Ende Januar 2010 offenbart der seinerzeitige Rektor des Berliner „Canisius-Kollegs“, Pater P.M., die Information, dass in zurückliegenden Jahren, ja Jahrzehnten, einzelne Lehrer dieser Einrichtung immer wieder heranwachsende Schüler sexuell missbraucht haben.
Diese Veröffentlichung von zuvor mit Fleiß Verschwiegenem ist der „take-off“ der seit Menschengedenken folgenreichsten öffentlichen Kritik an der Kirche.
Wobei mit ‚Kirche‘ erst mal die römisch-katholische Version gemeint war – aber die „evangelische“ Spielart geriet, zuzeiten kaum erstaunlich, dito in Verdacht, ja Verruf.
Was ich im Folgenden zu bedenken gebe, mag „querdenkerisch“ anmuten. Sei’s drum – „quer denken“ können und mögen, darf weiterhin, der Kaperung des Terminus durch „die Straße“ ungeachtet, als intellektueller Adelstitel gelten. Gleichwohl erscheint es angebracht, vorweg und gleichsam ‚fürs Protokoll‘ festzustellen: Die öffentlich inkriminierten Missbrauchsakte, denen inzwischen das label „sexualisierte Gewalt“ zugeordnet wird, werden im Folgenden, vorsätzlich neutral, als „Vorfälle“ bezeichnet. Umso ratsamer zu betonen: ich finde das Eingetretensein (und vermutlich weiteres Eintreten!) solcher „Vorfälle“ verwerflich, mit kirchlichem – „evangelischem“ wie auch römisch-katholischem – Selbstverständnis unvereinbar, jedenfalls öffentlich sanktionsbedürftig.
Die Empfehlung:
Es gilt, mit größtem Vorrang das publizistische matching „Kirche“/„sexualisierte Gewalt“ zu entkoppeln.
Es sollte das dafür wirksamste Mittel gewählt werden: die systematische Delegation von Ermittlung und ggfs. strafrechtlicher Verfolgung von „Vorfällen“ an die „Rechtswalterschaft“ des Staates.
Zur Begründung:
Lösungsbedürftig ist die öffentliche Thematisierung. Und aus dieser Klemme heraus hilft m.E. nur eine Große Lösung.
In diesem Sinne ungeschickt ‚diskrete‘ Außendarstellung wird weithin als Unglaubwürdigkeit bewertet – die öffentlich umstandslos der Institution als solcher zugerechnet wird.
Apropos Institution. Jüngst haben Rainer Anselm / Peter Dabrock (https://zeitzeichen.net/node/10930), überraschend genug, eine Lanze gebrochen fürs „institutionelle“ Selbstverständnis auch der „evangelischen“ Kirche – explizit in Bezugnahme auch auf das hiesige Thema. Vieles sehr zustimmungsfähig, aber nicht alles. Insbesondere deren Einschätzung, dass „es unzureichend [erscheint], dies nur der Staatsanwaltschaft zu überlassen. Entsprechende unabhängige Prozeduren und Strukturen sind komplementär auch kirchenintern zu etablieren“, tritt die hiesige Empfehlung stracks entgegen.
Was, bitteschön, für „unabhängige Prozeduren und Strukturen“? Hieße das nicht: Wiedereinführung der „Inquisition“? Die aufs Aufdecken und Brechen individueller Insubordination gegenüber dem zuzeiten als moralisch indisponibel Geltenden aus war.
(Nicht unausgesprochen soll bleiben: Diese Referenz auf „Transparenz“ drückt lediglich die Reverenz aus, die das aktuell wirksame Leit-Kriterium der hergestellten Öffentlichen Meinung zu beachten verlangt. Worum es hier geht! Denn in der Sache ist auch „In-Transparenz“ inner-organisatorischer Kommunikation nicht weniger legitim – je nachdem, um welche Personalia es geht und welche Rücksichten darüber hinaus Entscheider*innen geboten erscheinen.)
Nicht bloß „akademische“ Zwischenbemerkung:
Wer spricht oder schreibt, übernimmt schon durch die Wahl seiner Begriffe, seiner Ausdrucksweise überhaupt, „moralische“ Verantwortung. (Worauf eine/n sogar scheints unproblematische Kommunikation im Alltag stoßen kann: unversehens sieht man/frau sich mit Rechtfertigungsforderungen konfrontiert.) Angesichts ‚auch möglicher‘ Alternativen.
Fürsprecher*innen der Menschen, die „sexualisierte Gewalt“ erlebt haben, bevorzugen den Ausdruck „Opferperspektive“, je nach Publikum auch halbwegs neutralisiert: „Betroffenenperspektive“. Dabei geht’s, wie immer bei der Begriffswahl, um die Lenkung schon der Wahrnehmung von ‚objektiver Realität‘.
Mit der „Empfehlung“ wird indes die „Beobachter“-Perspektive eingenommen.
(Freilich: Spätestens dem Oktober 2024 publizierten Jürgen Habermas, „Es musste etwas besser werden…“. Gespräche mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos, Berlin 2024, ist zu entnehmen, in welchem hintergründig wirksamen Zusammenhang „Beobachter“ und „Beteiiigte“ sowieso stehen. Aber das ist – Fontane! –„ein zu weites Feld“)
Zur Rechtfertigung:
Will sagen: Die Anlässe zu Forderungen nach ‚Gerechtigkeit‘, Schutz, ‚Schadensausgleich‘ ergeben sich nicht erst durchs Aufkommen der Wahrnehmung von Vorfällen „sexualisierter Gewalt“. Mit ihnen umzugehen ist keine allerneuste Anforderung an die Sozialkompetenz.
Der Herr Stadtpfarrer war auswärts zu einer Geburtstagsfeier, und er fährt hinterher – obwohl „angeschickert“ und insoweit widervernünftig – mit dem Auto Richtung Zuhause. Am Zebrastreifen übersieht er eine junge Frau, die, zur Nachtzeit unerwartet genug, mit Zwillingskinderwagen vor sich die Straße überquert – und brettert alle um: Frau tot, 1 Baby auch, 1 überlebt später schwerbehindert.
Was passiert? Polizei, vorläufige Festnahme mit Alco-Test, später Landgericht: günstigenfalls „2x Körperverletzung mit Todesfolge“, 1x „Schwere Körperverletzung“; Zivilklage wg. den lebenslangen Zusatz-Kosten für das überlebende Baby folgt.
Und danach denn noch ein innerorganisatorisches Disziplinarverfahren, das kirchengesetzlich Konsequenzen für ‚öffentlich‘ Strafverurteilte vorsieht.
Im Vorfall eines ‚Falles‘ geht regelhafte Verfolgung einer Straftat ihren gesetzlichen Gang; von derlei Prozeduren unerfasst „übrig bleiben“ – die unschwer vorstellbaren! – individuellen Vorwürfe (und Selbst-Vorwürfe!).
Indem die hier vorgelegte Empfehlung diese Fragen defacto mit JA beantwortet, priorisiert sie im Grundsatz das gesellschaftlich „Allgemeine“ vor dem „Einzelnen“. Schon der Versuch des ‚Einordnens‘ wirkt als Plädoyer dafür, die Dinge des Lebens durch die Brille des „Rechts“ wahrzunehmen. Denn die „Recht“sprechung zehrt von der professionellen Technik der Subsumtion der ‚Fälle‘ gelebten Lebens unter Bestimmungen des „für alle geltende“ (Art. 137 Abs. 3 WRV) Gesetzes. „Recht“ folgt der regulativen Idee sozialer Befriedung durch Wahrung von Grenzen.
Seit fast 15 Jahren hat sich die massenmedial erzeugte „Öffentliche Meinung“ auf „Kirche“ eingeschossen, wenn von sog. „sexualisierter Gewalt“ die Rede sein muss. Bequem für die Medien, unbequem für „die Kirchen“ (die sowieso als Verursacherin von allerlei UnGerechtigkeiten herhalten müssen, wie eigentlich seit den späten 1960ern nicht mehr in Mode). „Sexualisierte Gewalt“ ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, ja doch; und gehört von Rechts wegen sanktioniert. Aber da man „die Kirchen“ an der Kandare hat, braucht sich die hergestellte Öffentliche Meinung gar nicht mehr um die Sektoren ‚Bildungssysteme / Kunst+Kultur / Sport‘ etcetc‚ zu kümmern, in denen derlei „Vorfälle“ vermutlich (wer weiß das schon?) nicht seltener ‚vorfallen‘ als in „den Kirchen“…
Laut dieser Empfehlung sollten „die Kirchen“ im Sinne des gesellschaftlich Allgemeinen sich für die Wahrung von „Recht“ entscheiden. Aber auch dann bleiben sie der „Moral“ verpflichtet, deren Ausdruck sie hüten. Damit verkörpern sie selber jene ‚Deckungslücke‘. Ein Dilemma, gewiss, das nicht ‚logisch‘ geschlossen, sondern allenfalls ‚praktisch‘ und im Probier-Modus kompensiert werden kann.
Sie könnten die Zumutungen der Verrechtlichung für betroffene Einzelne mildern, z.B. dadurch: Verjährungsfristen würden u.U. betroffenen Einzelnen „gefühlte Gerechtigkeit“ verwehren – Errichtung und Ausstattung eines kirchlichen Fonds für speziell diese „Opfer“ (um hier, erst hier, dem moral-geladenen Ausdruck Raum zu geben) des Rechtssystems. So und nur so ließen sich sog. „Anerkennungszahlungen“ rechtfertigen.
An der Unterscheidung von „Recht“ und „Moral“ haben Philosophen seit Aristoteles gedanklich gearbeitet. Extrem reduziert: seit der nach-kant‘isch modernen Auffassung focussiert „Moral“ individuell-subjektive „Haltungen“ – „Recht“ hingegen „systemrelevante“, im Bedarfsfall polizeilich ermittelbare „Tatbestände“. Dito ‚seit Aristoteles‘ angesammelte gesellschaftliche Erfahrung lässt resumieren: „Recht“, an der Idee des grenzziehenden Bestimmens orientiert, ist das Medium sozialer Befriedung – „Moral“, orientiert an der Idee der empirisch uneinlösbaren Perfektibilität des sog. Handelns Einzelner, sorgt für ‚Unruhe‘ statt für die ‚Befriedung‘ im Allgemeinen.
Die als „Westfälischer Frieden“ von 1648 tradierten Konsense über die Sistierung konkurrierender Wahrheitsansprüche könnten zu denken geben.
© Frithard Scholz
17.10.2024
P.S. Wie gerufen, bekräftigt ein personality-Artikel über Kerstin Claus, die derzeitige "unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs" (DER SPIEGEL Nr. 44 vom 26.10.2024, 40-42) hier Vorgetragenes. Der Artikel ist zu Recht überschrieben mit "Sie weiß, wovon sie spricht".
Am Schluss ist die Rede vom "jährlichen Johannisempfang [der evangelischen Kirche]", 2024, in Berlin,
"Claus ist wütend, diesmal zeigt sie es auch. Gerade hat die [sc. amtierende EKD-]Ratsvorsitzende, Kirsten Fehrs, eine Rede gehalten [vgl. https://www.ekd.de/rede-fehrs-zum-johannisempfang-der-ekd-2024-84630.htm; AbrufFS: 27.10.2024], Claus saß in der ersten Reihe und kann jetzt, beim Empfang, noch immer nicht fassen, was Fehrs da am Rednerpult gesagt hat: dass die Kirche sich 'dem evangelischen Versagen und der Amoralität' des Missbrauchs entgegenstemme.
Die Beauftragte kommt nicht über dieses eine Wort hinweg. Amoralität. 'Da geht es nicht um Amoralität', sagt sie, 'da geht es um Verbrechen.' Sie schüttelt den Kopf."