Liebe Hausgemeinde,
insbesondere Sie: liebe Vikarinnen und Vikare!
Ja, Sie sind gemeint, auch wenn Ihnen alles vielleicht noch ein bißchen fremd vorkommt. Oder auch gar zu bekannt. Das Predigerseminar, Ort des Ersten Examens - nicht für alle hier eine angenehme Erinnerung!
Und jetzt hier nicht bloß mal zu Besuch, sondern hier hausen, sich einhausen, wohnen - das Predigerseminar als Quasi-Nebenwohnsitz? Aber die Sache ist ja entschieden: neulich haben Sie Urkunden bekommen (die ganz ernst gemeint sind mit Siegel und Unterschrift) und stapelweise Bücher, die ab jetzt Ihr Handwerkszeug sein sollen, haben mit Herrn Müller von der Beihilfeabteilung geredet - vielleicht über Versicherungen, über Kfz-Beihilfen und Umzugskosten. Überhaupt Umzug, das würde ja gerade mal schon reichen: von Tübingen nach Melsungen (Andreas F,), von Hamburg nach Vellmar (Tamara R.). Aber damit nicht genug. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, mit Sie angeredet zu werden, Herr F., Frau R.; und unter den Leuten, die Sie vielleicht schon getroffen haben in Ihren künftigen Ausbildungsgemeinden, da sind welche, die lassen es sich nicht nehmen, kurzerhand "Herr Pfarrer, Frau Pfarrerin" zu Ihnen zu sagen. Ob's Ihnen gefällt oder nicht: mit dem 'lustigen Studentenleben' ist es aus, Duz-Komment ade (vorerst - weiteres wird sich finden) - aber Sie sind jetzt eine Amtsperson.
Da ist Abschied angesagt, "Trauerarbeit" (und das ist ernst gemeint, nicht mehr nur ein Spezialgebiet 'Kasualien' für die Praktische Theologie). Das ist wie im richtigen Leben, von dem mal gesagt worden ist: Leben heißt Türen hinter sich zumachen. Also einer der normalen Fälle. Und doch schmerzt es, hinter sich lassen zu müssen, was einem vertraut war bis dato:
- das mag die gemütlich-ungemütliche WG sein oder das Programmkino um die Ecke,
- oder der gewohnte Weg zum Italiener auf eine Pizza marinara mit einem vernünftigen Rotwein und den netten Typen, denen das immer auch einfällt, wenn immer die ewigen Bücher "Einleitung ins AT" und der Taschentutor Dogmatik einem auf den Keks gehen -
das war's erst mal. Diese Tür haben Sie hinter sich zu gemacht. Nicht unwiderruflich - zu Besuch können Sie da immer wieder nochmal hin, aber zu Hause, das waren Sie da. Jetzt stehen Sie auf dieser Seite der Tür. Bekannte Gesichter bleiben zurück, gemischte Gefühle stellen sich ein: Worauf habe ich mich da bloß eingelassen?
Naja, eben die Kirche. Sicher - ein unbekannter Planet geradezu ist das für Sie nicht, den Ausbildungsreferenten kennen Sie ja und vielleicht auch sonst noch ein paar Leute. Aber jetzt ist es doch ein bißchen offizieller als bisher die drei Semesterferienwochen mit bei "Kirche unterwegs" oder treues Mitblasen im Posaunenchor Ihrer Heimatgemeinde. Das ist so künftig auch nicht mehr dran, sondern eben jetzt: Vikarin, Vikar.
Nicht daß Ihnen das einfach nur passiert wäre! Schließlich haben Sie's ja energisch angestrebt über kurzen oder längeren Weg. Und jetzt sind Sie es.
Aber was Sie damit sind und ob Sie's wirklich sein wollen und können: das steht noch dahin, erfahrungsmäßig meine ich. Und noch soviel Ekklesiologie und praktisch-theologische Kybernetik fängt die Unsicherheit nicht ein, die drinnen sitzt:
- was wird das werden? wer werde ich werden?
- mit wem kriege ich's unterwegs zu tun, und
- wie wird das alles passen, zu mir und zueinander?
Paradigmenwechsel. Dem Abschied geben wir mal den Abschied. Angesagt sei jetzt: Aufbruch zu neuen Ufern. Ein zukunftsfreudigeres Paradigma, voll Initiative (das wollen wir doch mal sehen!), voll Neugier: das wollen wir doch mal sehen! Aber eben auch Unsicherheit, weil mehr oder weniger nebulös ist, wohin das führt, und wie Sie da ankommen, und was unterwegs passiert.
Aufbruch zu neuen Ufern. Ich habe Ihnen ein Bild mitgebracht, das ich sehr liebe.
Manche kennen es vielleicht schon; es stammt aus den Bibelbilderbüchern von Kees de Kort: von dem mit dem Kunstgriff, Kindern die Identifikation mit den Gestalten der biblischen Geschichten zu erleichtern dadurch, daß er sie alle im >Kindchenschema= darstellt, Zuwendung heischend, Fürsorge, Solidarität, mit überproportional großem Kopf und Kinderaugen. Seit vielen Jahren begleitet es mich durch meine Arbeitszimmer, immer in Sichtweite des Schreibtischs - meine Gegenwartsikone der Sancta Ecclesia. Schauen Sie es sich an - - -
Erkennen Sie sich da wieder auf dem @Schiff, das sich Gemeinde nenntA? Da kommen Sie alle vor, da kommen wir alle vor. Daß der Kirche der Wind ins Gesicht steht, ist ja immer schon so gewesen, sooft in der Kirche der Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums beim Wort genommen wurde, das lautet "Kehrt um...". Insofern ist es kein besonderer Fall. Aber in den letzten zehn Jahren nehmen wir doch Anzeichen wahr, die auf Sturm deuten. Die religiöse Sozialisation in den Familien versackt; da gibt's ein oberstgerichtliches Urteil über Kruzifixe; die Evangelischen werden weniger weil die Leute einfach wegsterben (Austritte kann man getrost auf sich beruhen lassen, statistisch gesehen, in kurhessischen Landen); Kirchensteuer ist ein Dauerthema, derzeit allerdings in etwas erhöhtem Ton traktiert. Es sieht so gut nicht aus, wie es scheint, mit dem Schiff, auf dem Sie angeheuert haben. Erkennen Sie sich wieder?
- Da ist der hinten im Heck, ausgerutscht und hingestreckt, mit ausgerecktem Arm, als wollte er mit letzter Kraft die Ruderpinne halten - aber da ist gar kein Steuer mehr, weggerissen vom Sturm, oder es gab vielleicht gar keins.
- Und dann der, der die Arme gen Himmel reckt, ratlos >was tun?= und er denkt vielleicht 'jetzt hilft nur noch Beten' und tut es - Orantenhaltung als spontane Geste?
- Vorne am Bugspriet steht einer, der angestrengt nach vorne späht (wie weit ist es wohl noch? vielleicht haben wir das Schlimmste bald hinter uns) und die Linke greift ans Tau - hält er es? hält es ihn?
- Und der andere, der mit dem weißen Kopfputz, der die Hände ans Gesicht schlägt, neben dem Mast: ein entsetzter Blick zum Himmel - von wegen 'bald vorbei und ausgestanden', es geht allszus so weiter!
- Zwei sind da, die wollen sich nicht unterkriegen lassen, kümmern sich um das Segel, das letzte, was sie haben: die wollen retten, was zu retten ist, die Ressourcen schützen, die sie haben, um danach weiterzukommen, wenn der Sturm denn doch irgendwann nachgelassen hat.
- Und dann noch vorne der, an der Bordkante, der auf seine verzweifelte Weise um Schadensbegrenzung bemüht ist, das ins Boot geschlagene Wasser eimerweise auskippt und dabei erschrocken auf die Woge starrt, die das Zehnfache wieder hineinschwappen wird.
- Und dazwischen Jesus, auf dem Kissen, im weißen Gewand, seelenruhig schlafend, mumienartig da und doch nicht da: >fragt er nicht nach dem Geschick seiner Leute?=
Ich widerstehe der Versuchung, das allegorisch auszuschlachten. Die Frage bleibt: Erkennen Sie sich wieder?
Bei Matthäus lesen wir so:
Und er stieg in das Boot, und seine Jünger folgten ihm. Und siehe, da erhob sich ein gewaltiger Sturm auf dem See, so daß auch da Boot von Wellen zugedeckt wurde. Er aber schlief. Und sie traten zu ihm, weckten ihn auf und sprachen zu ihm: Herr hilf, wir kommen um! Da sagt er zu ihnen: Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam? Und stand auf und bedrohte den Wind und das Meer. Da wurde es ganz stille. Die Menschen aber verwunderten sich und sprachen: Was ist das für ein Mann, daß ihm Wind und Wellen gehorsam sind?
Es ist offenkundig, daß die Sturmstillungsgeschichte des Matthäus auf mindestens drei Ebenen gleichzeitig spricht.
- Auf der Ebene der story des Evangeliums: Der Bergprediger, Heiland des Wortes c.5-7, erweist sich auch als Heiland der Tat, als Herr über die Gewalten der inneren und die äußeren Natur, Aussatz und Seesturm, in kleiner und großer Psychotherapie, dem Fieber der Schwiegermutter des Petrus, der Bannung der Geister fruchtloser Wahrheit und des Geldes, das nicht glücklich macht - alles nachzulesen in c.8-9. Und weil die kleine Reisegesellschaft von Kapernaum nach Gadara kommen muß, findet sich auch diese Geschichte von der dramatischen Überfahrt ans andere Ufer.
- Auf der Ebene der Schrift für die Zeitgenossen des Matthäus spricht natürlich deren Situation mit: die kleinen Christengruppen vor Ort, ständig bedroht durch die operativen Maßnahmen, in denen sich die Verfolgung von Christen unter Kaiser Domitian darstellt. Soweit man sehen kann, war das ein Sturm. "Das Schiff, das sich Gemeinde nennt, fährt durch das Meer der Zeit" - aber Jesus? Jesus ist tot (kannste den vergessen?), und sie müssen gleichwohl zurechtkommen. Die story als Versuch wenigstens einer Ermutigung, trotzdem an der Nachfolge festzuhalten.
-- Und, so gesehen, durchdringt sich das Ende des ersten Jahrhunderts mit dem Ende des zwanzigsten, an dem wir leben. Und unser Leben zu führen suchen im Gewande der Jünger, die "ihm folgten", weil "er in das Boot stieg". Anlässe dafür, daß da Kleinglaube wuchert und sich breit macht, wo doch Glaube gepflanzt ist und wachsen dürfte, die gibt es ja: ein paar davon habe ich vorhin angedeutet. Und die kommende Monate werden es Ihnen noch in mancherlei kleiner Münze herausgeben oder doch herausgeben können, der einen so, dem andern so. Ratsam, darauf gefaßt zu sein, auf den Sturm.
Dabei denke ich gar nicht mal zuerst an die stürmischen Schulstunden, wo Sie kein Bein auf die Erde kriegen. Oder die elenden Beerdigungen, wo Sie mit den Friedhofsarbeitern alleine dastehen. Das kann es alles geben und wird es auch schon mal. Und es ist nicht abwegig zu vermuten, daß da Selbstzweifel Sie beschleichen oder bestürmen, wie Sie, gerade Sie wohl den Kurs halten sollen, auf den Sie sich gemacht haben. Aber viel, sehr viel von solchen Selbstzweifeln und Befürchtungen werden Sie selber bannen können im Laufe der Zeit, indem Sie sich helfen lassen bei der Entfaltung Ihrer Fähigkeit, Situationen wahrzunehmen und zu bestimmen. Das werden Sie merken. Ein Anlaß, kleingläubig zu werden, ist das kaum.
Das sind dann schon eher die Momente des Rückblicks auf Situationen gerade, in denen Sie 'angekommen' sind (wie man so sagt) mit Ihrer Predigt, Ihr Stundenentwurf 'geklappt' hat - und Sie spüren doch: bewegt hat sich nichts, alles wie tot - und sei's in netter Form. Da geht's dann nicht ums Halten des Kurses. Das ließe sich schon richten. Sondern darum, ob Sie eigentlich auf dem richtigen Dampfer sind - in einem Boot mit Jesus. Und ob der überhaupt da ist, wirklich, der Herr. Dann brauchen Sie keinen Nachschlag an Professionalität, um die es - wie in jedem Beruf - auch im Beruf des Vikars, der Vikarin geht. Dann brauchen Sie Trost.
Und den werden Sie finden (so verspricht es auch uns spätgeborenen Nachfolgern die Geschichte von Jesus und dem Sturm) - den werden wir finden, indem wir ihn rufen "Herr, hilf, wir kommen um". Vom Umkommen bedroht sind wir übrigens viel weniger dadurch, daß der Kirche die Finanzen wegbrechen und Stellen gestrichen werden statt neu eingerichtet. Untergehen werden wir eher, wenn's in unserem Kirchenwesen schön rund läuft und wir durch perfekten Betrieb und ansprechendes outfit den Eindruck erzeugen, der Herr selber werde gar nicht mehr gebraucht im Ernst. Allenfalls als Träger des Copyright für unser Logo. Das nämlich ist der Kleinglaube, daß wir uns selber das Wesentliche zutrauen.
Ihn rufen - uns von ihm ansprechen lassen auf diesen Kleinglauben, den nur er bannen kann mit seinem Wort und seiner Gegenwart - und erfahren, daß er da ist und die Geschichte zu einem guten Ende bringen wird mit seiner Kirche und trotz ihr: das ist die Botschaft, die ich heute bei Matthäus lese, die Antwort auf die Frage, was es für uns denn eigentlich zu glauben und zu hoffen gibt auf dem Boot, mit dem wir zu neuen Ufern unterwegs sind, mitten im Sturm. Und: daß nicht die Jünger das letzte Wort haben und nicht unsereins mit unsrer Furchtsamkeit (und den entsprechenden Betäubungsmitteln), sondern Er das letzte Wort hat.
Und das ist denn auch die Antwort auf die Frage der "Menschen", die Matthäus auftauchen läßt, als die story eigentlich schon zu ihrem Punkt gekommen ist "Was ist das für ein Mann, daß ihm Wind und Meer gehorsam sind?
Er hat das letzte Wort, und Matthäus läßt es ihm auch, Matthäi am letzten:
"Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden... Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende", in Melsungen, in Vellmar, sogar im Predigerseminar. Warum also weiter so furchtsam?