WeiterSchreiben des Evangeliums

 

Liebe Freunde!

 

Die Sonne steht schon tief über den Golan-Höhen im Westen. Der Mann, der da - ein einsamer Wanderer - seine Straße zieht, bleibt stehen und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ein Glück, denkt er, dort unten im Tal ist das Städtchen schon zu sehen, sein Tagesziel. Die Füße schmerzen, denn er hat schon einen langen Weg hinter sich heute, und die Straße ist steinig und uneben. Aber was macht's, denkt sich unser Wanderer, daß die Straße schlecht ist: wenigstens ist sie sicher, und man kommt auch als Einzelner unbehelligt von Ort zu Ort, ohne daß man ständig riskieren muß, als Mißtrauen erweckender Grenzgänger von einer Gruppe jüdischer Partisanen überfallen oder von einer Patrouille der römischen Besatzungsmacht festgesetzt und unter Spionageverdacht verhört zu werden. Denn lange sind die Zeiten noch nicht vorüber - man schreibt das Jahr (na, sagen wir) 830 nach der Gründung Roms oder, um's in unserer heutigen Zeitrechnung auszudrücken, das Jahr 77 nach Christus.

Auch wenn die Heimat unseres Mannes ein paar hundert Kilometer weiter im Norden liegt, in der römischen Provinz Syrien, so hat er doch im Herzen teilgenommen am Geschick des Landes, dem er sich nun Schritt für Schritt nähert, als wäre es sein eigenes: das gelobte Land der Väter Israels, seiner Könige und Propheten, mit der heiligen Stadt Jerusalem in seiner Mitte, Ort des Einen und Einzigen Tempels, Stätte der Begegnung Gottes und der Menschen, Schauplatz zuletzt des irdischen Lebensweges Jesu Christi, seines zu Gott erhobenen Herrn. Damit ist es nun vorbei, auf entsetzlichste Weise ist das endgültig zu Vergangenheit gemacht worden, vor noch nicht einmal zehn Jahren: aus dem Land des erwählten Gottesvolkes war Judäa geworden, Provinz des römischen Weltreichs wie Dutzende andere. Vier Jahre hatte der Krieg gedauert, mit verheerendem Verlauf und einer Katastrophe am Ende: von den Widerstandsgruppen der nationalen Befreiungsbewegung weniger aufgehalten als aufgestachelt, griffen die römischen Legionen des Generals Titus mit eiserner Hand durch und sorgten mit ausgesuchter Grausamkeit für Ruhe im Land. Und auch vor dem Heiligsten gab es - Krieg war Krieg - keine Scheu: Jerusalem erobert und der Tempel, Ort der Nähe Gottes zu den Menschen, in Flammen aufgegangen.

All das zieht unserem Wanderer durch den Kopf, als er sich dem Städtchen im Tal das letzte Wegstück nähert - zumal am Straßenrand ein paar umgekippte Holzkreuze langsam verrotten: bittere Erinnerung daran, daß auch hier Angehörige von Gottes einstmals auserwähltem Volk in der Art Jesu von Nazareth durch die Römer vom Leben zum Tode gebracht worden waren - wie Tausende in Jerusalem und anderswo. Die Erinnerung an dieses Ende von Gottes Geschichte mit seinem Volk, dem Volk dieses Landes, berührt unseren namenlosen Wanderer schmerzlich, und unwillkürlich tastet er nach seiner umgehängten Reisetasche: der Proviantbeutel ist leer - das macht nichts, er wird ja von Freunden erwartet - aber das Wichtigste, die drei Bücher, sie sind noch da. Was das verlorene Land, das geschlagene Gottesvolk, der verbrannte Tempel ihm nicht mehr geben können - die Bücher tun's, die er da, sorgfältig verschnürt, mit sich trägt: sie geben ihm, dem Christen, das beruhigende Gefühl der Gewißheit, daß die Geschichte Gottes mit den Menschen durch diese unendlich schmerzlichen Verluste kein trauriges Ende genommen hat, daß sie vielmehr trotz dieser trostlosen äußeren Lage unangefochten und zukunftsträchtig weitergeht.

Die Sonne geht gerade unter hinter den Bergen im Westen und zeigt den Beginn des Sonntags an, als unser Wanderer das Stadttor erreicht. Dort erwartet ihn eine kleine Gruppe von Frauen und Männern, die ihn mit verhaltener Freude begrüßen; man nimmt ihn in die Mitte und führt ihn raschen Schritts durch die winkligen Gassen des Städtchens, bis die ganze Gruppe schließlich in einem größeren Haus verschwindet. Folgen wir ihnen hinein.

Während unser Wanderer sich drinnen in der Stube ein wenig stärkt und von den Strapazen des langen Weges erholt, wollen wir, liebe Freunde, die Gelegenheit nutzen, uns ein wenig im Haus umzusehen; vielleicht kriegen wir dabei auch heraus, wer dieser merkwürdige Unbekannt sein mag, den wir da mit kaum etwas mehr als ein paar Büchern bei sich über das unwirtliche syrisch-judäische Grenzgebirge haben ziehen sehen. Doch eigentlich gibt's gar nichts Besonderes zu sehen; das Haus ist ein gewöhnliches Wohnhaus, nur daß an einer Stelle eine Zwischenwand fehlt: dadurch ist ein größerer Raum entstanden, Sitzbänke, ein kleines Pult - wir vermuten: ein Versammlungsraum.

Aber sieh da: auf dem Pult hat unser Unbekannter schon seine mitgebrachten Bücher abgelegt, und - neugierig wie wir sind, - lösen wir die Verschnürung und finden neben einem ziemlich neuen Büchlein mit noch vielen leeren Seiten zwei zerlesene Bände. Wir beginnen zu blättern. Gleich bekannt kommt uns das eine vor, das beginnt mit den Worten „Anfang der Heilsbotschaft von Jesus dem Christus” - ach ja, das Evangelium des Markus. Das andere ist ein merkwürdiges Buch: man  kann gar nicht erkennen, ob es überhaupt einen Anfang und ein Ende hat, etwas wie eine Überschrift findet sich anscheinend auch nicht, lauter kurze Begebenheiten mit Jesus stehen darin und auch eine Menge Sprüche und vor allem diese Gleichnisgeschichten. Das dritte, kleinere Büchlein ist anscheinend so eine Art Notizbuch, auch für Jesusgeschichten: viel steht, wie gesagt, noch nicht darin, schon gar nicht der Name des Besitzers; aber als wir zum Beispiel die Erzählung von den Weisen aus dem Morgenland darin finden, geht uns ein Licht auf, und wir wissen Bescheid - unser Unbekannter, das ist der, der später als Matthäus, der Evangelist, bekannt und berühmt wird.

Kaum haben wir das herausgefunden, da geht die Tür auf und herein tritt Matthäus, wie wir ihn der Einfachheit halber schon nennen wollen, mit seinen Christenfreunden vom Ort. Wir verdrücken uns schnell in die hinterste Ecke des Raumes und warten gespannt ab, was wir zu hören kriegen werden. „Liebe Brüder und Schwestern”, läßt sich Matthäus vernehmen, „ihr wißt, daß ich von Gemeinde zu Gemeinde unterwegs bin, um überall noch Taten und Worte unsers Herrn Jesus in Erfahrung zu bringen, die bisher niemand aufgeschrieben hat. Aufschreiben aber tut not, denn das menschliche Gedächtnis nimmt ab, und es soll doch nichts davon in Vergessenheit geraten. Aber danach will ich euch morgen in der Gemeindeversammlung fragen, wenn alle beisammen sind. Heute abend sollt ihr aber mich fragen dürfen, wenn ihr irgendwelche Sorgen oder Probleme habt mit unserem gemeinsamen Glauben; vielleicht kann ich euch ein hilfreiches Wort  unsers Herrn Jesu Christi dazu sagen.”

Und als hätte er nur auf diese Erlaubnis gewartet, ergreift sogleich einer der andern (das scheint der Gemeindeleiter zu sein) das Wort: „Bruder Matthäus, seit Jahren schon beschäftigt uns eine schwere Frage, auf die wir in unserem Glauben keine Antwort wissen. Gerne würden wir in Frieden leben mit all unseren Nachbarn; gerne wären wir auch in unserm Glauben einig mit dem Glauben des Volkes der Juden, die zu unserm Gott gebetet haben im Tempel zu Jerusalem. Denn ist nicht der Vater unsers Herrn Jesu Christi, unser Vater im Himmel, der Gott Israels von Anfang an? Gewiß, die altgläubigen Juden, sie haben uns nie gemocht, sie waren hinter uns her und haben uns beschimpft und Schlimmeres angetan dafür, wir wären vom alten Glauben abgefallen. Doch so ist es ja nicht gewesen, denn wir glauben doch gerade, daß der Gott der Väter an seinen früheren Verheißungen festhält und sie wahrgemacht hat in Jesus, der der Messias seines Volkes ist. Darum konnten wir die altgläubigen Juden trotz allem als unsere Brüder betrachten, als Kinder desselben Vaters. Aber da kam der große Krieg, du weißt, und das schreckliche Unglück mit dem Tempel. Seitdem sind noch viel mehr altgläubige Juden in unserer Stadt, hergekommen auf der Flucht vor den Römern, und wo sie uns treffen, machen sie uns das Leben schwer mit Vorwürfen: Ihr Christen seid schuld, sagen sie, daß Gott sich von uns abgewandt hat, ihr habt den alten Glauben aufgegeben und den Bund mit Gott gebrochen, euretwegen gibt es keinen Tempel, keine Opfer, keine Vergebung für uns. Und dann wissen wir nicht mehr, was wir sagen sollen. Gewiß: seit Jesus sich zum Opfer hat machen lassen für uns alle, braucht kein Mensch mehr im Tempel zu opfern der Vergebung wegen. Aber wir können doch nichts anderes sagen, als daß Jesus, unser Herr, der Christus, der Messias ist, der sein Volk erlösen wird wie seit alters versprochen. Und nun ist das Volk Gottes nicht erlöst worden, sondern zerschlagen!”

Leise Verzweiflung spricht aus den letzten Worten des Gemeindeleiters, der Matthäus hilfesuchend anschaut. Der aber, nachdenklich geworden, antwortet ruhig: „Ihr Lieben, tröstet euch, ich will euch morgen in Gottes Namen eine Antwort geben.” Und damit bittet er die Freunde, ihn allein zu lassen.

Denn bei der Rede des Gemeindeleiters war dem Matthäus schon eine Geschichte eingefallen, die er dazu brauchen konnte: die Gleichnis-Geschichte nämlich vom großen Festmahl, von den geladenen Gästen, die sich alle entschuldigen, und den andern, die dann wirklich dabei sein können. Und er setzt sich an sein Pult, um die Geschichte noch einmal nachzulesen in seinem Sprüchebuch Jesu. Ja, die alte Geschichte ist gut als Anfang, und dann - so überlegt er - muß sie ein wenig umgeschrieben werden und auseinandergeschnitten, damit noch ein paar  Sätze eingefügt werden können. Einladende Boten kommen da vor, die schnöde abgewiesen werden - die müssen noch einmal auftreten, wo sie unschuldige Opfer werden: damit seine Mitchristen sich in ihnen wiedererkennen. Und aus dem reichen Mann muß er einen König mit Soldaten werden lassen, entscheidet Matthäus: damit die verstörten Freunde auf jeden Fall verstehen, daß nicht sie schuld sind an den Verheerungen des Krieges, sondern daß Gottes Wille dahinter an Werk war. Und so verändert, schreibt er sich nun sein Gleichnis ins Notizbuch. Indessen, als er es noch einmal durchliest, bemekrt er: Nicht nur Aufrichtung geknickter Herzen kann das Gleichnis Jesu bewirken, so wie er - Matthäus - es nun in die Stunde der Bedrängten hinein ausgelegt hat, sondern was als Tröstung der Verstörten gemeint ist, kann in Ermunterung zu gottloser Selbstsicherheit, zu selbstgerechter Harthörigkeit ausschlagen. Das aber darf um Gottes willen nicht geschehen. Darum muß sein Gleichnis noch eine Fortsetzung haben, die zur Selbstbesinnung ruft. Und auch das bringt er zu Papier.

Am nächsten Morgen zum Gottesdienst ist die kleine Gemeinde vollzählig versammelt, und auch wir, liebe Freunde, sitzen im Geiste hinten dabei und erleben die Predigt des Matthäus mit:

Und Jesus fing an und redete abermals in Gleichnissen zu ihnen und sprach: Das Himmelreich gleicht einem König, der seinem Sohn die Hochzeit ausrichtete. Und er sandte seine Knechte aus, die Gäste zur Hochzeit zu laden; doch sie wollten nicht kommen. Abermals sandte er andere Knechte aus und sprach: Sagt den Gästen: Siehe, meine Mahlzeit habe ich bereitet, meine Ochsen und mein Mastvieh ist geschlachtet, und alles ist bereit; kommt zur Hochzeit! Aber sie verachteten das und gingen weg, einer auf seinen Acker, der andere an sein Geschäft. Einige aber ergriffen seine Knechte, verhöhnten und töteten sie. Da wurde der König zornig und schickte seine Heere aus und brachte diese Mörder um und zündete ihre Stadt an. Dann sprach er zu seinen Knechten: Die Hochzeit ist zwar bereit, aber die Gäste waren's nicht wert. Darum geht hinaus auf die Straßen und ladet zur Hochzeit ein, wen ihr findet. Und die Knechte gingen auf die Straßen hinaus und brachten zusammen, wen sie fanden, Böse und Gute; und die Tische wurden alle voll.

Matthäus hält inne. Die Wirkung seiner Rede auf die zuhörende Gemeinde ist beträchtlich. Klar daß jeder sofort die alte Geschichte verstanden und begriffen hat: der König - das ist Gott selber. „Hat Gott nicht die Juden seit Abrahams Zeiten als sein Volk erwählt und ihnen Boten geschickt?” ruft einer aus. „Jawohl” - so ein anderer - „Propheten die Menge und zuletzt schließlich auch uns Christen, die Freunde seines Sohnes”. „Und genau so schlecht wie die Propheten haben sie uns behandelt”, schreit der dritte aufgeregt „darum ist die Zerstörung des Tempels nur eine gerechte Strafe, der römische General nur Gottes Werkzeug!” Und der Gemeindeleiter, der bis jetzt geschwiegen hat, faßt strahlenden Auges zusammen men: „Wir danken Bruder Matthäus, daß er uns mit seiner Predigt die Gewißheit gegeben hat: Uns will Gott bei sich haben; nicht mehr das alte Gottesvolk, sondern uns gehört jetzt und für immer seine Gnade, das Himmelreich...” „Ja, uns, uns, wir, wir...” der Rest geht in lautem Jubel der Versammelten unter. Matthäus sitzt still und wartet. Erst, als sich die Erhitzten wieder beruhigt haben, liest er weiter:

Da ging der König hinein, sich die Gäste anzusehen, und sah da einen Menschen, der hatte kein hochzeitliches Gewand an, und sprach zu ihm: Freund, wie bist du hier hereingekommen und hast doch kein hochzeitliches Gewand an? Er aber verstummte. Da sprach der König zu seinen Dienern: Bindet ihm die Hände und Füße und werft ihn in die Finsternis hinaus! Da wird Heulen und Zähneklappern sein.

Betroffene Stille in der kleinen Versammlung. Keiner, der nicht den Blick niederschlägt, wie ertappt. Sollte Gott auch an ihnen etwas auszusetzen haben! Man hört geradezu, wie die guten Vorsätze gefaßt werden insgeheim - so still ist es plötzlich. Und in diese Stille läßt Matthäus seine letzten Worte wie Steine in ein tiefes Wasser fallen: Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.

 

Ja, liebe Freunde, und nun sind wir dran, die Zaungäste und Mithörer der Predigt des Matthäus, über 1900 Jahre hinweg: Sie und ich. Ob Sie sich die Ausgestaltung gefallen lassen, die Matthäus dem Gleichnis Jesu vom Festmahl gegeben hatt, müssen Sie selber sich einmal überlegen. Ich kann zum Schluß nur für mich selber sprechen.

Klar ist: Mit dem zweiten Teil des Gleichnisses hat Matthäus der falschen Selbstsicherheit der Kirchenchristen, sie wären - wie auch immer - Gott schon recht, einen heilsamen Dämpfer aufsetzen wollen. Wie er das tat, das hat er sich selber überlegt, und doch zugleich in der Meinung, Jesus selber hätte in dieser Situation es auch so gesagt. Aber das kann ich ihm nicht abnehmen; sein Gleichnisschluß ist nicht nur ein Schreckschuß, der haltlose Hochstimmung wieder in die Wirklichkeit zurückruft - nein, Matthäus letzte Worte machen Angst - Angst vor dem Gott dieses Gleichnisses, einem unberechenbaren Freundlichtuer mit Giftstachel, Angst vor seinem mausefallenartigen Entgegenkommen. So aber hat Jesus, wie ich sonst von ihm in den Evangelien lese, nie von Gott gesprochen. Da lese ich von Gott, der eben alle bei sich haben will, die die Boten treffen, Geeignete und bedingt Geeignete und die, die gar nichts sind, ohne auszusortieren. Oder von Gott, der dem undisziplinierten Einzelnen bedingungslos nachläuft und Wiederfinden für einen Grund zur Freude hält statt für eine Gelegenheit zum verärgerten Levitenlesen. Darum kann ich zu Matthäus am Ende nur sagen „Nein danke”. Oder doch nicht nur? Er meint ja etwas Richtiges, der Evangelist, der fromme Dichter der Szene um das Festgewand - etwas, was auch ich mir von ihm sagen lassen will. Daß einer ein Festgewand tragen muß, wenn er am Tisch des Königs der Könige mitfeiern will, heißt natürlich nicht, nur zum Beispiel, daß man sich zum Abendmahlsgang in schwarz oder sonstwie extra feierlich zu kleiden habe - so verständig wie die Christen zur Zeit des Matthäus, hierin ein Bild zu erkennen, sind wir ja auch. Das notwendige Festgewand bedeutet etwas ganz Einfaches, was das Begreifen, und anscheinend überaus Schwieriges, was das Befolgen angeht: Um von Gott angesprochen und eingeladen zu werden, mag man gut oder böse sein - ganz gleich; wer aber sich darauf versteift in der Nähe Gottes bleiben zu wollen, was und wie er vor der Einladung war, der verkennt den lebensverändern den Ernst der Gnade Gottes - der macht Gott zu einer harmlosen Witzfigur, die auch der menschenfreundliche Gott nicht gewesen ist, den wir in den Gesichtszügen Jesu erkennen können. Amen.