gar vermeintlich, um Gemeindepfarrer*innen zu entlasten –
All das auf dem Verordnungswege. Wie öffentlich-rechtlich verfasste Organisationen das können und im Bedarfsfall auch machen.
Aber das ist ja nicht alles, wie ein kulturwissenschaftlich angeleiteter Blick sehen lässt:
Wie das Archäolog*innen kennen, die sich ihre Funde mittels Teelöffel und Zahnbürste ergraben müssen und on the job gelernt haben, die nach „Schichten“ zu nummerieren.
„Mut zur Komplexität“ wird massenmedial eingefordert. Hat aber nix mit „Digitalisierung“ zu tun. Das „Analoge“ ist – auf seine Weise – komplex genug.
Alle bisherigen Bemerkungen sind gleichsam vom Augenmaß her formuliert. Es scheint aber eine zusätzliche Reflexionsschleife angebracht:
Beginnen wir mit einer sprachlichen Feststellung. Das Begriffspaar „digital / analog“ hat sich in den letzten drei, vier Jahrzehnten zur Bezeichnung eines qualitativen Gegensatzes verschiedener Modi der „Datenverarbeitung“ etabliert. Es lohnt sich, nach der Etymologie zu fragen.
Die Bezeichnung des Modus „analog“ bezieht sich auf die Körperlichkeit des (an „Datenverarbeitung“ interessierten) Menschen. So auf die natürliche (selbstverständlich kulturell einsozialisierte) Intuition, Begegnendes – Dinge, Ereignisse uswusw. – bei Bedarf abzuzählen, und zwar sinnlich wahrnehmbar „an den Fingern einer Hand“: „eins, zwei, drei“ usw. ad infinitum. Eben, um das griechische Fremdwort in etwa wörtlich zu übersetzen: „entsprechend“.
Der Bezeichnung „digital“ korrespondiert keine sinnliche Wahrnehmung, allenfalls in metaphorischem Sinne – eine bemerkenswerte Abstraktionsleistung! (Die Vorgeschichte, die mindestens auf den UniversalDenker Leibniz im 17. Jh. zurückreicht, sei hier übersprungen) Der Ausdruck selbst bezieht sich auf das lateinische „digitus“ (= Finger), und er akzentuiert den beobachtbaren Umstand, dass das Knochengerüst menschlicher Finger drei Knochen unterschiedlicher Länge aufweist: lang – kurz – kurz. In eben diese Sequenz hat Ende des 19. Jh. die Fern-Kommunikationstechnik des „Morsens“ eingeübt. Diese Gewohnheit wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jh. weitergeschleift ins – wenn man so will: „analoge“ – Verständnis der Arbeitsweise der sog. Computer. Die gegenwärtig Entscheidendes zur „Datenverarbeitung“ beitragen. Die „Logik“ dieser elektronischen Maschinen zehrt vom System einer ‚Übersetzung‘ der „analogen“ Zahlen in eine Zahlensprache, die (statt gemäß dem ‚Zehnfingersystem‘ mit zehn Ziffern von „0“ bis „9“) mit lediglich zwei Ziffern – „0“ und „1“ – auskommt; und die „Arbeitsweise“ jener Maschinen besteht (extrem laienhaft gesprochen) darin, dass sie, von sog. Software-Programmen definiert, „einfach nur ‚Strom an / Strom aus‘ machen“ – das allerdings übermenschlich schnell.
Wer mehr wissen will, sei verwiesen auf https://de.wikipedia.org/wiki/Dualsystem.
(Von den jüngst vielberedeten sog. „Quantencomputern“, die für allerlei Überraschungen gut scheinen (insbesondere dem allzu „analogen“ Vorstellbarkeitsinteresse – betr. ‚entweder ‚an‘ oder ‚aus‘!! – die Grundlagen entziehen), sei hier geschwiegen, fachlich unzuständigkeitshalber)
Die Merkmale der Dimension des „Digitalen“ wurden einer kognitiven „Abstraktionsleistung“ zugeschrieben. Aber – was bitte bedeutet „Abstraktion“? Zum Beispiel Hegels Antwort, ein kurzer Aufsatz mit dem elementaren Titel „Wer denkt abstrakt?“ von 1807, ist nachlesbar, am leichtesten zu finden in der legendären Theorie-Werkausgabe (Bd. 2, S. 575-581; [Suhrkamp] Frankfurt 1967). Hier sei ein aktuellerer Versuch angeboten.
„Abstraktion“? Ausdruck für einen Akt des Denkens, genauer: des Weg-Denkens. Wer Dinge des Lebens, in die er/sie – dem „Leben“ „analog“ – mehr oder weniger mit allen Sinnen verwickelt ist, „abstrahiert“ denkt, hat sie aller Spuren ihrer ‚Geschichte‘, genauer: „Geschichten‘, entkleidet. Mit bloß „Nullen“ und „Einsen“ lässt sich nichts mehr ‚erzählen‘. Nichts von den Bildungserlebnissen gelebten Lebens, die sich erfolglosen Versuchen an der Lösung von Problemen im „analogen“ DAsein verdanken. Nichts vom emotionalen drive, der Akteur*innen des ‚echten Lebens‘ immer mal antreibt. Überhaupt nichts.
„so what“, mögen rigorose Verfechter*innen von „mehr Digitalisierung!“ entgegnen. Darauf komme es auch nicht zum Mindesten an. Schließlich gehe es mit „Digitalisierung“ um einen zeitgemäßen sozialtechnischen Prozess, der einfach nur ‚dienlich‘ sei. Dienlich für Absichten, die weiterhin in der Dimension des „Analogen“, des ‚gelebten Lebens‘, generiert würden (und, bitteschön, auch künftig in dessen naturwüchsiger Langsamkeit werden sollten): der Effektivität von deren Realisierung in der Fortsetzung ‚gelebten Lebens‘, deren Verbreiterung im sozialen DAsein – kurz: der „Beschleunigung“ des (von späteren Beobachtern dem „Kapitalismus“ zugeschriebenen) Prozesses der [westeuropäischen] „Moderne“.
Angebracht erscheint hier die Erinnerung an den Grundgedanken eines möglichen „Umschlags von Quantität in Qualität“, der nicht dadurch diskreditiert sein muss, dass als erster Friedrich Engels ihn ausformuliert hat. – Kritik an den „lebens“-praktischen Folgen insinuieren auch Jürgen Habermas, für seine Vorliebe für pointierte Formulierungen bekannt, mit seiner ‚Spitze‘ „[der ausschließlich technischen Zivilisation] droht die Spaltung des Bewußtseins und die Aufspaltung der Menschen in zwei Klassen – in Sozialingenieure und Insassen geschlossener Anstalten“ (Jürgen Habermas, Dogmatismus, Vernunft und Entscheidung, in Ders., Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, 231-257, hier: 257 [Luchterhand] Neuwied 1963) – oder dessen ‚Enkel-Schüler‘ Hartmut Rosa, der in seinem [bisherigen] Hauptwerk „Resonanz“ ([Suhrkamp] Berlin 2016) schon fast beiläufig ‚Steigerung‘ zu dem Antriebsfaktor der sog. Moderne erklären kann.
Gegenüber derlei windigen Versprechungen ist indes radikale Skepsis geboten. Der Erzähl-Reichtum des „Analogen“ stattet die Teilhaber*innen gelebten Lebens mit dem Wissen von zahlreichen Erfahrungen aus, laut derer Engels‘ Grundgedanke vom „Umschlag von Quantität in Qualität“ keine papierne Idee geblieben ist: Erfahrungen von Beispielen für die faktisch revolutionäre Wendung, in der angeblich ‚dienstbare Geister‘ ihre vermeintlichen ‚Herren‘ gezwungen haben, ihrerseits sie zu „bedienen“. Die – auf Deutsch sprechend genug! – sog. „Bedieneroberfläche“ des gegenwärtig meistgenutzten Computer-Betriebssystems ist der auf ungezählten Schreibtischen nächstliegende Beleg für den Antritt der Herrschaft durchs „Digitale“. Da bedarf es kaum noch der Erinnerung an Goethes Ballade, in der dieser Strukturkonflikt schon um 1800 zur Figur des „Zauberlehrlings“ ver„dichtet“ wurde.
Was lässt sich da „tun“, praktisch? Ein Aufstand gegen die Usurpation des „Analogen“ durchs „Digitale“? Eher nicht – wer sollte gegen den mainstream an kommen wollen können.
Den „alten Hexenmeister“ mit seinem erlösenden Spruch „Besen, Besen, seid’s gewesen“ ruft nur Goethe auf den Plan, im Gedicht.
Diesseits des Gedichts, in der sog. ‚Wirklichkeit‘, ist die Dimension des „Analogen“ momentan noch das „Sowieso“: DAsein in einer ‚Welt‘ von Anschaulichem, sinnlich Wahrnehmbarem überhaupt. Das gilt es zu verstärken, kommunikativ.
Erzählen üben, erzählen. Einüben, ausüben. Damit fängt es an, und werweiß reicht es auch. Mit der Betätigung dessen, was der unique selling point des „Analogen“ ist, in der unausweichlichen Konkurrenz mit dem „Digitalen“.
Bis am Ende das Hantieren ‚dicker alter Bücher‘ niemanden mehr verblüfft.
© Frithard Scholz
21.08.2025